Betriebsarbeit und Anarchosyndikalismus

Jule Ehms’ verdienstvolle Dissertation zur gewerkschaftlichen Praxis der Freien Arbeiter-Union Deutschlands

| Dieter Nelles

Jule Ehms: Revolutionärer Syndikalismus in der Praxis. Die Betriebsarbeit der Freien Arbeiter-Union Deutschlands von 1918 bis 1933, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2023, 372 Seiten, 40 Euro, ISBN 978-3-89691-077-6

In einem heute noch bemerkenswerten Aufsatz „Unsere Staatsauffassung“ schrieb der 1942 im Alter von 38 Jahren im Konzentrationslager Sachsenhausen verstorbene Anarchosyndikalist Gerhard Wartenberg, die Staatsauffassung des Anarchosyndikalismus sei in einer Zeit „absolutistischer und halbabsolutistischer Staaten“ entwickelt worden. Damals hätte man einfach vom Staat sprechen können, heute müsse man aber „den Polizeistaat (faschistischen Staat) vom ‚sozialen‘ Staat unterscheiden“. Der Staat sei „in die Gesellschaft hineingewachsen“, habe „sozial notwendige Funktionen übernommen“ (…), „deren Nichterfüllung Desorganisation, Hunger zu Folge haben würde“.    Die mangelnde Berücksichtigung „dieses Problems durch den Anarchosyndikalismus“ sei „einer der Gründe, warum unsere absolut staatsfeindliche Bewegung in industriellen, fortgeschrittenen Ländern wie Frankreich, Deutschland und Italien so wenig Fortschritte“ mache.
Die Arbeit von Jule Ehms, die in dem Promotionskolleg „Geschichte linker Politik in Deutschland jenseits von Sozialdemokratie und Parteikommunismus“ verfasst wurde, knüpft an die Problemstellung Wartenbergs an. Sie untersucht am Beispiel der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD), wie „sich eine revolutionäre Praxis im Rahmen von korporativ geprägten Arbeitsbeziehungen erfolgversprechend umsetzen lässt“ (S. 9f.). Ihr Anspruch ist es, die Organisations- und Ideengeschichte der FAUD mit ihrer Praxis im Betrieb zu verknüpfen. Im Zentrum der Arbeit stehen „die an ihrem Arbeitsplatz aktiven Syndikalist:innen“ (S. 18). Jule Ehms rekonstruiert die Betriebspraxis der FAUD auf Basis einer „ausführlichen Zeitungsexegese“ der syndikalistischen Presse und Kongressprotokolle (S. 24).
Nach einer ausführlichen Einleitung skizziert sie im zweiten Kapitel die industriellen Beziehungen in der Weimarer Republik. Das staatliche Schlichtungssystem, das Tarif- und Betriebsrätegesetz wurden von den radikalen Gewerkschaften wie der FAUD nicht als gewerkschaftliche Errungenschaft gefeiert, sondern widersprachen fundamental deren Prinzipien der Ablehnung des Staates, dem Föderalismus und der Direkten Aktion. Im dritten Kapitel rekonstruiert sie aus organisationsgeschichtlicher Perspektive die Geschichte der FAUD bis 1933. Dem folgt ein Kapitel über das syndikalistische Gewerkschaftsverständnis, wie sich dies in der FAUD organisatorisch auswirkte und welche Agitation sie betrieb, um neue Mitglieder zu gewinnen.
Im fünften Kapitel untersucht sie das Arbeitskampfverhalten der FAUD: die Umsetzung des Konzepts der Direkten Aktion und die Streikpraxis der FAUD. Die Direkte Aktion blieb „ein nur sehr selten angewandtes Mittel“, die Quellen ließen „einen gegenteiligen Schluss nicht zu“ (S. 156). Hinsichtlich der Streikpraxis der FAUD unternimmt    sie erstmals den Versuch, die Zahl der Arbeitskämpfe zu rekonstruieren, in denen die FAUD involviert war. 400 Arbeitskämpfe, 60 davon waren Aussperrungen, kann sie belegen, die „tatsächliche Zahl“ sei „allerdings um einiges höher gewesen“ (S. 169). Sie stellt vier Arbeitskämpfe, an denen die FAUD maßgeblich beteiligt    war, ausführlicher dar, den „offensiven Großstreik“ der Hamborner BergarbeiterInnen im Winter 1918/19, den „offensiven Kleinstreik“ der Berliner KistenmacherInnen 1925 in Berlin, den Streik der Krefelder TextilarbeiterInnen 1927 und den Streik der Düsseldorfer Fliesenleger 1932. Den Abschluss des Kapitels bildet eine systematische Auswertung der Arbeitskampfpraxis und der Bündnisarbeit der FAUD.
„Im Streikverhalten der FAUD“, so Ehms, zeigte sich „ihre generelle Konfliktbereitschaft“, die aber entgegen der eigenen Rhetorik nicht per se zu betrieblicher Militanz“ neigten, sondern „realpolitische Grenzen“ ernst nahmen und „ihre Betriebspolitik“ von „pragmatischen Überlegungen“ leiten ließen (S. 239).
Im sechsten Kapitel analysiert Ehms die Auseinandersetzung der FAUD mit dem Betriebsrats-, Tarif- und Schlichtungswesen. Die Teilnahme an den gesetzlichen Betriebsräten war von Beginn an ein kontroverses Thema in der FAUD und wurde auf vielen Kongressen sehr kontrovers diskutiert. Ehms analysiert diese Debatten und die Praxis der syndikalistischen Betriebsräte, für die es aber nur wenige Quellen gibt, da sie „auf den Konferenzen oder in den Publikationsorganen nicht ausgewertet und auch nur selten darüber berichtet“ wurde (S. 269). Aus pragmatischen Gründen arrangierte sich die FAUD auch mit den Tarifwesen, das sie ebenfalls ablehnte, aber zu Kompromissen gezwungen wurde, als ihr 1930 vom Reichsarbeitsgericht der Status als wirtschaftliche Vereinigung aberkannt wurde, da sie die „Bindung an die Tarifverträge“ grundsätzlich ablehne (S. 282). Dieses Urteil war „von erheblicher politischer Bedeutung“, da damit u.a. auch die Vertretung der Mitglieder vor Arbeitsgerichten verbunden war.
Hinsichtlich des Umgangs mit der Arbeitsgesetzgebung der Weimarer Republik falle „einerseits die Uneinigkeit in der FAUD“ wie damit verfahren werden sollte auf und „andererseits die Anpassungsfähig- und Bereitwilligkeit, mit diesen in der Praxis zu experimentieren“ (S. 316). Positiv hebt Ehms hervor, dass es die FAUD verstanden habe, „unterschiedliche Positionen in ihren Organisationen zuzulassen“, negativ, dass sie ihre „ihre betriebspolitischen Anstrengungen nicht systematisch ausgewertet“ habe. Das habe nicht nur ihr zum Nachteil gereicht, sondern wären „erwägenswerte Beispiele einer offensiven, doch tagespolitisch inspirierten Gewerkschaftspraxis gewesen“ (S. 316).
In ausführlichen „Schlussüberlegungen“ fasst sie die Ergebnisse ihrer Arbeit zusammen und diskutiert ihre Bedeutung für die Gewerkschaftsforschung. Erstens bestätigte die Geschichte der FAUD den Zusammenhang „zwischen einer konfliktorientierten Praxis und basisnahen Organisationsstrukturen“ (S. 326). Zweitens hätte die Verweigerung „sozialpartnerschaftlicher Integration“ im Unterschied zu den freien Gewerkschaften „kontinuierlich Handlungsalternativen einfordern“ können (S. 329); dies hätte aber nicht dazu geführt, „sich als Massengewerkschaft langfristig zu etablieren“ (S. 329). Und drittens habe die FAUD nicht nur als Konkurrenz, sondern auch als ein unwillkommenes „Korrektiv zu den übrigen Gewerkschaften“ fungiert (S. 330). Ehms hebt hervor, dass „die Möglichkeiten und nicht nur die Grenzen des emanzipatorischen Ansatzes“ der FAUD diskutiert werden müssten (S. 332), die keineswegs als überholt abgekanzelt werden sollten, sondern auch „in aktuellen gewerkschaftlichen Debatten“ eine Rolle spielten (S. 333).

