Hans Paasche. Ein Leben für die Zukunft. Hrsg. von Helmut Donat in Verbindung mit dem Rostocker Friedensbündnis. Bremen 2022, geb., 191 S., 14,80 Euro
Das dieser Besprechung zugrundeliegende Buch ist ein weiterer Beitrag des Bremer Verlegers, Helmut Donat, uns die Biografie des Menschen Hans Paasche näher zu bringen. Mit dem er vor 40 Jahren seine Nachforschungen über Personen des Pazifismus begann. Daraus entstand, noch im improvisierten Eigenverlag, quasi als Pioniertat das erste Buch: „Auf der Flucht“ erschossen… Schriften und Beiträge von und über Hans Paasche“. Bremen/Zeven 1981. Gut zehn Jahre später folgte in ergänzender Erweiterung „Hans Paasche: Ändert Euren Sinn! Schriften eines Revolutionärs. Hrsg. von Helmut Donat und Helga Paasche mit einem Nachwort von Robert Jungk“, der darin fragt, wo die Paasches der Jahrtausendwende wären?
Donat setzte sich damals ein Ziel: Wenn er es schaffe, mit seinem Paasche-Anliegen jenseits historischer Fachpublizistik in eines der überregionalen bürgerlichen Blätter zu kommen, habe er gewonnen. Er gewann. „DIE ZEIT“ war alsbald die erste, die an die ausgelegte Angel anbiss und mit einem großen Paasche-Artikel von Donat reagierte. Ihr folgten noch viele andere. Die Liste von Vorträgen, die Donat in ganz Deutschland zu Paasche und anderen relevanten Friedens-Themen hielt sowie der Aufsätze, die er dazu verfasste, ist lang. Der Verlag ist vor allem mit seiner Reihe Geschichte & Frieden, die im Zentrum steht, zu einer wichtigen Adresse für pazifistische Literatur geworden. (1)
Das neue Werk ist als Quintessenz auch eine eindrucksvolle Illustration zu Donats umfangreicher Forschungs- und Dokumentationsarbeit über den zum Pazifisten und Lebensreformer gewandelten, einstigen Kapitänleutnant der Kaiserlichen Marine und Militäroffizier in Deutsch-Ostafrika.
Paasche drang in kolonialen Militärdiensten zu seinem späteren „Coming out“ als Kriegsgegner durch. Paasche wurde zum teilnehmenden Feldforscher in eigener Sache. Immer weniger war ihm noch an seiner Aufgabe als Kolonialoffizier gelegen. Er wandelte sich ungewöhnlich zum Liebhaber und Bewunderer Afrikas, seiner Menschen, einmaligen Tierwelt und elementaren Landschaften. Literarische Zeugnisse, ja Bekenntnisse wie „Das verlorene Afrika“ (1919) oder die Sammlung „Im Morgenlicht. Kriegs-, Jagd- und Reiserlebnisse in Ostafrika. Mit 97 photographischen Aufnahmen des Verfassers“ (1907) zeugen davon. Patrick Hemingway, zweiter Sohn des jagdbesessenen amerikanischen Schriftstellers, entlieh sich bei Paasche sogar für sein posthum herausgegebenes Werk seines Vaters dreister Weise noch den Titel: „True at First Light“ – „Die Wahrheit im Morgenlicht. Eine afrikanische Safari“ (1999) über die letzte Safari-Jagd in Kenia 1953 seines da schon kräftehinfälligen Vaters. Der Hemingway-Sohn, selbst Großwildjäger, kannte sich nach eigenem Bekunden gut aus mit der Geschichte und Literatur der britischen und deutschen kolonialen Minderheiten in Ostafrika, seine Titelwahl ist also kaum zufällig.
In seinem anderen Herangehen dreht Paasche den Spieß um: In seinem wohl bis heute bekanntesten Werk, dem „Lukanga Mukara“, lässt er fiktiv einen Afrikaner das Land der „Wasungu“, der zivilisierten Deutschen, bereisen und davon seinem großen Häuptling Mukama im schwarzen Erdteil blumig, vor allem jedoch ironisch bis satirisch in Briefen berichten. Heraus kam ein kritisches Unsittengemälde der vermeintlich hoch entwickelten weißen „Rasse“ um die Jahrhundertwende. Das allein verheißt schon vergnüglichen Lesespaß eines Büchleins, das sich bestens zum Verschenken und Vorlesen in illustrer Runde eignet.
