die waffen nieder

Spuren und Wunden

Ein Plädoyer gegen Krieg

| Alexandres

Durchschuss im Träger einer Eisenbahnbrücke (Berlin) - Foto: Alexandres

Die sichtbaren und doch oft kaum wahrgenommenen Spuren des Krieges finden sich auch Jahrzehnte später und zeugen von zerstörtem Alltag, zersplittertem Glück und mörderisch beendetem Leben. In verschiedenen Städten und Ländern hat Alexandres diese Zeichen gesucht und dokumentiert – zahllose kleine Mahnmale gegen Krieg und Gewalt. (GWR-Red.)

Eine kleine Terrakotta-Figur. Eine ausgediente Gefechtsbeleuchtung, die ihre Strahlkraft verloren hat. Bruchstücke von Porzellanfiguren. Ein Teil einer Patronenhülse. Porzellanhunde, die ihre Herrchen und ihre Pfoten verloren haben. Hunde, die ihre Plätze nicht mehr finden werden: Wenn die Kommoden nicht niedergebrannt sind, dann sind sie wahrscheinlich unter der Erde verrottet.
Glas- und Keramikscherben. Ein Mauser-Ladestreifen. Ein durchgerosteter Schlüssel zum Einschrauben der Stollen in die Hufeisen. Puppenstuben-Krüge. Braune, gelbe und rote Ziegelstein-, Klinker- und Hohlziegelsplitter. Bügelverschluss-Porzellanköpfe, die ihre Brauereien überdauerten. Ein Reichsadler mit abgebrochenem Flügel auf einem schmutzigen Geschirrfragment. Weiße, grüne und blaue Fliesenreste. Lose Henkel. Ein Gläsertuch-Porzellanschild. Glänzende Fragmente der gemusterten Kacheln. Ein Brocken eines Schleifsteines.
Blumenranken und Ornamente auf den Tassen- und Tellerscherben, die auf der Erde schimmern. Puzzlestücke, die niemand zusammenklebt, um von dem reparierten Geschirr zu essen: Ob die Besitzer*innen den Krieg lebend überstanden haben? Gelegentlich erkennt man die Ziegelstempel und die Porzellanmarken: Glindow, Rathenow, Hasak, Friedrich Hempel, Alt Schönwald, Carl Tielsch, Wallis. Hie und da liegen geschmolzene Glasflaschen. Mit all diesen Artefakten erzählen die Kriegstrümmerberge vom Krieg und seinen Folgen. Allmählich geben sie ganze Objekte und viele Überreste frei. Zertrümmerter Hausrat – Bruchstücke des Lebens.

Der Krieg verschont nichts. Mit seinen Bomben und Minen vernichtet er blind Gotteshäuser, Friedhöfe, Fabriken, Wohnhäuser und menschliche Schicksale – das Leben.

Auf die Entstehungsgeschichte der Trümmerberge verweisen Plastiken und Denkmäler, die die Aufbauhelfer und heutzutage oft umstrittenen Trümmerfrauen würdigen. Tausende Leute waren an der Beseitigung der Kriegstrümmer und an der Entstehung der Hügelschüttung beteiligt. Unwillkürlich denkt man an die erschöpften Arbeiter, die beim Bau der ägyptischen Pyramiden eingesetzt waren: „Die Hunderttausende brachen Steine – Steine – Steine … türmten sie empor, höher und höher und höher.“ Und heute flattert in Dresden die ukrainische Fahne über das Trümmerfrauen-Standbild.

Steinernes Echo

Vor 77 Jahren ging der NS-Staat ruhmlos unter. Der Krieg war zu Ende. Die Stimmen der Augenzeug*innen dieser schrecklichen Knochenmühle werden bald verstummen. Für sie werden Trümmerberge und sichtbare Kriegsschäden sprechen. Sie müssen, wie Sturmläuten, vor dem Krieg warnen. Sie müssen die Mahnung des Krieges weiter prägen. Wie in Stein gemeißeltes Echo. Wer Ohren hat zu hören, der höre.
Noch gibt es in Deutschland viele Kriegsspuren: Narben und Risse an den Vorkriegsbauten und den Trägern der Eisenbahnbrücken.

