Das Meer mit dem Löffel ausschöpfen

Eva Demskis undogmatischer Blick und ihre Empathie für die Idee des Anarchismus

| Jochen Knoblauch

Eva Demski, Mein anarchistisches Album. Mit Fotos von Ute Dietz, Insel Verlag, Berlin 2022, 220 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-458-17843-9

Im Gegensatz zu so manchem guten und wertvollen Buch aus der anarchistischen Verlagsszene liegt dieses hier in vielen Schaufenstern bürgerlicher Buchhandlungen. Und die Szene raunt sich gegenseitig zu: Hast Du schon das Buch „Mein anarchistisches Album“ von Eva Demski gelesen? Ich habe es gelesen – und finde es wunderbar.
Die Schriftstellerin und Übersetzerin Eva Demski gehört zur Generation der westdeutschen 68er, sie ist Autorin von zahlreichen Romanen, von Garten-, Katzen-, Städte- und Reisebüchern. Die anarchistische Szene verdankt ihr z.B. eines der frühen, auflagenstarken Taschenbücher aus dem Suhrkamp Verlag, welches von ihr und Hans H. Hildebrandt 1967 übersetzt wurde und nicht nur dem historischen und theoretischen Nachholbedarf des Neo-Anarchismus geschuldet war: „Daniel Guerin, Anarchismus. Begriff und Praxis“. Und um einen programmatischen Kreis zu schließen: 2017 erschienen von ihr Erinnerungen mit dem Titel: „Den Koffer trage ich selber“.
Dies sei hier auch erwähnt, weil sie auf Seite 20 die „Hochnäsigkeit“ der 68er kritisiert, aber ohne, dass sie selbst wie so viele andere ihrer Generation „auf dem langen Marsch durch die Institutionen“ zu Verräter*innen an der Sache wurden, oder eben nur noch frustriert rumjammerten. Eva Demski hat sich einen undogmatischen Blick und eine tiefe Empathie für die Idee des Anarchismus erhalten und so ist in erster Linie das Buch auch zu verstehen.
Aber auch in anarchistischen Kreisen ist eine zunehmende akademische Arroganz erkennbar, wenn etwa Daniel Loick in seinem Buch „Anarchismus zur Einführung“ aus dem Junius Verlag Hamburg (2017), in der Literaturliste das Buch „Anarchie“ von Horst Stowasser (Edition Nautilus, Hamburg 2007) kommentiert: „…zum Teil etwas arg salopp geschrieben“. Und so ist das Naserümpfen aus dieser Ecke bereits im Vorfeld nicht zu überhören: Zitate ohne (korrekten) Quellennachweis, Thema zu oberflächlich abgehandelt, nicht eine Anmerkung (!), usw., usw. Die Puristen werden hier nicht auf ihre Kosten kommen und sollten die Finger davon lassen.

Zum Inhalt des Buches:

Wie der Titel schon sagt, werden hier Erinnerungen an Lektüren, an Personen und Ereignisse versammelt. Dabei geht es aber nicht um spezielle Theorien oder intellektuelle Leistungen, sondern eher darum, eine menschliche Seite spotartig zu beleuchten. Emma Goldman, Boxcar Bertha, Bakunin, Kropotkin, die Uhrmacher*innen im Jura, Punk in Kreuzberg (und andere Außenseiter*innen), Banksy, Münchner Räterepublik, „sonderbare“ Anarchen usw.
In ihrer Unbekümmertheit, mit der sie die Texte schreibt, blitzen immer wieder Gedanken auf, die wohl sonst kaum beachtet wurden. Die Anarchistinnen werden zu Geburtshelferinnen ihrer eigenen feministischen Vorstellungen. Oder: „Diese furchtbaren Bärte! Sie haben etwas so Gleichmacherisches, Bakunin sieht aus wie Marx, wie Landauer, wie Kropotkin (…), immer diese haarigen Masken, hinter denen jene unsichtbar sind, die man doch so gerne gekannt hätte.“ (S. 103).
In den Memoiren Kropotkins fehlt ihr die Liebesgeschichte. Kropotkin liebte die Wissenschaft, die Menschen anscheinend weniger, doch irgendwann „taucht“ in den Memoiren auch eine Frau auf, Kropotkins Frau Sophie, die ihrem Mann nach Clairvaux folgt, wo er im Zentralgefängnis einsitzt – eine „Randerscheinung“.
Befremdlich für unsereins ist sicherlich das Kapitel „Gott und Gossip“, in dem sie drei Personen vorstellt: Karl Lagerfeld, Marcel Reich-Ranicki und Udo Lindenberg, die sie als „Anarchen“ bezeichnet mit dem Anspruch „Ernst Jünger den Begriff erst einmal entschlossen“ wegzunehmen. Für Demski sind das drei unkonventionelle Menschen, die gegen jede gesellschaftliche Norm ihre Grundsätze leben – o.k., darüber ließe sich sicherlich streiten, aber auch Anarchist*innen kennen Menschen, die sich selbst nie als Anarchist*innen bezeichnen würden, aber trotzdem deren höchsten Respekt genießen.
Im interessanten Kapitel „Das echte Schwarz“ geht es u.a. um die Münchener Räterepublick. Demski schreibt: „Man muss einen Blick auf die Männer werfen, die als Protagonisten dieses einzigartigen Versuchs gelten. Eine kleine Gedankengasse tut sich auf – was, wenn Frauen dabei gewesen wäre(n)? (…) Und gerade bei den Anarchisten fanden sich die unterschiedlichsten Frauen, von der freiheitssüchtigen, etwas verrückten Franziska zu Reventlow über die wunderbare, bodenständige Zenzl Mühsam bis hin zur klugen Hedwig Lachmann.“ (S. 186)
Leider verfolgt Demski diesen Gedanken nicht weiter.
Demski hat das Buch mit sehr viel Empathie geschrieben und sehr wohl erkannt, dass es hier um einen Kampf um Freiheit und soziale Gerechtigkeit geht, der kaum endet und immer wieder neu aufgenommen werden muß. „Anarchisten wussten zu allen Zeiten, dass sie versuchen, mit einem Löffel ein Meer auszuschöpfen. Sie tun es trotzdem.“ (S. 57). Nicht die große Revolution erhofft sie sich, aber viele kleine, die dazu dienen, die Gesellschaft zu verändern und besser zu machen.
Für wen ich nun das Buch empfehlen würde? Auf alle Fälle für jene Bekannte und Verwandte, die uns als Anarchist*innen immer etwas mitleidig belächeln. Die sollten, soweit sie einen Funken an Liberalität und Offenheit besitzen, dieses Buch lesen. Vielleicht sind sie danach bereit, sich näher mit dem einen oder anderen Thema zu beschäftigen. Dies scheint mir dann wertvoller zu sein als die x-te akademische Abhandlung mit vielen Fußnoten und sicheren Quellennachweisen.