Winter-Streaming zur Menschheitsgeschichte

| Jonathan Eibisch

Zugegeben, ich lasse mich gerne einmal beeindrucken. Tolle Landschaftsaufnahmen, die Perspektive von Drohnen-Kameras, theatralische Hintergrundmusik und spannende Cliffhanger erzeugen ein verführerisches Ambiente; neugieriges Infragestellen, verbunden mit einem mystisch angehauchten Faible für alternative Sichtweisen wecken mein Interesse. Sie befriedigen mein Bedürfnis, holistisch zu denken und mich verbunden mit einer großen Erzählung zu empfinden.
Dementsprechend war die achtteilige Netflix-Serie Untergegangenen Zivilisationen auf der Spur des Journalisten Graham Hancock eine unterhaltsame Beschäftigung für mich, um das neue Jahr langsam, aber gespannt anzugehen. Hancock hat mit der Kurzserie offensichtlich sein Lebensthema verfilmen lassen. Die ganze Erzählung dreht sich um die faszinierende Hypothese, dass es schon vor mehr als 10000 Jahren eine global verbreitete Zivilisation gegeben habe. Dies lässt sich nach derzeitigem archäologischen Forschungsergebnissen nicht belegen – was auch äußerst schwierig ist, aufgrund des Zahns der Zeit, welcher Zeugnisse zernagt. Daher lässt sich die Hypothese jedoch auch nicht plausibel widerlegen – weswegen es legitim ist, sie aufzustellen und damit einen wissenschaftlichen Anreiz zu schaffen. Im Folgenden schreibe ich ziemlich frei einige Gedanken herunter, die mir im Anschluss an die Serie gekommen sind.
Auch wenn mich die Serie bei meiner Neugier gepackt und gut unterhalten hat, nervte doch von Anfang an, Hancocks Inszenierung als ausgegrenztes Opfer der Wissenschaft, wobei er zugleich zugibt kein Wissenschaftler zu sein. Was will der Autor denn tatsächlich ausdrücken, außer sich vor dem monumentalen Hintergrund der Menschheitsgeschichte mit unbelegten und fragwürdig kombinierten Teilerkenntnissen einen Namen machen zu wollen? Hancock erschafft einen Mythos, der nicht deswegen gefährlich ist, weil er den Wissenschaftsbetrieb wirklich angreift, sondern, weil er einem Massenpublikum eher ein misstrauisches Gefühl und ein Denken in alternativen Fakten vermittelt. Ob zahlreiche Wissenschaftler*innen und auch Rezensent*innen konservativer Zeitungen, vehement Hancocks Darstellungen als falsch, post-faktisch, manipulativ brandmarken oder nicht: Der Mythos ist so oder so in die Köpfe und Herzen der Zuschauer*innen gepflanzt – und diese Vorgehensweise macht ihn so problematisch.
Hancock mag einen Hang zur Selbstdarstellung und pathologischen Selbstgewissheit in seine vermeintlich höheren Einsichten haben. Dass eine Serie auf diese Weise produziert wird, hat dann aber eher etwas mit der Kulturindustrie selbst zu tun, welche ja permanent Bilder in unsere Köpfe pflanzt, sei es von romantischen Beziehungen, gesellschaftlichem Status, politischen Konflikten oder was auch immer. Dass sich auch Rechtspopulist*innen dieser Mittel gezielt bedienen, ändert nichts daran, dass natürlich auch manche Linksliberale auf dem Feld der kulturellen Kämpfe agieren. Zu kritisieren ist also die kapitalistische Kulturindustrie als solche und nicht lediglich eine Serie, welche schnell als „unwissenschaftlich“ abgetan werden kann. Konservative Kritiker*innen sollten dann aber bspw. auch in ihrem Familienbild hinterfragt werden, welches sie als selbstverständlich ansehen. Marxistische Kritiker*innen wiederum täte eine Hinterfragung des nach wie vor vorhandenen teleologischen Geschichtsverständnisses und der Eindimensionalität zivilisatorischer Moderne gut.
Das Thema lässt sich abkürzen, indem wir einfach ein Jahr zurückspringen und noch einmal in David Wengrows und David Graebers faszinierendes Werk Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit (2022) schauen. Denn die beiden Autoren folgen einem ähnlichen Impuls wie die Netflix-Serie. Sie weisen nach, dass die Ur- und Frühgeschichte unbedingt einer Überprüfung bedarf. (Dafür stehen unter anderem die erst in jüngerer Zeit diskutierten Ausgrabungsstätten von Poverty Point oder Göbekli Tepe.) Dass diese bisher nicht in wünschenswertem Umfang geschah, ist dabei durchaus darin begründet, dass auch diese Wissenschaftsdisziplin – durch die Bewilligung der Mittelvergabe, Besetzung von Lehrstühlen und den Kanon des Grundstudiums – erstens ideologisch durch die Interessen herrschender Klassen geprägt und zweitens strukturell konservativ ist. Wengrow und Graeber weisen nach, dass es historisch weit früher als bisher angenommen „entwickelte“ Gemeinwesen (mit phasenweisem Ackerbau, Viehzucht, kulturellen und sozialen Entwicklungen) gegeben hat. Sie gelangen jedoch ebenfalls zur erstaunlichen Erkenntnis, dass diese häufig nicht sesshaft waren, ja der Sesshaftigkeit sogar teilweise aktiv aus dem Weg gingen.
Um zu beachtenswert ähnlichen kulturellen und technologischen Entwicklungen zu gelangen (insbesondere astronomischer Kenntnisse) bedarf es keineswegs der Abstammung von einer fiktiven unbekannten „Hochkultur“, deren Überlebende den „unzivilisierten“ Menschen Kultur und Technik bringen, sondern lediglich der kulturellen Adaption. Der Prozess der „Schismogenese“ führt parallel dazu, dass sich Gemeinschaften gerade dann voneinander kulturell abgrenzen, wenn sie nebeneinander leben, um einen imaginären Horizont für ihren sozialen Zusammenhang zu stiften. Wenngleich es durchaus möglich ist, dass Menschen schon früher als nachgewiesen werden kann und angenommen wird, weite Strecken über See gefahren sind, stützt dies keineswegs Hancocks Annahme, dass es während der letzten Eiszeit schon „Hochkultur“ gegeben haben muss, in welcher die Seefahrt Standard war.
Es fasziniert, dass es weltweit sehr ähnliche Mythen gibt. Insbesondere jene der apokalyptischen Überschwemmung, der ein Neuaufbau der Zivilisation folgt, welche durch fremde Kulturbringer initiiert wird. Und es ist ebenfalls plausibel anzunehmen, dass derartige Mythen nicht allein ihrem symbolischen Gehalt nach zu diskutieren sind, sondern den Kern eines wirklichen Ereignisses beinhalten, dessen Lehren in der historischen Flaschenpost mündlicher Überlieferungen weitergegeben werden. Um dies anzuerkennen, braucht es aber keine weltweite Apokalypse, die eine vorherige „Hochkultur“ vernichtete, sondern lediglich die Einsicht in den gemeinsamen Ursprung einer Menschheit. Diesen können wir annehmen, selbst wenn unterschiedliche Menschengattungen wie Neandertaler und Homo Sapiens sich vermischt haben (die wiederum beide von Homo Erectus abstammen).

