„Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben“

Bundeswehr-Sondervermögen: Was wird beschafft – und was kommt danach?

| Jürgen Wagner

Drei Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine verkündete Kanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 eine „Zeitenwende“, deren prominentestes „Feature“ ein Sondervermögen für die Bundeswehr im Umfang von 100 Milliarden Euro darstellt. Jürgen Wagner beleuchtet in seinem Artikel, welche Großmachtambitionen damit verbunden und welche Waffenkäufe konkret geplant sind. (GWR-Red.)

Seit am 1. Juli 2022 das „Gesetz zur Finanzierung der Bundeswehr und zur Errichtung eines ‚Sondervermögens Bundeswehr‘“ (BwFinSVermG) in 
Kraft trat, ist nicht nur ein wenig klarer, was damit alles angeschafft werden soll. Vor allem begrenzt das Gesetz die Laufzeit des Sondervermögens auf fünf Jahre, weshalb die zentralen Auseinandersetzungen um die Frage einer Verstetigung der Zeitenwende erst noch bevorstehen.

Wirtschaftsplan und Sonderschulden

Selbstverständlich ist der Begriff „Sondervermögen“ eine grob irreführende Nebelkerze: Es handelt sich um einen „Kriegskredit“, der in Form von Schulden aufgenommen und spätestens ab 2031 aus dem Bundeshaushalt auch wieder getilgt werden muss. Das Geld wird 2022 per Kreditaufnahme beschafft, um 2023 wieder die Schuldenbremse einhalten zu können, wofür allerdings eine Grundgesetzänderung in Form einer Ergänzung von Artikel 87 erforderlich war. Weitere Einzelheiten sind dann im bereits erwähnten Begleitgesetz zum Sondervermögen geregelt, unter anderem, dass jedes Sondervermögen-Projekt mit einem Umfang von über 25 Mio. Euro vom Haushaltsausschuss des Bundestages gesondert bewilligt werden muss.
Schon im Oktober 2021 – also deutlich vor Beginn des russischen Angriffes – soll laut Informationen des Spiegel ein sechsseitiges Argumentationspapier aus dem Verteidigungsministerium vorgelegen haben, in dem bereits ein „Sondervermögen Bundeswehr“ in Höhe von 102 Mrd. Euro vorgeschlagen worden sein soll. Sogar eine Liste mit darüber zu finanzierenden Projekten sei darin enthalten gewesen, deren Details aber bis heute geheim gehalten werden. (1)
Deshalb wurde auch lange gerätselt, welche konkreten Rüstungsprojekte denn schlussendlich über das Sondervermögen finanziert werden würden. Seit dem BwFinSVermG aber ein „Wirtschaftsplan“ angehängt wurde, in dem 38 Vorhaben namentlich benannt wurden, herrscht hier nun ein wenig mehr Klarheit. Allerdings verbleiben auch weiter viele Fragezeichen; insbesondere konkrete Zeitpläne oder gar über vage Angaben hinausgehende Kostenschätzungen glänzen durch Abwesenheit. Die aufgeführten Vorhaben wurden im Wirtschaftsplan vier sich grob an den Teilstreitkräften orientierenden Dimensionen zugeordnet, die lediglich mit Gesamtsummen versehen wurden. (2)
In ersten Berichten über das Gesetz zum Sondervermögen wurden für die Dimensionen Luft (40,9 Mrd.), Land (19,3 Mrd.), Marine (16,6 Mrd.) und Digitalisierung (20,7 Mrd.) insgesamt deutlich höhere Beträge veranschlagt, als es schlussendlich im angehängten Wirtschaftsplan tatsächlich der Fall war. Die darin enthaltenen Beträge summieren sich „nur“ auf rund 82 Mrd. Euro, vermutlich um sich für die kommenden Jahre noch eine gewisse Flexibilität für die Verteilung unter den Teilstreitkräften zu erhalten.

