Es ist ein kalter früher Morgen im November 2019. Mehr als 1.000 Aktivist*innen in weißen Maleranzügen brechen auf, um den Braunkohletagebau Vereinigtes Schleenhain in der Nähe von Leipzig zu blockieren. Sie stoppen die Kohlebagger für einen Tag und verlassen die Grube freiwillig am späten Abend. Der Betreiber MIBRAG erstattet Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs, und die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage. Seit Oktober 2022 müssen sich nun zwei Aktivist*innen, aber auch Journalist*innen und Landtagsabgeordnete vor Gericht verantworten.
Welcher Frieden? Welches Haus? Bei „Hausfriedensbruch“ fallen einer*m nicht zuerst offene Felder und Kohlegruben ein. Trotzdem sehen sich immer wieder Menschen aus dem Widerstand gegen Braunkohle mit dem Vorwurf konfrontiert, den Hausfrieden gestört zu haben. Denn wenn die Kohlekonzerne ihre Claims lückenlos umzäunt oder mit Erdwällen umgeben haben, dann wird der Tagebau nach geltendem Recht zum Haus, das niemand betreten darf.
Sina Reisch war in der Aktion 2019 eine der Pressesprecher*innen von Ende Gelände und soll sich deshalb am 18. November 2022 vor Gericht verantworten. „Wo sich heute der Tagebau in die Landschaft frisst, standen einmal Häuser. Da haben Menschen in Frieden zusammengelebt. Die MIBRAG hat das alles plattgemacht. Dass ausgerechnet ein Kohlekonzern seinen Hausfrieden gestört sieht, ist einfach lächerlich“, kommentiert sie die laufenden Strafprozesse. „Was für ein Hausfrieden soll das überhaupt sein? Das Haus brennt, und wir halten die fossilen Brandstifter davon ab, weiter Öl ins Feuer zu gießen.“
Es geht um Eigentum und um Gewinne
Die Braunkohletagebaue bei Leipzig, in der Lausitz und im Rheinland nehmen ganze Landstriche in Anspruch. Dörfer, Friedhöfe, Denkmäler, alte Höfe, weite Kulturlandschaften mit besten Ackerböden. All das muss den Energiekonzernen weichen, wenn sie einmal ihre Hand auf das Land gelegt haben, um sich das anzueignen, was vorher niemandem gehörte: Die Kohle, die in bis zu 500 Metern Tiefe liegt. Das deutsche Bergrecht macht’s möglich. Danach brauchen Konzerne nur den Abbau von bergfreien Bodenschätzen zu beantragen, und schon legt ihnen der Staat den Eigentumstitel zu Füßen. Was wie die Kohle in vielen Millionen Jahren Erdgeschichte entstanden ist, wird so zum privaten Eigentum. Für umme. Das macht die klimaschädliche Braunkohle zu einem so einträglichen Geschäft für Konzerne wie die MIBRAG, die LEAG oder RWE.
Mit dem Eigentumstitel auf die Kohle vergibt der Staat zugleich Zerstörungsrechte: In dem Moment, in dem ein Kohlekonzern seinen Claim in der Tiefe der Erde abgesteckt hat, verlieren alle Menschen, die auf dem Land darüber leben, ihre Rechte. „Das Bergrecht zeigt, dass Gesetze im Kapitalismus nichts mit Gerechtigkeit zu tun haben. Wir werden diese Gesetze mit zivilem Ungehorsam übertreten, solange sie Konzernen den Freibrief dafür geben, den Planeten auszuplündern, Menschen zu entrechten und das Klima zu zerstören“, erklärt Sina Reisch zu den Aktionen von Ende Gelände. Eigentumsrechte seien schließlich nichts als soziale Konventionen, die hier und jetzt gesellschaftlich gestaltet werden.
Alle Dörfer bleiben!
Jens Hausner wohnt in Pödelwitz, einem Dorf direkt an der Kante des Braunkohletagebaus Schleenhain. Jahrelang war der kleine Ort von Abbaggerung bedroht. „Der Braunkohletagebau hat nicht nur die Erde im Leipziger Land aufgerissen, er hat auch vielen Menschen ihr Zuhause genommen und Dorfgemeinschaften in alle Winde zerstreut“, erzählt er. Die MIBRAG habe im Leipziger Land unermessliche Schäden angerichtet. Deshalb müsse eigentlich der Konzern vor Gericht, nicht die Aktivist*innen.