Also, was sind die Lehren aus der Pseudo-Wissenschafts-Serie Untergegangenen Zivilisationen auf der Spur?

Erstens:

Ein einzelnes Filmteam dafür zu schelten, dass es die technischen und erzählerischen Mittel der Kulturindustrie nutzt, lenkt davon ab, wie dieser Betrieb insgesamt funktioniert. (Netflix hin oder her.) Er ist also solcher in seiner Profitlogik und ideologischen Funktion zu kritisieren.

Zweitens:

Pseudowissenschaftlichen Darstellungen und post-faktischen Zweifeln an etablierten Wissenschaften gilt es mit Vorsicht zu begegnen, da sie unterm Strich vorrangig Rechtspopulist*innen dienen, welche soziale Errungenschaften (ja, auch Demokratie) zugunsten stärker autoritärer Herrschaftsordnungen untergraben. Eine Skepsis ist umso stärker angebracht, je spektakulärer Erzählungen inszeniert und ausgeschmückt werden.

Drittens:

Hinter der Attraktivität von alten und neuen Mythen steht der Wunsch nach einer holistischen Weltsicht. Die meisten Menschen interessieren sich wenig für bloße wissenschaftliche Fakten (egal welcher Disziplinen), sondern für deren Anwendung. Die Anwendung der Archäologie und Geschichtswissenschaft besteht in Erkenntnissen über die eigene historisch-spezifische Situation, den variablen Möglichkeiten zu ihrer Gestaltbarkeit und damit auch dem individuellen und kollektiven Sinn der eigenen, vergänglichen Existenz. Die bloßen Erkenntnisse müssen daher mit bestimmten (offen gehaltenen) Interpretationsangeboten unterfüttert werden, was ebenfalls Aufgabe von Wissenschaftler*innen ist. Wo sie diese nicht, bzw. nicht ausreichend, vornehmen, kommt ein Hancock daher und fügt Puzzleteile zu einem Bild zusammen, das Laien aufgrund ihrer begrenzten Kapazitäten kaum selbst überprüfen können.

Viertens:

Auch Wissenschaftsdisziplinen wie die Archäologie und die Ur- und Frühgeschichte sind von den Interessen eines herrschenden Arrangements und von strukturellem Konservatismus geprägt. Das hat nichts mit Manipulation zu tun, sondern mit der Einsicht darin, wie Wissenschaftsbetriebe funktionieren. Insofern ist die Infragestellung dessen, wie Wissen produziert wird, was als anerkanntes Wissen gilt, wer anerkanntes Wissen produzieren kann und wessen Interessen welches Wissen dient, aus prinzipiellen Gründen legitim und wünschenswert.

Fünftens:

Wie das Buch von Wengrow und Graeber zeigt, ist eine Kritik an herkömmlichen 
wissenschaftlichen Standards auf wissenschaftlich fundierte Weise möglich und erstrebenswert. Archäolog*innen und Ge-schichtswissenschaftler*innen deuten Fundstücke der Vergangenheit zwangsläufig immer ihrer eigenen Bewusstseinsprägung nach. Wer z. B. wie selbstverständlich davon ausgeht, dass es immer patriarchale Gesellschaftsformen gegeben hat und dies als „natürlich“ annimmt, wird dafür in Stein gemeißelte Belege finden. Andere Belege werden dagegen ignoriert, relativiert oder ins vorherrschende Weltbild umgedeutet. Daher ist zu fragen: Warum und aus welcher Perspektive, mit welcher Motivation und mit welchen Methoden betreiben Menschen Wissenschaft? Und diese Standpunkte, Perspektiven, Motivationen und Methoden gilt es nachvollziehbar offen zu legen und diskutierbar zu machen. Genau dies tun z.B. Wengrow und Graeber im besten anarchistischen Sinne. Dem verweigert sich Hancock auf problematische Weise zugunsten seines Egos und des spektakulären Mythos.