Rüstungsprojekte über alle Dimensionen hinweg

An dieser Stelle auf sämtliche im Wirtschaftsplan aufgeführten Projekte einzugehen, würde deutlich den Rahmen sprengen. Aus diesem Grund sollen im Folgenden lediglich einige der größten bzw. von ihrer Reichweite problematischsten Vorhaben angesprochen werden.
F-35 (Tornado-Nachfolge): Im letzten Halbsatz seiner Zeitenwende-Rede entschied Kanzler Scholz faktisch einen jahrelang erbittert geführten Streit um die Nachfolge der Tornado-Flotte und damit die Beibehaltung der Nuklearen Teilhabe. Dabei geht es um in Deutschland (Büchel) lagernde US-Atomwaffen, die im Ernstfall von deutschen Pilot-*innen ins Ziel gebracht würden. Um die Nukleare Teilhabe auch künftig beibehalten zu können, soll die alternde Tornado-Flotte durch 35 F-35 (Lockheed Martin) ersetzt werden, deren Kosten aktuell auf 8,2 Mrd. Euro beziffert werden.
Heron-TP-Drohne (Bewaffnung): Ebenso wie in Sachen Tornado-Nachfolge der lange beachtliche Widerstand innerhalb von Teilen der SPD und Grünen in sich zusammenbrach, verhielt es sich auch bei der Bewaffnung der von Israel geleasten Heron-TP-Drohne. Auch hier wurde per Kanzlererklärung eine Grundsatzentscheidung gefällt, wobei letzten Endes beschlossen wurde, 140 Raketen zum Preis von 152 Mio. Euro zu kaufen.
FCAS (Luftkampfsystem): Eines der „ambitioniertesten“ aktuellen Großprojekte ist das „Future Combat Air System“ (FCAS), bei dem ein tarnkappenfähiges Kampfflugzeug im Zentrum steht, das von bemannten und unbemannten Drohnenschwärmen umgeben werden soll. Für das zusammen mit Frankreich (und Spanien als Juniorpartner) entwickelte System wird von Entwicklungskosten von bis zu 100 Mrd. Euro bis zur Auslieferung zwischen 2040 und 2050 ausgegangen. Kanzler Scholz gab für das umstrittene Projekt in seiner Zeitenwende-Rede faktisch eine Finanzierungsgarantie ab, sodass die Kosten bis 2027 (voraussichtlich rund 4,48 Mrd. Euro) aus dem Sondervermögen bestritten werden sollen.
Fregatten, Korvetten, U-Boote: Auch die Marine profitiert vom Sondervermögen: Zwei neue Fregatten F-126 sowie zwei weitere U-Boote 212 und möglicherweise ein weiteres Los mit fünf Korvetten K130 dürften über das Sondervermögen abgedeckt werden. Darüber hinaus werden die Kosten für den Bau bereits beschlossener F-126, K130 und U212 in das Sondervermögen verlagert, um den offiziellen Verteidigungshaushalt zu entlasten.
Schützenpanzer Puma (Nachrüstung und Marder-Nachfolge): Schützenpanzer spielen beim aktuellen Aufbau schwerer Bundeswehr-Großverbände eine zentrale Rolle. Aus dem Sondervermögen soll die Aufrüstung der aktuellen Puma-Bestände auf NATO-Standard sowie die Nachfolge der Marder finanziert werden. Wahrscheinlich werden hierfür ein zweites Puma-Los mit 111 Panzern sowie Radpanzer vom Typ Boxer angeschafft.
MGCS (Kampfpanzersystem): Das zweite deutsch-französische Großprojekt ist das „Main Ground Combat System“ (MGCS), bei dem ein künftiger Kampfpanzer als Nachfolger von Leopard 2 und Leclerc im Mittelpunkt steht. Auch für ihn gab Scholz faktisch eine Finanzierungszusicherung ab; zunächst werden die bislang bewilligten Kosten von rund 1 Mrd. Euro bis 2024 aus dem Sondervermögen bezahlt.
Digitalisierung: Als alles umfassendes Querschnittsthema fungiert die Durchdigitalisierung der Bundeswehr, die als entscheidender Faktor für künftige Siege auf dem Schlachtfeld erachtet wird. Dementsprechend üppig profitiert der Bereich aus dem Sondervermögen als größte Einzeldimension mit 20,7 Mrd. Euro. Finanziert werden davon neue Rechenzentren, zusätzliche Kommunikationssatelliten (SatComBW), Digitalfunknetzwerke für den Einsatzraum (TaWAN) und vieles mehr.

Countdown 2027: Verstetigung des Sondervermögens?