Pödelwitz konnte in letzter Minute vor den Kohlebaggern gerettet werden. Jetzt muss sich das Dorf neu erfinden. Die Einwohner*innen wollen es zu einem Modell für ökologisches, kulturelles und soziales Zusammenleben machen. „Für uns in Pödelwitz ist klar: Wir brauchen Aktionen wie die von Ende Gelände, damit die Kohle im Boden bleibt und wir eine Zukunft haben“, ist Jens Hausner überzeugt. „Da spreche ich auch für ‚Alle Dörfer bleiben‘“, betont er und meint damit den Zusammenschluss von Ortschaften in den Braunkohlerevieren, deren Existenz der Tagebau bedroht.
Ein Angriff auf demokratische Rechte
Wenn die Energiekonzerne kommen, müssen nicht nur Dörfer weichen. Zerstört werden auch demokratische Grundrechte. Die Staatsanwaltschaften und Gerichte in den Kohleregionen sind eng mit den Energiekonzernen verbandelt.
Selbst Abgeordneten wird aktuell der Prozess gemacht, weil sie damals die Aktion als parlamentarische Beobachter*innen begleitet haben. Parlamentarische Beobachtung gilt als unmittelbare demokratische Kontrolle der Polizei und als Garantin für Versammlungsfreiheit. Das hinderte das zuständige Amtsgericht in Borna bei Leipzig am 13. Oktober 2022 nicht daran, die langjährige Abgeordnete des Sächsischen Landtags Jule Nagel wegen Hausfriedensbruchs schuldig zu sprechen. Das Verfahren gegen ihren ebenfalls angeklagten Fraktionskollegen Marco Böhme ist inzwischen gegen eine freiwillige Geldbuße eingestellt. Das sei „kein Schuldeingeständnis und auch kein Wegducken“, betont Böhme. Die beiden Abgeordneten wollen eine Grundsatzentscheidung zur freien Mandatsausübung vor einem höheren Gericht herbeiführen. Jule Nagel hat deshalb Rechtsmittel gegen ihr Strafurteil eingelegt.
Es gäbe keine Sonderrechte für Abgeordnete, so begründete der Richter das Urteil gegen Nagel, und dies gelte ebenso für die Presse. So sehen sich auch Journalist*innen vor Gericht gezerrt, die von der Grubenbesetzung berichtet hatten. Der Fotograf der Leipziger Volkszeitung Dirk Knofe hat sich am Ende seines Prozesses am 8. November 2022 für die Einstellung des Verfahrens gegen Geldbuße entschieden. Die MIBRAG hatte Strafantrag gestellt, weil sie in der Regionalzeitung Fotos von ihm entdeckte.
Das sei ein frontaler Angriff auf die Presse- und Meinungsfreiheit, konstatiert der ebenfalls betroffene Leipziger Journalist Marco Bras dos Santos und ergänzt: „Dass Medienschaffende von Energiekonzernen mit Klagen überzogen werden, zeugt von einem antidemokratischen Verständnis.“ Von einer politischen Motivation des Gerichts geht auch Tim Wagner aus. „Eins meiner Fotos von diesen Protesten im Tagebau wurde zum sächsischen Pressefoto des Jahres 2019 gewählt. Es ist inakzeptabel, dass hier der konstruierte Hausfrieden einer riesigen Braunkohlegrube vorgeschoben wird, um journalistische Arbeit zu behindern und zu delegitimieren.“ Vor Gericht stünden hier die Pressefreiheit gegen die Eigentumsrechte von Konzernen, so Marco Bras dos Santos, dessen Gerichtstermin für den 2. Dezember angesetzt ist. Notfalls müsse der Weg bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beschritten werden.
„They tried to bury us, they didn’t know we were seeds“
Seitdem die Klimagerechtigkeitsbewegung immer wirksamer interveniert, läuft die Repressionsmaschinerie spürbar an. Verbote von Camps, schikanöse Auflagen bei Demonstrationen, brutale Polizeieinsätze, menschengefährdende Räumungen, Schadensersatzklagen von Konzernen, antidemokratische Polizeigesetze, monatelange Untersuchungshaft und harte Gerichtsurteile – Staat und Konzerne fahren ordentlich auf.