Foto: Alexandres

Eine Frau betritt die steinerne Türschwelle, die Einschusslöcher aufweist. „Ich wohne zwar hier, aber sie fielen mir bis jetzt nicht auf“, staunt sie. Man nimmt tatsächlich solche Wunden öfter nicht wahr oder erkennt sie nicht. Sollte man jedoch hie und da stehen bleiben und sich genauer umschauen, wird man plötzlich Fassaden, Mausoleen und Säulen gewahr, die so aussehen, als wäre der Krieg erst vor Kurzem vorbei. Manche sehen dabei so aus, als wären sie damals zur Todesstrafe durch Erschießen verurteilt worden. Wer Augen hat zu sehen, der sehe.
Die durchlöcherten Fassaden, die einem Schweizer Käse ähneln. Die Beschussspuren, die von Granat- und Bombensplittern zeugen. Trümmergrundstücke, „Bombenlücken“, beschädigte Grabsteine und entstellte Skulpturen reihen sich ein. Auch Vierungen und Restauriermörtel sind reichlich vorhanden. Neben den belassenen Wunden wirken sie wie Wundschnellverband. Man stellt sich förmlich die Wucht und Grausamkeit der Kampfhandlungen vor. Die Gewehr- und Kanonenkugeln, Glas- und Steinsplitter, die erbarmungslos und chaotisch herumwirbelten. Die grollenden Kanonaden, Trümmer und Steinstaub, Qualm und Feuer, Blut und Schmutz, Verwundete und Tote. Und dann hört man etwas anderes, Lachen und Stimmen, Deutsch, Englisch, Ukrainisch, Russisch, Französisch, Japanisch, und die schreienden Steine verhallen wieder. Doch ist ihr Leid nicht mehr zu übersehen.
Auf der Museumsinsel in Berlin sind solche Kriegsspuren besonders auffällig. Auf sie herab schauen die Überschriften von den Dreiecksgiebeln der Museen: „Der deutschen Kunst“ und „Artem non odit nisi ignarus“, was „Nur der Unwissende verachtet die Kunst“ bedeutet. Wer einmal dieses Kriegsecho wahrgenommen hat, dem fällt es später immer wieder auf.
Darüber hinaus warnen verschiedene Ortschaften, so wie beispielsweise Berlin, Letschin, Reitwein oder Oderaue, mit ihren Kriegsruinen. Oft sind das schwer beschädigte Kirchen. Denn der Krieg verschont nichts. Mit seinen Bomben und Minen vernichtet er blind Gotteshäuser, Friedhöfe, Fabriken, Wohnhäuser und menschliche Schicksale – das Leben.

Verblassende Markierungen

Deutschland beherbergt jedoch nicht nur steinerne Wunden und Kriegstrümmerberge, sondern auch echte NS-Überbleibsel: Bunker, Flaktürme und deren Ruinen, Bauwerke, Hitler-Eichen, Reliefs und Plastiken. Allein Berlin hat dutzende Reichsadler zu bieten. Man trifft auch auf Lüftungsschächte und Notausgänge der unterirdischen Schutzräume, die durch Stahlgitter abgedeckt sind. Sie tragen die Beschriftung „Mannesmann-Luftschutz“.
Manche Fassaden besitzen noch die Kennzeichnungen des Luftschutzes. Luftschutzpfeile wiesen auf Luftschutzräume hin. Ein weißes „H“ kennzeichnete den Standort eines Hydranten. Auch andere Abkürzungen für den Luftschutz kann man hie und da noch erkennen. Diese Markierungen verblassen nach und nach, lösen sich im Graffiti und den Schmierereien auf, werden überstrichen. Jedoch manche Wandbeschriftungen wirken fast frisch.
Ein Berliner Wohnblock besitzt mindestens 35 Luftschutzpfeile, die fast ausschließlich gut erhalten sind. Viele Pfeile sind mit Zahlen ergänzt, deren Bedeutung unklar bleibt. Doch die Bewohner*innen, gleichwohl, ob sie diese Kennzeichnung wahrnehmen oder nicht, können nichts mit ihnen anfangen. Eine Frau im Fenster weiß nicht, was diese Pfeile bedeuten. Sie schaut neugierig nach unten, um ihre eigene Umgebung bewusster zu studieren. Ein Mann schließt sein Fahrrad vor dem Hauseingang an. Direkt vor seinen Augen befindet sich ein Pfeil mit einer Zahl an der Wand. „Weist er auf die nächste Hausnummer?“, vermutet er. Seine Nachbarin und ihr Mann bringen ihre Sachen aus dem Auto heim. „Diese Pfeile fielen mir schon auf“, meint die Frau, „sie kommen doch aus den alten Zeiten. Aber was sie bedeuten, das weiß ich nicht. Vielleicht war die Hausnummerierung damals anders?“ Ihr Begleiter hat nichts dazu zu sagen. Eine weitere Einwohnerin schaut die Fassaden genauer an und wundert sich: „Ich habe diese Pfeile noch nie bemerkt.“

Rotunde des ehemaligen Krankenhauses Woronesch (Russland) – Foto: Alexandres

Darüber hinaus blieben an mindestens drei Stellen in Berlin drei Worte auf Russisch erhalten: „Geprüft, keine Minen“. Mit solcher Aufschrift markierten die Rotarmisten die Gebäude, die geprüft bzw. in denen Minen entschärft wurden. Die verwitterten kyrillischen Buchstaben in Dresden sind noch ausführlicher als die in Berlin: „Schloss/Museum geprüft. Keine Minen. Es prüfte Chanutin“.

Ruinen als Mahnmale

Die Kriegsspuren findet man auch in Russland. Einschusslöcher und Beschädigungen, gelegentlich begleitet von Gedenktafeln in Sankt Petersburg: an der Kathedrale des Heiligen Isaak von Dalmatien oder an der Anitschkow-Brücke. Die Ruinen einer Rotunde des ehemaligen Krankenhauses in Woronesch und einer Mühle in Wolgograd. Diese Stadt beherbergt noch die Ruine eines Hauses, wo sich ein Gefechtsstand befand. All diese steinernen Zeugen des Krieges wurden als Mahnmale stehen gelassen. Auch in Polen existiert ein solches „Mahnmal“: die zerstörte Festungsstadt Kostrzyn nad Odrą. Umso erschreckender ist die Tatsache, dass Wladimir Putin gerade jetzt solche „Mahnmale“ in der Ukraine errichtet.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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