Jenseits von staatlichen Strukturen

Der Anfang einer anarchistischen Sicht auf die Menschheitsgeschichte

| Jonathan Eibisch

David Graeber / David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, Klett-Cotta, Stuttgart 2022, 672 Seiten, 28,00 Euro, ISBN: 978-3-608-98508-5

Wie ein aktuelles Buch besprechen, welches seit Anfang des Jahres zu Recht schon vielfach rezensiert worden ist? Hörenswerte Beiträge gibt es beispielsweise bei Deutschlandfunk.Kultur, der ARD-Mediathek und SWR2, Zusammenfassungen in linken Zeitungen wie dem ND, im Jacobin Magazin und bei lib.co. Auch die Neue Zürcher Zeitung und die Frankfurter Rundschau berichten wohlwollend. Alleine die Frankfurter Allgemeine stichelt unter der von konservativen Chefredakteuren gesetzten Überschrift „Seht her, der Staat muss gar nicht sein!“ (1), ähnlich wie Die Zeit mit einem entpolitisierenden „Als wir uns noch nichts sagen ließen“ (2). Wer also an einer Zusammenfassung des Buchs Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit interessiert ist, wird auf jeden Fall fündig.

Infragestellung des Herrschaftswissens durch nicht-staatliche Gemeinschaften

Gerade die süffisanten konservativen Abwehrreflexe sind es, durch welche deutlich wird, dass der Archäologe David Wengrow und der Anthropologe David Graeber mit ihrem umfangreichen 560-Seiten-Werk auf fundierte Weise bislang tradierte Grundannahmen der Wissensproduktion dekonstruieren und in Frage stellen. Eigentlich wundert man sich, warum dieses Projekt niemand früher angegangen ist. Denn wie die beiden anarchistischen Sozialwissenschaftler aufzeigen, strotzen ihre Fachgebiete von skurrilen Axiomen und fragwürdigen Grundannahmen, welche jedoch als selbstverständlich dargestellt werden.
Unter anderem legen die Autoren plausibel und nachvollziehbar dar, dass es in früheren Jahrtausenden in ganz verschiedenen Kulturen „komplexe“ Gesellschaften und große Städte gab, die nicht-staatlich organisiert waren. Ebenso führen sie zahlreiche Beispiele wie etwa Teotihuacán an, eine Stadt, auf deren Ruinen die hierarchisch strukturierten Mexica im 12. Jh. ihre eigene Hauptstadt Tenochtitilán errichteten.
Wengrow und Graeber arbeiten – sehr ähnlich wie James C. Scott – heraus, dass die (spielerische) Entwicklung der Landwirtschaft und Sesshaftigkeit nicht notwendigerweise zu „Zivilisation“ und politischen Herrschaftsordnungen führte (3). Dies lässt sich etwa anhand der Stadt Çatalhöyük auf der anatolischen Hochebene zeigen, welche 7.400 v. u. Z. erstmals besiedelt wurde.

Mannigfaltige Organisationsweisen von Gemeinwesen

Derartige Entdeckungen sind aber keineswegs eine Verklärung der frühen Menschheitsgeschichte. Das Hauptaugenmerk wird im Buch darauf gelegt aufzuzeigen, dass immer schon sehr verschiedene Formen, die soziale Ordnung zu strukturieren, parallel zueinander bestanden oder aufeinander folgten. So gab es auch die als „frühe Staaten“ geltenden untergegangenen Gemeinwesen des pharaonischen Ägyptens, des Chinas der Shan-Dynastie, des Inka-Reichs oder des Königreichs Benin, in denen die drei Grundformen der Herrschaft – Gewaltkontrolle, Informationskontrolle und individuelles Charisma – gemeinsam auftraten, monopolisiert und rituell eingebettet wurden.
Die Vorstellung von Staatlichkeit wurde allerdings erst mit dem Staatstheoretiker Jean Bodin im 16. Jahrhundert geprägt, während unter Sozialwissenschaftler*innen des 19. und 20. Jahrhunderts wie Rudolf von Jhering keine fundierte Definition dafür entwickelt wurde, wie vergangene politische Gemeinwesen in verschiedenen Kulturen sonst begriffen werden können. So wurde die herrschaftsideologische Vorstellung tradiert, „komplexe“ Gesellschaften, in denen Städte, Handel, Ackerbau, Bürokratie und/oder Philosophie existierten, müssten an Kategorien von zurückprojizierter moderner Staatlichkeit gemessen werden.