So waren im August 2022 die Aktionstage von Ende Gelände in Hamburg von gezielter Willkür überschattet: Mit Verboten wollte die Versammlungsbehörde das System Change Camp verhindern, und während der Blockadeaktionen kam es zu brutaler Polizeigewalt. In München drohen drei Aktivist*innen mehrere Jahre Gefängnis für eine Abseilaktion während der IAA 2021, während dort aktuell Straßenblockierer*innen für 30 Tage in Präventivhaft sitzen. In Leipzig fordert DHL wegen einer Versammlung gegen den Ausbau des Flughafens Halle/Leipzig von den Aktivist*innen von „Cancel LEJ“ Schadensersatz in Millionenhöhe für entgangene Profite. Seit September sind drei Menschen der Aktionsgruppe „Unfreiwillige Feuerwehr“ in Haft, weil sie das Braunkohlekraftwerk Jänschwalde blockiert haben. Und während die MIBRAG bei Leipzig die Strafprozesse wegen der Ende-Gelände-Aktion 2019 forciert, will die LEAG nach einer ebenfalls drei Jahre zurückliegenden Baggerbesetzung Aktivist*innen der „Lausitz 23“ gerichtlich dazu zwingen, künftig Proteste bei einer Strafandrohung von 250.000 Euro zu unterlassen.
Die Taktung der Repression ist schon hoch. Nun eskaliert mit den Aktionen der „Letzten Generation“ der Diskurs gegen Klimaaktivismus weiter. Ziviler Ungehorsam und Ordnungswidrigkeiten werden rhetorisch in die Nähe von Terrorismus gerückt, und schrille Forderungen nach immer härteren Strafen werden laut. Das Klima der Repression wird rauer. „Mit zivilem Ungehorsam stellen sich Aktivist*innen den Klimaverbrechen der fossilen Konzerne immer wieder entgegen. Es ist völlig absurd, dass sie deshalb kriminalisiert und vor Gericht gestellt werden“, ist Pumuckl überzeugt. „Kriminell ist, wenn Energiekonzerne mit dreckiger Braunkohle Gewinne machen und für ihre Profite den Planeten verheizen.“ Im Januar 2023 wird sich Pumuckl als Aktivist wegen der Tagebaublockade in Schleenhain vor Gericht verantworten müssen. „Wir lassen uns nicht einschüchtern!“, sagt er. „Ganz im Gegenteil: Die Klimagerechtigkeitsbewegung wird größer und stärker.“
„We don’t shut up – We shut shit down“
In den nächsten Wochen wird das Dorf Lützerath zu einem wichtigen Kristallisationspunkt der Kämpfe um Klimagerechtigkeit. Lützerath liegt an der Kante des Braunkohletagebaus Garzweiler und ist alles andere als das gern zitierte „Symbol“. Denn darunter liegt ein dicker Braunkohleflöz. An den will RWE ran. Die letzten Häuser sollen noch in diesem Winter abgerissen, die letzten Bäume gefällt werden, um den Weg frei zu machen für das Abbaggern von 280 Millionen Tonnen Braunkohle – sechsmal so viel wie mit dem 1,5-Grad-Limit des Pariser Klimaabkommens vereinbar sind.
Die Klimagerechtigkeitsbewegung wird das nicht zulassen. „Gemeinsam mit vielen anderen werden wir Lützerath unräumbar machen“, kündigt Sina Reisch an. „Zusammen mit den Menschen, die Lützi schon jetzt durch Baum- und Hausbesetzungen, Kultur und Widerstand mit Leben füllen, sagen wir: We don’t shut up – We shut shit down!“
Kommt nach Lützerath: direkt ins Dorf oder in „Unser aller Camp“ in Keyenberg!
Lovis Risas, Presseteam von Ende Gelände
Noch ausstehende Gerichts-
termine vor dem Amtsgericht Borna:
Freitag, 2.12.2022, 9.00 Uhr – Marco Bras dos Santos (Foto-Journalist)
Freitag, 10.1.2023, 9.00 Uhr – Pumuckl (Ende Gelände)