In seiner kritischen Draufsicht aufs typisch Zivilisatorische, bediente sich Paasche eines verbreiteten literarischen Stilmittels der exotisch-utopischen Roman-Parabel wie etwa „Gullivers Reisen“, „Robinson Crusoe, „Die Schiffbrüchigen der Jonathan“ (Jules Verne), oder den „Perserbriefen“ („Lettres persannes“) von Charles de Montesquieu. Sie sollten den angeblich „Überlegenen“ den Spiegel ihrer Unzulänglichkeiten und moralischen Anmaßungen vorhalten. Lukanga Mukara (alias Paasche) macht sich lustig über das „Rauchstinken mit Rauchrollen“, darüber, weshalb die Wasungu beständig hin und her laufen und fahren, was sie in ständige Zeitnot bringt, das Bezahlen mit schwerem Metall und buntem, beschriebenem Papier, die Unsitte des zugeknöpften Bekleidens, was und wie die Wasungu essen, die Narrheit, die die Wasungu „Volkswirtschaft“ nennen und wie die Deutschen ihren König (sprich Kaiser) feiern.
Eine besondere Bewandtnis hat es mit dem „Lukanga Mukara“ im Verhältnis zu einem anderen exotischen Buch jener Zeit, „Der Papalagi“, des Autors Erich Scheurmann. Eine Schlüsselrolle spielte dabei die Zeitschrift „Der Vortrupp“, Halbmonatsschrift für das Deutschtum heute. Scheurmann, der die Südsee bereiste, suchte u. a. in Deutsch-Samoa nach verwertbaren Motiven und Stoffen für sein Schreiben. Er war nach Paasches Rücktritt von der Vortrupp-Herausgeberschaft Mitarbeiter der Zeitung geworden. Als solcher hatte er Zugriff auf die im „Vortrupp“ erstmals publizierten Lukanga-Briefe, die er sich zum Muster wählte. Zum Teil hat Scheurmann den „Lukanga“ bis in die Wortwahl kopiert. Das Afrikaner-Buch war in den 1920er Jahren das nach dem Liederbuch des „Zupfgeigenhansel“ zweitbeliebteste Buch der damaligen Jugendbewegung. Der „Papalagi“ rangierte weit dahinter. Dass Scheurmann nach 1933 Oden auf Hitler verfasste, also einen ganz anderen Weg als Paasche eingeschlagen hat, wollte der Papalagi-Verlag stets unter der Decke halten.
Der „Papalagi“ hat die Sozial- und Kapitalismuskritik des „Lukanga“ verwässert, unkenntlich gemacht und stattdessen vor allem den Aussteiger-Mythos bedient, was ihn besonders handlich erscheinen ließ für die 68er-Gegenkultur und ihre alternativen Epigonen. Es kam an, dass mit der „Flucht ins rein Exotische“ niemandem wehgetan wurde. Darauf fuhren die Leute ab. Der „Papalagi“, man darf mutmaßen, wie viel „Blut-und-Boden“-Ideologie in ihm steckt, errang die Auflagenoberhand und größere Bekanntheit, weil es niemanden gab, der den „Lukanga“ noch verlegte. Das änderte sich mit den Raubdrucken seit den sechziger Jahren, doch blieb der „Lukanga“ das unbekanntere Buch. Donat erwarb 1985 die Rechte von der Tochter, Helga Paasche, was die Raubdrucker auch versucht haben, ihnen aber nicht gelang. Der „Lukanga Mukara“ ist das stil- und gehaltvollere Buch, das zudem die interessanteren Original-Illustrationen bietet. Der Donat-Verlag hat wiederholt eigene Auflagen gestaltet bis hin zur derzeit vorliegenden in gebundener bibliophiler und farbig illustrierter Aufmachung. Ein Kleinod und die vielleicht schönste Erinnerung, die wir an Paasche haben.
Das neue Paasche-Reminiszens-Buch besticht durch seine zahlreichen Illustrationen, Faksimiles und Farbfotos. Donat fungiert als Herausgeber und wie stets akribischer Gestalter und stellt sich im abgedruckten Interview der Frage nach der Aktualität Paasches (S. 95-105). Kapitän zur See a. D., P. Werner Lange, eröffnet den Reigen der Beiträge mit einer biografischen Skizze und historischen Einordnung des 1920 durch politischen Mord jäh beendeten, kurzen Lebens Hans (S. 9-23). Heinz Kraschutzskis Beitrag „Meine Wandlung: Fort vom Militarismus!“ schließt sich daran an (S. 41-49). Er basiert auf dem unveröffentlichten Manuskript der Lebenserinnerungen des Kapitänleutnant-Kollegen Kraschutzki an Hans Paasche.