Die Mythen der hegemonialen Sozialwissenschaften

Solche problematischen Vorannahmen haben zur Folge, dass ein großer Teil der Menschheitsgeschichte fälschlicherweise entweder als Phasen der gleichförmigen Langeweile angesehen oder in vermeintlich finstere Zeitalter verbannt wird (4). Doch dies ist schon deswegen nicht der Fall, weil sich beieinander gelegene soziale Gemeinschaften offenbar häufig gerade in Abgrenzung zueinander definierten und gezielt abweichende Rituale, Produktionsformen, Familienverständnisse, Siedlungsstrukturen usw. entwickelten. Wengrow und Graeber weisen dies am Beispiel der „asketischen“ Yurok und der „aristokratischen“ Kwakiutl, die jeweils an der Nordwestküste des heutigen Kaliforniens lebten, anschaulich nach. Dieses kontinuierlich auftretende anthropologische Phänomen erfassen sie mit dem von Gregory Bateson adaptierten Konzept der „Schismogenese“ (5).
Was vor dem Hintergrund ihrer überzeugenden Gesamtdarstellung als „primitiv“ erscheint, sind also nicht frühe menschliche Gesellschaften, die vom populärwissenschaftlichen Fachkollegen Yuval Noah Harrari gleich in die Richtung von Primaten gerückt werden – und der damit einen bürgerlichen Fatalismus auch gegenüber der zeitgenössischen Herrschaftsordnung propagiert. „Primitiv“ sind aus diesem Blickwinkel beispielsweise die Annahmen, Ungleichheit hätte sich zwangsläufig herausgebildet, egalitär könnten nur kleine Horden von Jäger*innen und Sammler*innen sein, Herrschaft wäre (in einer komplexen Gesellschaft) unvermeidlich, Geschichte sei ein fortlaufender Entwicklungsprozess oder Menschen vor Jahrtausenden hätten sich weniger als heute gezielt Gedanken zur Gestaltung, Organisation und mythologischen Einbettung ihrer Gemeinwesen gemacht. Vielmehr bestand neben der in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen bestehenden Freiheit, den Lebensort zu wechseln, und der Freiheit, Befehle zu verweigern, häufig auch eine dritte Freiheit: jene, die soziale Ordnung neu zu arrangieren.
Dass sich zahlreiche unserer Zeitgenoss*innen nicht vorstellen können, die Gesellschaftsordnung, in welcher sie leben, grundlegend anders zu gestalten, ist somit nicht vorrangig eine fatalistische Akzeptanz der eigenen Begrenztheit, sondern Ausdruck für die herrschaftliche Zurichtung unserer Vorstellungskraft und Erfahrungen.

Die Perspektive wechseln, indem wir anderen zuhören

Der Perspektivwechsel, durch welchen das Buch äußerst spannend zu lesen ist, gelingt Wengrow und Graeber durch einen naheliegenden, aber selten gegangenen Schritt: Sie beziehen die indigene Geschichtsschreibung ein und dekonstruieren damit das europäische hegemoniale Denken grundlegend. Dazu berufen sie sich paradigmatisch auf einen „Staatsmann“ und Philosophen der irokesisch sprechenden Wendat namens Kondiaronk. In Unterhaltungen zwischen ihm und dem französischen Baron Louis Armand de Lom d’Arce de Lahontan kritisiert Kondiaronk ausgiebig das Christ*innentum, das Privateigentum, die mangelnde Solidarität, den Gehorsam und die Unterdrückung der Frauen* bei den Europäer*innen.
Derartige Impulse seien es möglicherweise gewesen – so die beiden Autoren –, die erst die zivilisationskritischen Ideen einiger europäischer Aufklärer*innen wie Rousseau inspiriert hatten, an einen idealisierten „Naturzustand“ zu glauben, in welchem die Menschen „wirklich frei“ waren. Diese Menschen gab und gibt es allerdings tatsächlich. Aber ihre soziale Ordnung ist weder „natürlich“ noch an sich „freiheitlich“, sondern das Zwischenergebnis einer absichtsvollen kulturellen und sozialen Entwicklung mit langer Vorgeschichte.

Rest in Power, David Graeber! (1961-2020)

(1) https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/david-graebers-und-david-wengrows-buch-anfaenge-17761501.html
(2) https://www.zeit.de/2022/05/anfaenge-david-graeber-david-wengrow-geschichte
(3) Vgl. James C. Scott, Die Mühlen der Zivilisation, Berlin 2019.
(4) Eine These, die übrigens auch Peter Kropotkin in seinen Büchern Die historische Rolle des Staates (1989) und Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt (1902) vehement vertritt, ähnlich wie Gustav Landauer.
(5) Schismogenese beschreibt die zunehmende Kontrastierung zwischen Personengruppen aufgrund des Bedürfnisses, sich voneinander abzuheben.

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