Psychiatrie, Ehe, Moral, Todesstrafe

Ein exemplarisches Buch über das Frauenleben im Vormärz

| Gerald Grüneklee

Angelika Ebbinghaus: Der Fall Anna S. – Vier Stimmen. Schrenk Verlag, Röttenbach 2022, 176 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-910284-54-8

Es war ein folgenreicher Ausflug in das Stadtmuseum des unterfränkischen Städtchens Karlstadt, in der Nähe von Würzburg gelegen. Denn hier begegnet Angelika Ebbinghaus dem Porträt von Anna S., mit vollständigem Namen Anna Barbara Schäfer, einer jungen, aus Karlstadt stammenden Frau.
Anna S. kam im April 1832 als Magd nach Würzburg, in den Haushalt des verheirateten Spenglermeisters Georg Meck, eines Handwerkers, der in der Zeit des Vormärz demokratisch gesonnen und auf Versammlungen wie dem „Gaibacher Fest“ war. Mecks Frau Margareta war, wie es seinerzeit hieß, „gemütskrank“, und in längerer Behandlung im Würzburger Juliusspital, einem im 16. Jahrhundert für „allerhand Sorten Arme, Kranke, unvermugliche, auch schadhafte Leut“ gegründeten und bis heute bestehenden Krankenhaus. Die „Geisteskrankenabteilung“ des Hauses war damals, zu einer Zeit, als „Irre“ zumeist schlicht weggesperrt und angekettet, wenn nicht zur Schau gestellt wurden (oder gar beides zugleich), vergleichsweise modern (in der Chronik auf der Homepage des Krankenhauses klaffen augenfällige Lücken sowohl im 19. Jahrhundert wie in der NS-Zeit). Nun gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, was geschah: Anna und Georg verlieben sich während Margaretas Zeit in der Psychiatrie und beginnen ein Verhältnis. Dieses endet, wenigstens scheinbar, mit der unehrenhaften Ausweisung Annas aus der Stadt, als diese schwanger wird. Dennoch macht sich Anna Hoffnungen, zu guter Letzt doch noch Georgs Ehefrau zu werden, muss allerdings erfahren, dass Margareta nun nach ihr ebenfalls schwanger wurde. Am 27. Februar 1834 begibt Anna sich in die Meck´sche Wohnung, wo Margareta sich zu dieser Zeit alleine aufhält und ersticht diese. Anna wird bald verhaftet, wegen Doppelmordes an der Schwangeren zur „verschärften Todesstrafe“ verurteilt – diese besteht in einer zusätzlichen Zurschaustellung im Pranger vor der Hinrichtung, die ihr dann allerdings von König Ludwig I. erlassen wird – und am 17. Januar 1835 unter den Blicken einer enormen Menschenmenge hingerichtet.
So weit die eher dünnen Fakten, die bislang noch nicht umfassend aufgearbeitet, in Buchform gar, ihren Niederschlag gefunden hatten. Angelika Ebbinghaus nimmt sich diesem historischen Stoff nun in literarischer Form an – literarisch einerseits insofern, als dass Ebbinghaus, eine ausgebildete Psychologin und Historikerin, hier ohne Quellennachweise arbeitet. Literarisch aber vor allem auch in der Form, mit der sie hier nacheinander fiktionalisiert – doch nahe am Möglichen – Margaretas, Annas und Georgs Empfindungen und Gedanken nachzeichnet. Schließlich bringt sie – richtig, es sind ja vier Stimmen – auch sich selbst noch in einer Art Zeitschleife (sie nennt es „posthumen Besuch“) ins Spiel, im Gespräch mit dem Juristen Franz Vogt, einem damaligen Gegner der Todesstrafe.
Angelika Ebbinghaus schritt in ihren bisherigen Veröffentlichungen rund um die Medizin-, Frauen- und Sozialgeschichte das Terrain ab, in dem sich „Der Fall Anna S.“ abspielt. Das kommt diesem Buch zugute. So kann die Historikerin kritische Quellenkunde betreiben, Material sichten, abwägen und mögliche Fakten herausschälen. Sie hat hier ein exemplarisches Stück Geschichte aufgetan, in dem sich ihre bisherigen Forschungsarbeiten durchkreuzen, so der Psychiatrie- und Justizgeschichte: Was waren das für Verhältnisse, unter denen die Frauen damals lebten? Ist Anna S. tatsächlich die (alleinige) Täterin? Wurde sie angestiftet zum Töten? Handelte sie geplant oder im Affekt? Ist sie ein Opfer der Verhältnisse, die eine unehelich Schwangere ins gesellschaftliche Abseits stellten? Gibt es eine Rechtfertigung für die physische Vernichtung – praktisch eine legale Ermordung – einer Mörderin?
Die Fragen zum Tatverlauf bleiben offen. Dennoch haben wir hier ein lesbares Buch vor uns, das Lebensgeschichten lebendig macht, die sich in ähnlicher Weise einst durchaus häufiger abspielten, wodurch „Der Fall Anna S.“ zum zeitgeschichtlichen Lehrstück wird. Es ist ein Buch, das nachdenklich macht über die Menschen in ihrer Zeit, über Handlungsweisen, die gewaltförmigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entspringen, und die zu gewaltvollen Konsequenzen führen. Es ist nicht einfach, hier zu richten, und Angelika Ebbinghaus ist klug genug, das nicht zu tun. Wohl aber ist dieses Buch ein Plädoyer gegen die in vielen Weltregionen noch immer ausgeübte Todesstrafe. Diese „Strafe“ – ein Ausweis des Rachegedankens -, so skandalös sie auch ist: Angelika Ebbinghaus hat ein Buch der stillen Töne verfasst, was das Geschehen umso eindringlicher wirken lässt. Ihre Sätze sind präzise, die Sprache ist nicht gestelzt. Deutlich wird das Bemühen, Margareta, Anna und Georg verstehen zu wollen – alle drei hatten, dies macht Ebbinghaus deutlich, in ihrer Zeit nur sehr begrenzte Optionen. Ebbinghaus’ wissenschaftliche Arbeiten sind durch die Bank empfehlenswert. Mit diesem Buch hat die Autorin bewiesen, dass sie eine Meisterin auch der literarischen – sich dabei dicht an der realen Geschichte, am realen Leben orientierenden – Form ist.