Weitere Buch-Beiträge stammen u. a. von Jürgen Reulecke: „Helga Paasche – Auf den Spuren ihres Vaters“; Geert Platner: „Wider die Mächtigen und ihre Arroganz – Zum bleibenden Vermächtnis Hans Paasches“; Wolfgang Schlott: „Zur Bedeutung Lukanga Mukaras heute“. Das Buch enthält eine ausführliche Zeittafel (S. 175-182), die Orientierung über Stationen und Ereignisse im abenteuerlichen Leben des 1881 in Rostock geborenen Paasche gibt.
Viele Fotos zeigen Paasche als äußerlich schneidigen, feschen jugendlichen Militär mit sanftem, beinahe jungenhaftem Gesichtsausdruck. Das war kein „Neger“-Schlächter oder Kolonial-Rabauke. Davon einige Fotos mit seiner Ende 1918 an der Spanischen Grippe verstorbenen Frau, Ellen Witting. Vier Kinder hatte das Paar, wovon die Tochter Helga (+2011) und der Sohn Ivan ein hohes Alter erreichten und Donat wichtige Informationen zur Familiengeschichte gaben. Helga Paasche wusste zunächst nichts von der politischen Seite ihres Vaters. Donat stellte ihr darum das von ihm über Paasche gesammelte Material zur Verfügung. Danach begann sie selbst den Spuren ihres Vaters nachzugehen und entdeckte z. B. die Untersuchungsakten in der DDR zum „Fall“ Paasche.
Die Kinder wurden auch Zeug-:innen jenes dunklen Tages im Mai 1920. Als ein Kommando von 40 Soldaten, 10 Unteroffizieren und zwei Offizieren auf dem Paasche-Gut Waldfrieden in der Neumark (heute Polen) auftauchte, um Haus und Gelände nach angeblich versteckten Waffen zu durchsuchen, die nie gefunden wurden. Es ging darum, alte Rechnungen der extremen politischen Rechten mit Paasche, der diese in seiner Kritik stets scharf anging, zu begleichen. Vor den Augen der Kinder (außer Ivan) erschossen sie ihren Vater. Der vorgeschickte Dorfpolizist holte Paasche vom nahegelegenen See ab, wo er am Baden war. Als er in Sichtweite des Soldatentrupps kam, schwante ihm nichts Gutes. Er versuchte zurück in den Wald zu laufen, dabei streckten ihn zwei Kugeln von hinten nieder. Ein Haftbefehl existierte nicht und die Hausdurchsuchung hätte man auch ohne ihn durchführen können. Es war ein geplanter Mord. Die Verantwortlichen wurden nie zur Rechenschaft gezogen.
Einen erheblichen Teil des Buches nehmen die beiden Abschnitte „Hans Paasche in Selbstzeugnissen“ (S. 107-149) und „Aus Nachrufen und Würdigungen“ (S. 151-174) ein. Dort versammelt sind u. a. Aussagen von Friedrich Wilhelm Foerster, Franz Pfemfert, Carl von Ossietzky, und Kurt Tucholsky. Letzterer widmete dem Freund den Nachruf „Paasche“ in Gedichtform in der Ausgabe vom 3. Juni 1920 der Zeitschrift „Die Weltbühne“. Dort heißt es:
„Wieder einer. / Das ist nun im Reich / Gewohnheit schon. / Es gilt ihnen gleich. / So geht das alle, alle Tage. / Hierzuland löst die soziale Frage / ein Leutnant, zehn Mann / Pazifist ist der Hund? / Schießt ihm nicht erst die Knochen wund! / Die Kugel ins Herz! / Und die Dienststellen logen: / Er hat sich seiner Verhaftung entzogen. / Leitartikel, Dementi, Geschrei. / Und in vierzehn Tagen ist alles vorbei.“
Es gibt Anekdoten über Paasche, die einen humorvollen Menschen erkennen lassen. So soll sich der Vegetarier und Abstinenzler Paasche an Tische in Berliner Speiserestaurants begeben und freundlich bestimmt gefragt haben, wie den gerade Fleisch speisenden Herrschaften denn die fleischernen „Nachttöpfe“ (= Nieren) schmecken würden? Oder eine andere Kolportage aus seiner Dienstzeit im Krieg als Leuchtturmwärter auf Roter Sand in der Wesermündung: demnach soll Paasche mit japanischem Kimono bekleidet, im Aussichtsrundgang gewandelt sein und den Schiffen Zeichen zum Passieren gegeben haben; auf seinem Gut Waldfrieden hat Paasche nach seiner Entlassung 1916 aus dem Militärdienst wegen Insubordination (er weigerte sich, als Marinerichter an der Verurteilung eines Matrosen mitzuwirken) ließ er für die französischen Zwangsarbeiter am Unabhängigkeitstag des 14. Juli die Trikolore hissen und von einem Grammophon die Marseillaise erklingen. Auch als ziviler Akt war das Landeshochverrat.
