Max Nettlaus „Anarchisten und Sozialrevolutionäre“

| Maurice Schuhmann

Max Nettlau: Anarchisten und Sozialrevolutionäre. Die historische Entwicklung in den Jahren 1880–1886, herausgegeben von Jochen Schmück, Libertad Verlag, Potsdam 2022, 496 Seiten, 58,00 Euro,ISBN 978-3-922226-31-4

Die 1880er Jahre waren in Bezug auf den internationalen Anarchismus durch die Entstehung und Entwicklung des kommunistischen Anarchismus geprägt, verbunden mit Namen wie Peter Kropotkin, Errico Malatesta, Paul Brousse oder Carlo Cafiero. Ideengeschichtlich löste dieser sowohl den von Pierre-Joseph Proudhon theoretisierten Mutualismus als auch den von Michael Bakunin geprägten Kollektivismus ab – und bildet bis heute für Strömungen wie den Anarcho-Syndikalismus oder den Anarchafeminismus eine wichtige philosophische Basis. In Bezug auf den deutschsprachigen Raum ist in jener Epoche vor allem der Name Eugen Dühring, gegen den Friedrich Engels seine bekannte Polemik verfasste, oder der einstige Sozialdemokrat Johann Most von Bedeutung. In jene Zeit fällt u.a. aber auch das Schreiben des englischen Utopisten William Morris („News from nowhere“), die Formierung des organisierten Anarchismus in Spanien, die Gründung des bis heute bestehenden Londoner Freedom Bookshops, aber auch die Rückkehr der Kommunardin Louise Michel aus der Verbannung in Neukaledonien.

Wer könnte jene historische Entwicklung besser nachzeichnen als Max Nettlau (1865–1944), der „Herodot der Anarchie“? Wie kein Zweiter hatte er Zugriff auf eine Vielzahl von gedruckten Quellen und führte eine ausführliche Korrespondenz mit prägenden Köpfen der anarchistischen Bewegung, was ihm intime Einblicke in die internationale Szene gewährte. Dabei kam ihm sein Sprachtalent zu Gute, was ihm erlaubte, in unterschiedlichen Sprachen zu lesen und zu kommunizieren. Zudem ist es auch die Epoche, in der Nettlau selber mit der Bewegung in Berührung kam – damals noch aktiv in der sozialistischen Bewegung.

Gut 90 Jahre nach der Erstveröffentlichung des 3. Bandes der Geschichte der Anarchie – „Anarchisten und Sozialrevolutionäre. Die historische Entwicklung“ – im ASY-Verlag der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) ist der Band in einer Neuauflage als Teil der kritischen Studienausgabe im Libertad Verlag erschienen. Es war der letzte Band, der noch zu Lebzeiten Max Nettlaus erschien. Neben dem korrigierten Text an sich gibt es als Anhang das von Nettlau selber verfasste Resümee des Werks, welches vorab in der anarchistischen Zeitschrift „Die Internationale“ im Jahr 1930 erschien, ein Vorwort des Herausgebers Jochen Schmück sowie ein Register der erwähnten Personen und Periodika. Ergänzend zur Printausgabe gibt es eine Onlineversion – mit zusätzlichen Funktionen für registrierte Nutzer:innen. Die vorliegende Ausgabe weist diesbezüglich einige Verbesserungen gegenüber dem von Heiner M. Becker bearbeiteten und in den 1990er Jahren in der Bibliothek Thélème herausgegebenen Nachdruck der Originalausgabe auf.

Max Nettlaus „Geschichte der Anarchie“ ist nach wie vor das umfangreichste Werk über die (internationale) anarchistische Bewegung – partiell auch mit dem Blick über den euro-amerikanischen Tellerrand hinaus – z.B. mit Verweisen auf anarchistische Bestrebungen in Ägypten. Es bietet bis heute viele Anknüpfungspunkte für die Anarchismusforschung. Als Vertreter eines „Anarchismus ohne Adjektive“ ist seine Geschichte strömungsübergreifend ausgerichtet.

Der vierte Band der Reihe – „Die erste Blütezeit der Anarchie: 1886–1894“ – befindet sich derzeit in Arbeit.

https://www.geschichte-der-anarchie.de