Fazit

Jule Ehms hat eine differenzierte und strukturierte Dissertation vorgelegt, deren Verdienst es ist, die gewerkschaftliche Praxis der FAUD in die Geschichte der Arbeitsbeziehungen der Weimarer Republik und die aktuelle Gewerkschaftsforschung integriert zu haben, was bislang nur partiell der Fall war.
Ihr Werk zeigt aber gleichzeitig auch die Grenzen einer organisations- und ideengeschichtlichen Perspektive. Zwar thematisiert sie auch die außerbetriebliche Praxis der FAUD, aber diese hatte spätestens seit der beginnenden Massenarbeitslosigkeit 1930 einen höheren Stellenwert als die betriebliche Praxis. Es ist kein Zufall, dass die FAUD nur in den Berufsgruppen einen gewerkschaftlichen Charakter behielt, wo sie auf eine lange Tradition zurückblicken konnte, wie bei den Düsseldorfer Fliesenlegern oder den Krefelder TextilarbeiterInnen, die schon vor dem Ersten Weltkrieg syndikalistisch organisiert waren. Die Arbeit enthält nur wenige biographische Informationen. Aber diese waren gerade in einer kleinen Organisation wie der FAUD von herausragender Bedeutung. Die FAUD blieb im Unterschied zu den anderen linksradikalen Unionen bis 1933 trotz der großen Mitgliederverluste stabil. Das hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass sie in vielen Orten über fähige Funktionäre verfügte, wie zum Beispiel über Carl Windhoff bei den Fliesenlegern oder Fritz Linow bei den Berliner Kistenmachern. Sie waren in ihren Berufsgruppen und der lokalen Arbeiterbewegung verankert und geachtet. Mit Rudolf Rocker hatten sie zudem eine unangefochtene Integrationsfigur des internationalen Anarchosyndikalismus in ihren Reihen.

Mehr zum Thema