Für Kinder ungeeignet!

„Über Könige“ von Marshall Sahlins und David Graeber

| R@lf G. Landmesser, LPA Berlin

Marshall Sahlin, David Graeber: Über Könige. Versuche einer Archäologie der Souveränität, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022, 160 Seiten. 24 Euro, ISBN 978-3-8031-5193-3

Wenn es jemals ein Buch gegeben hat, irgendwelche Kinderphantasien über Könige und Prinzessinnen zu relativieren, ja gründlich zu zerstören, dann dieses. Ganz ausdrücklich wäre sogar ein Aufdruck zu empfehlen: „Für Kinder ungeeignet!“. Es geht ja hier auch nicht um Märchenhaftes, sondern um den Begriff der „Souveränität“ in dem Sinne, dass der Souverän keine menschgemachten Gesetze und Regeln respektieren muss und seiner Willkür freien Lauf lassen darf – „in der einfachsten Bedeutung […], die Macht Befehle zu erteilen“. (Graeber). Damit sind leider drastische Tatsachen-Schilderungen verbunden. Für Kinder und Zartbesaitete also absolut nicht geeignet. Sowieso ist das Buch ein akademisch adressiertes – keine leichte Kost für nebenbei.
Wer sich demgegenüber allerdings gewappnet fühlt, wird aus diesem Buch mit großem Anmerkungsapparat und noch größerem Literaturverzeichnis eine Vielzahl von Erkenntnissen gewinnen, die Leser*innen jedoch einiges abverlangen. Mensch könnte eine Reihe von liebgewonnenen Illusionen über die Menschheit im speziellen und im allgemeinen verlieren. Denn wer daran glaubt, dass alle Menschen aus ungefähr dem gleichem Holz geschnitzt sind, wird sich nicht wohlfeil vom belegten Dargebotenen distanzieren können.
Letztendlich geht es um die Herkunft des Staates bzw. sozialer Organisationen, die zu ihm hinführen. Sahlins, Professor und Doktorvater Graebers, führt erfolgreich den Nachweis, dass sich alles vom Kultisch-Göttlichen herleitet und die Legitimation des Souveräns immer von „höherer Warte“ hergeholt wird, bzw. gar mit seiner eigenen Göttlichkeit oder einer göttlichen Abkunft legitimiert wird.
An einer Vielzahl völkerkundlicher Beispiele weisen Sahlins und Graeber nach, dass die Existenz eines Souveräns immer auch die Existenz einer eingrenzenden Strategie der Beherrschten nach sich zieht – Graeber nennt dies den „konstitutiven Krieg zwischen König und Volk“ – die durchaus in einer Umkehr von Macht münden kann. Nicht selten kostet sie des Königs Kopf, gelegentlich mitsamt seines Gefolges und seiner Familie. Auf der anderen Seite ist bei diversen Völkerschaften aber auch der königliche Exzess erlaubt, der ihn als gottgleiches Wesen willentlich und sichtbar über die gewöhnlichen Sterblichen erheben soll und ihm z.B. unmotivierten Mord, Massenmenschenopfer, Sklaverei und Vergewaltigung, Raub, Landraub usw. freistellt. Was nicht heißt, dass er selbst friedlich im Bett sterben wird. Gelegentlich wird sogar eine feste Amtszeit festgelegt, nach der unweigerlich die rituelle Tötung des Königs folgt und der nächste unter den gleichen Bedingungen inthronisiert wird. Selten gelingt es Königen aus ihrem rituellen Gatter auszubrechen und eigene absolute Macht zu erlangen. So sind häufig Königtum und die Position des Heerführers getrennt, so dass der König keine reale militärische Macht hat.
Dabei ergibt sich ein Muster von Verhaltensweisen und Codierungen, die auf allen Kontinenten und bei verschiedensten Völkerschaften mit König historisch beobachtet werden kann. Eine Hauptrolle dabei spielen Mythen, Schöpfungsmythen, Heldengeschichten, Abstammungen / Ahnenkulte, angedichtete Fähigkeiten und Manifestierungen von Macht in Architekturwundern in Form von Städten, Palästen und Totenburgen. Immer wieder sehen wir „Fremdenkönige“, die durch Eroberung oder Einheirat in andere ethnische Einheiten assimiliert werden und dort Dynastien bilden, die sich permanent erneut legitimieren müssen.
Besonders interessant ist jedoch der per Beweis herbeigeführte Schluss, dass selbst Völkerschaften, die bisher anthropologisch als egalitär angesehen wurden, unter der impliziten Herrschaft von (Ahnen)Geistern, Dämonen und Göttern leben, die für sie selbst völlig real sind. Sahlins und Graeber nennen dies die „kosmologische Staatsordnung“. Im Gegensatz zur bisherigen nichtanerkennenden anthropologischen Praxis wird postuliert, dass diese Geisterwelten als absolut reale Herrschaftspersonen oder -konglomerate anerkannt werden müssen, um die Lebenswelten dieser Menschen zu verstehen. Sie bestimmen das Leben der darin Eingebundenen bis ins Kleinste und Persönlichste. Selbst wenn also untereinander im sichtbaren Sozialleben eine Abwesenheit von Staat und Hierarchien attestiert werden kann, sind diese Menschen Unterworfene. Sie leben unter Einschränkungen durch zig Tabus und in ständiger Furcht vor der Geisterwelt der „Überpersonen“, die absolute und willkürliche Macht über sie hat. Und gerade aus diesen Götter-Geisterwelten leitet sich in anderen sozialen Organisationen die uneingegrenzte Gewalt und Macht von Souveränen her – von alten Königs-, Kaiser- und Fürstentümern bis in die unterbewussten Grundlagen moderner Staaten, deren Gewaltmonopol sich aus „dem Volk“ legitimiert. Doch eben dieses hat die Souveränität durch Gewalt in Revolutionen und Umstürzen errungen und delegiert. Auch diese so legitimierten Staaten bedienen sich häufig der ungerechtfertigten Souveränität, also der Willkür.
Erkenntnistheoretisch haben wir hier also ein wichtiges, leider posthumes Buch von Sahlins und Graeber zur Hand, das gut belegte Thesen aufstellt und zum Weiterdenken und -diskutieren auffordert.