Hat die Menschheit noch eine Chance?

Alternativen zu Fortschritt und Entwicklung durch Wachstum

| Elisabeth Voß

Vielfältige Krisen stellen eine weitere Existenz der Menschheit ernsthaft infrage, aber die Party geht weiter. Die erneuten Warnungen im 2022 erschienene Bericht „Earth for All“ (1) des Club of Rome bleiben ungehört, Lützerath wird abgebaggert und die Welt sehenden Auges vor die Wand gefahren. Im Dezember 2022 verhandelten Vertreter*innen aus fast 200 Ländern auf dem Weltnaturgipfel COP15 über den Erhalt der Biodiversität. Diese Konferenzen finden regelmäßig statt, formulieren wohlklingende Ziele, die nie erreicht werden.
Nun sollen bis 2030 mindestens 30 Prozent der weltweiten Land- und Meeresflächen unter Naturschutz gestellt, und es soll mehr Geld in den Artenschutz gesteckt werden. Es ist zu befürchten, dass die Gelder in Greenwashing-Projekte fließen, und dass Indigene im Namen des Naturschutzes vertrieben werden. Davor hatten Amnesty International und andere NGOs schon vor COP15 gewarnt. (2) Um die Ökosysteme zu schützen, müssten die Rechte derjenigen geschützt werden, „die in ihnen leben und auf sie angewiesen sind“, denn 80 Prozent der gesamten biologischen Vielfalt der Erde komme „auf dem angestammten Land indigener Völker vor“. Deren Rechte auf Land und Selbstbestimmung seien zu schützten, so wie es „in internationalen Menschenrechtsübereinkommen festgeschrieben“ sei.

Kapitalismuskritik reicht nicht

In den Degrowth-Diskussionen des globalen Nordens ist die Einsicht, dass der Kapitalismus strukturellen Wachstumszwängen unterliegt, weit verbreitet. Unterbelichtet bleibt jedoch die Frage, wie es zur Gewalttätigkeit gegenüber Mensch und Natur kommen konnte, die der kapitalistischen Wirtschaftsweise kulturell eingeschrieben ist. Steht nicht die strukturell rücksichtslose kapitalistische Konkurrenz in Wechselwirkung mit mitmenschlicher Rücksichtslosigkeit, die ignorant ist gegenüber der Einbettung des Menschen in die Natur, und die tendenziell anderen ihr Menschsein abspricht? Aus feministischer Perspektive ist eine andere Wirtschaft zwar notwendig, aber nicht hinreichend für eine Postwachstumsgesellschaft, denn patriarchale und koloniale Macht, Herrschaft und Gewalt sind älter als der Kapitalismus.
Ich bin davon überzeugt, dass indigene Weltsichten für das Verständnis hilfreich sein können. Nicht um sie unkritisch zu übernehmen, aber um die eigenen eingefahrenen Denk- und Empfindungsmuster, ja auch die eigenen Vorurteile gegen ganz andere Perspektiven auf Mensch und Natur, und auf das Leben selbst, kritisch zu hinterfragen. Für Gewaltfreiheit brauche ich hier nicht werben, aber es reicht nicht aus, wenn sie auf Menschen beschränkt bleibt, sondern ich glaube, dass dazu auch Respekt, ja Demut gegenüber den Geheimnissen des Lebens gehört. „Wir“ können nicht alles wissen und machen – was ja keineswegs bedeutet, nichts zu tun! Aber es ist höchste Zeit, sich von westlich dominierten Vorstellungen von „Entwicklung“ zu verabschieden. Die Begrenztheit des naturwissenschaftlichen Weltverständnisses hatte Fabian Scheidler (3) in „Der Stoff, aus dem wir sind“ sehr schön dargelegt (siehe Rezension in der Graswurzelrevolution Oktober 2021). (4)
DIE eine Lösung für die vielfältigen Krisen gibt es sicher nicht. Postwachstum und Postdevelopment, das heißt die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft ohne das auf Wachstum ausgerichtete Fortschritts- und Entwicklungsparadigma, kann ich mir nur als vielfältige Wege vorstellen, die nicht geradlinig und selbstgewiss, quasi patriarchal-militärisch orchestriert verlaufen, sondern eher in spiralförmigen Suchbewegungen, feministisch und globalsolidarisch fragend voran.

Ein Pluriversum vieler Welten

Einen Einblick in die Vielfalt einer Welt, in der viele Welten Platz haben, gibt das Buch „Pluriverse – A Post-Development Dictionary“ (Pluriversum – Ein Post-Development Lexikon). Mehr als 100 Autor*innen stellen vielfältige wirtschaftliche, sozialpolitische, kulturelle und ökologische Konzepte, Weltanschauungen und Praktiken aus aller Welt vor. Diese Post-Development-Ansätze zeigen Alternativen auf, die das Leben auf der Erde schützen und respektieren: Ein Pluriversum, das eine Vielzahl von Systemkritiken und Lebensweisen umfasst. Gewidmet ist das Buch all jenen, „die sich für das Pluriversum einsetzen, die sich gegen Ungerechtigkeit wehren und Wege für ein Leben in Harmonie mit der Natur suchen“. Ihre marxistische Analyse möchten die Herausgeber*innen „durch Perspektiven wie Feminismus und Ökologie sowie durch Vorstellungen aus dem globalen Süden, einschließlich Gandhianischer Ideale“ ergänzen.
Die englische Erstausgabe erschien 2019 in Indien und wurde bereits ins Französische, Italienische, Portugiesische und Spanische übersetzt, weitere Übersetzungen sollen folgen. Der Verlag AG SPAK (5) wird das Pluriversum-Buch noch in diesem Jahr auch für deutschsprachige Leser*innen zugänglich machen, online und als gedrucktes Buch. Die darin aufgeworfenen Fragen möchten wir breit diskutieren, gerne auch hier in der Graswurzelrevolution.

Damit das ca. 400-seitige Buch möglichst preiswert abgegeben werden kann, werden bis Ende Februar 2023 Spenden für die Druckkosten gesammelt, mehr dazu: www.netz-bb.de