Nicht ohne Stolz äußerte sich Kanzler Olaf Scholz über die Auswirkungen des Sondervermögens: „Deutschland wird in Europa bald über die größte konventionelle Armee im Rahmen der Nato verfügen.“ (3) Parallel dazu machte unter anderem SPD-Chef Lars Klingbeil in seiner Grundsatzrede zur Zeitenwende klar, worauf dies alles hinausläuft: „Die Zeitenwende ist ein epochaler Umbruch. […] Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem. […] Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben.“ (4)
Bei der Zeitenwende geht es also um eine grundlegende Verschiebung, mit der Deutschland endgültig in die erste Riege der militärischen Großmächte aufsteigen will – und das Sondervermögen liefert hierfür die erforderlichen finanziellen Mittel. Allerdings reichen die jetzt erst einmal „nur“ für fünf Jahre – auf diese Laufzeit wurde das Sondervermögen laut BwFinSVermG nämlich begrenzt. In diesem Zeitraum soll das Sondervermögen die Lücke zwischen dem offiziellen Militärhaushalt – nach aktueller Beschlusslage jeweils 50,1 Mrd. Euro für die Jahre 2023 bis 2026 – und den von Scholz zugesagten Ausgaben von zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) füllen, was je nach Jahr zwischen 73 und 80 Mrd. Euro sein dürften.
Die entscheidende Frage ist: Was passiert 2027, wenn das Sondervermögen aufgebraucht sein muss – wird dann der offizielle Haushalt auf einen Schlag auf dann wohl 80 Mrd. Euro erhöht, um das Zwei-Prozent-Ziel zu erfüllen?
Eine solche Verstetigung der Zeitenwende wäre unter Beachtung der Schuldenbremse nur mit einem Kahlschlag in anderen Bereichen zu realisieren. Kein Wunder, dass interessierte Kreise bereits jetzt mit ihrer Werbetour dafür beginnen – das Institut der Deutschen Wirtschaft forderte beispielsweise Mitte August 2022: „Ab 2027 ist die Finanzierung zur Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels aber noch ungeklärt. Wenn das Sondervermögen bis dahin aufgebraucht ist und der Verteidigungshaushalt nicht erhöht wird, entsteht eine Lücke von rund 35 Milliarden Euro. Wenn diese nicht geschlossen wird, würde der Anteil am BIP auf rund 1,2 Prozent zurückfallen […]. Eine Klärung und eine entsprechende mittelfristige Finanzplanung ist nicht erst in der nächsten Legislaturperiode bedeutsam, sondern muss frühzeitig vorgenommen werden, um eine langfristige Planungssicherheit über 2026 hinaus zu erreichen. Ohne diese Verstetigung kann sich auch die Verteidigungswirtschaft nicht auf zukünftige Anforderungen einstellen. […] Spätestens 2026 muss zur Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels ein um gut 60 Prozent vergrößertes reguläres Verteidigungsbudget zur Verfügung gestellt werden.“ (5)
Wichtig ist: Weder die Grundgesetzänderung selbst noch das Begleitgesetz zum Sondervermögen schreiben vor, dass nach dessen Verausgabung ab 2027 der offizielle Haushalt zwei Prozent des BIP umfassen müsse. Ob dies geschieht oder nicht, wird eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse sein. Es ist also noch Zeit, eine solche Verstetigung der Zeitenwende zum Turbo-Militarismus zu verhindern – aber die Uhr tickt bereits!

(1) Gebauer, Matthias/Hammerstein, Konstantin von: Die 100-Milliarden-Bazooka, Spiegel Online, 01.03.2022. Der Versuch, über das Informationsfreiheitsgesetz an das Dokument zu gelangen, wurde abgeschmettert, indem es als „Verschlusssache mit dem Geheimhaltungsgrad ‚VS–NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH‘ 
(VS-NfD) eingestuft“ wurde.
(2) Neben den vier Dimensionen wurden noch 500 Mio. Euro für KI-Forschung und -Entwicklung sowie etwa 2 Mrd. Euro für Bekleidung und Ausrüstung eingestellt (vgl. Beucker, Pascal: Im militärischen Kaufrausch, taz, 02.06.2022).
(3) Korge, Johannes/dpa: Deutschland hat bald größte konventionelle Nato-Armee in Europa, Spiegel Online, 31.05.2022.
(4) Klingbeil, Lars: Zeitenwende-Rede von Lars Klingbeil. Die Sozialdemokratie hat die Chance, Europa zu prägen, vorwärts, 21.06.2022.
(5) Röhl, Klaus-Heiner u. a.: Zeitenwende in der Verteidigungswirtschaft? Sicherheitspolitik und Verteidigungsfähigkeit nach der russischen Invasion der Ukraine, IW-Policy-Paper 4/2022, S. 9f.
Selbstverständlich ist der Begriff „Sondervermögen“ eine grob irreführende Nebelkerze: Es handelt sich um einen „Kriegskredit“, der in Form von Schulden aufgenommen und auch wieder getilgt werden muss

Jürgen Wagner ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI).

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