Der bis zum psychiatrischen Negativgutachten geschmähte Offizier Paasche, hatte nach dem Krieg die Schrift „Meine Mitschuld am Weltkriege“ (1919) verfasst. Er wollte, von Matrosen in den Arbeiter- und Soldatenrat gewählt, in Berlin die Verantwortlichen für das sinnlose Schlachten in höchsten Militärkreisen verhaften, einsperren und vor ein Gericht stellen. Doch die SPD-Volksbeauftragten, darunter Friedrich Ebert, verweigerten die Unterschrift und so war Paasches Vorhaben von einer von Militarismus und Nationalismus befreiten deutschen Politik gescheitert.
Die Buchüberschrift spricht von einem „Leben für die Zukunft“. Gemeint ist auch neben Paasches entschiedenem Protest gegen den Krieg sein Eintreten für die Belange von Natur und Kreatur. Man kann ihn durchaus als einen Vordenker der Ökologiebewegung bezeichnen. Er schrieb gegen die üppige Federmode auf Damenhüten an und erwog damals schon jagdfreie Schutzrefugien für wilde Tiere in Afrikas Savannen und Trockensteppen, lange bevor es einen deutschen Serengeti-Lobbyisten wie den Frankfurter Zoodirektor Grzimek gab.
Paasche war früh mit der freideutschen Jugendbewegung und dem Wandervogel verbunden, ja einer ihrer Wortführer. Im Oktober des Jahres 1913 wurde der erste Freideutsche Jugendtag auf dem 750-Meter-Höhenzug des Hohen Meißner östlich von Kassel mit tausenden Teilnehmenden abgehalten, die die Meißnerhänge mit Zeltlagern, Lagerfeiern und -feuern, Ringtänzen und vielen Reden und Ansprachen ringsum bevölkerten. Auch Hans Paasche war zugegen. Eine deutsche Jugend schwor sich am Vorabend eines heraufziehenden Krieges mit der „Meißner-Formel“ auf Frieden gegen Krieg ein. Paasche warnte vehement, sich nicht wieder in altes Fahrwasser ziehen zu lassen.
So war die Buchüberschrift auch schon der Titel einer Veranstaltung 1985 in Bremen mit der Paasche-Tochter Helga unter Mitwirkung von Helmut Donat und Johann G. König, deren Mitträger der BUND war. Eine Brücke zu heute schlug in Erinnerung an 1913 achtzig Jahre später das AufTakt-Jugendumweltfestival in Magdeburg unter der Schirmherrschaft des schon schwerkranken Robert Jungk. Die Zeitschrift Graswurzelrevolution (damals Heidelberger Redaktion) übernahm die Erstellung der täglichen Festival-Zeitschrift „Taktlos“, in deren ersten Ausgabe der Verfasser über die Wurzeln und Anfänge der Jugendbewegung in Deutschland noch vor dem Ersten Weltkrieg berichtete.
Auf Burg Ludwigstein hoch über dem nordhessischen Werratal, nahe dem Meißner, wo sich das Archiv der Deutschen Jugendbewegung und das Paasche-Archiv befinden, erinnerte lange eine 1921 gepflanzte Linde an Paasche, die Paasche-Linde. Nachdem sie 2002 einem Sturm zum Opfer fiel, wurde fünf Jahre später von polnischen und deutschen Jugendlichen im Beisein von Paasche-Nachfahren ein neuer Lindensetzling vom Gelände des polnischen Waldfrieden eingepflanzt. Das Buch berichtet fotodokumentarisch darüber. Insgesamt ist zu sagen, ein neuer gelungener Wurf aus der unermüdlichen politischen Geschichtswerkstatt des Helmut Donat, dem dafür zu danken ist!