„Wir waren keine ‚Avantgarde‘“

Einen Resonanzraum schaffen, in dem Gegenwart und Vergangenheit sich verschränken. Ein Interview mit Hanna Mittelstädt zu „Arbeitet nie!“

| Interview: Andreas Gautsch

Mit ihrem Buch Arbeitet nie! hat Hanna Mittelstädt nicht nur eine Verlagsgeschichte zur Edition Nautilus vorgelegt, sondern sie erzählt auch ihre Suche nach anderen Lebenswegen (1). Andreas Gautsch vom Institut für Anarchismusforschung, hat mit der Autorin für die GWR ein geschriebenes Live-Gespräch geführt.

Andreas Gautsch: Du hast in den letzten Jahren intensiv am Buch zur Verlagsgeschichte von Edition Nautilus gearbeitet. Seit März kann man das Ergebnis in Händen halten. Zunächst: Wie sind die ersten Reaktionen?

Hanna Mittelstädt: Ich hatte zwei große Buchvorstellungen in Hamburg und zwei Führungen in einer kleinen Ausstellung mit den „Drucksachen der frühen Jahre“ in einer Independent-Galerie. Ich bin gerührt und positiv überrascht über das Interesse von allen möglichen Leuten, eher in meinem Alter, aber auch ganz jungen, denen aus der Kunstszene oder dem politischen Milieu. Die ersten Reaktionen sind für mich sehr angenehm.

Am Beginn der Geschichte der Edition Nautilus stehen neben dir Lutz Schulenburg und Pierre Gallissaires. Nachdem Pierre ausgestiegen ist, haben Lutz und du den Verlag über viele Jahrzehnte weiter geführt. Die Zusammenarbeit und Freundschaft mit Pierre blieb bis zu seinem Tod bestehen. Du zeigst im Buch, dass man ein anderes Leben nicht alleine (er)findet, sondern dass es dazu Freund:innen braucht, Genoss:innen und Unterstützer:innen.

Es war für uns drei von Anfang an und bis zuletzt klar, dass niemand von uns etwas in der Art des Verlags „allein“ machen kann. Wir haben vom ersten Moment an gespürt, wie sehr wir uns ergänzen und bereichern. Wir haben zu dritt begonnen und sofort einen größeren engen Kreis um uns gehabt, der unser Diskussionsrahmen, kollektives Spielfeld und „Korrektiv“ war. Das waren zunächst die „Subrealisten“ mit der Herausgabe der Zeitschrift „Revolte“ und später ein Kreis von Freunden, denen die Publikationen des Verlags wichtig waren, die eigene Projekte mitbrachten, Ideen, Unterstützung jeder Art, oder die mit uns diskutieren wollten. Die engeren Freundschaften waren solche Bindungen, die alle Beteiligten bereicherten, egal, ob man sich stritt oder liebte, es bildete sich so ein Gewebe, das den Beteiligten wertvoll war.

Für mich gibt es in dem Buch irrsinnig viel zu entdecken. Eine Entdeckung war zu erfahren, wie nah die Subrealisten der Edition Nautilus standen. Ich las die Bücher Ende der 1990er Jahren und war total fasziniert und fand darin viel Inspiration. Du erzählst auch von euren Entdeckungen, wie die Situationistische Internationale (SI). Wie war es für dich, als du die ersten Texte der SI in die Hand bekommen hast?

Mich freut es zu hören, dass du die subrealistischen Texte noch in den 90ern inspirativ fandest. Ich kann heute noch voll und ganz zu unserer graphischen Gestaltung stehen, die ja für damalige Verhältnisse schon sehr weit entwickelt war, souverän, auch irgendwie elegant, mutig, die „linke“ oder „alternative“ Ästhetik hinter sich lassend … die Texte selbst finde ich jetzt doch „historisch“, ich empfinde sie als suchende und vorauseilende Texte, die noch viel behaupten mussten oder wollten. Die Texte der Situationisten habe ich ja nur auf französisch gesehen und, quasi ohne sie vorher gelesen zu haben, mit Pierre übersetzt. So eigneten wir uns die Texte durch das Übersetzen an. Pierre war 20 Jahre älter als Lutz und ich, er kannte das alles, und letztlich war er 1970 nach Deutschland gekommen, um diese Texte und Ideen hier einfließen zu lassen, in die etwas zurückgebliebene deutschsprachige linke und anarchistische Bewegung. Ich war verblüfft über die Thesen der SI, über ihre Radikalität, Unabhängigkeit, Experimentierfreude, alles war neu und anders, und das begeisterte uns.

Ich kenne diese Begeisterung und freue mich über Verlage, die Bücher herausbringen, die eine, ich nenne es mal, analytische Grobheit und poetische Kraft in sich tragen. Und ich denke mir, diese Art von Texten können dabei unterstützen „andere Lebenswege“ zu erfinden. War das euer Anliegen?

Ja, der Verlag war ja eine Gemengelage „anderer Lebenswege“. Wir schufen einen Raum für die Erinnerung an sie (durch die Veröffentlichung von Büchern), wir ermöglichten einigen Menschen, im und durch den Verlag mit ihren „anderen Lebenswegen“ zu überleben, Autorinnen und Autoren, Grafiker, Mitarbeitende jeder Art, und in diesem Raum kreuzten sich diese „anderen Lebenswege“ in Form von Debatten und Erkundungen. Was andere damit machen, war uns nur implizit wichtig: wir gaben gewisse Möglichkeiten, aber dann musste „da draußen“ selbst gehandelt werden. Wie Frank Witzel schon in den späten 70ern sagte: „Ein Gedicht ist kein Blindenhund“. Und wir waren keine „Avantgarde“, keine „Meisterdenker“, auch keine „Kulturelite“. Wir folgten unseren Interessen und Leidenschaften.

Es gab aber auch die Knochenarbeit des Verlagswesens. Ihr habt als kleine anarchistische Edition angefangen. Irgendwann fandet ihr euch in den Bahnen des Buchmarktes und Verlagswesens wieder und habt versucht, euch so geschickt wie möglich darin zu bewegen. Die Briefe, die du in dem Buch abdruckst, vor allem jene von Lutz, zeigen, dass das nicht immer einfach war. Neben der Lust bedeutete es auch viel Frust. Wie war es für dich?

Ja, es war ein Abenteuer mit einem langen Atem und vielen Unwägbarkeiten. Das ging 40 Jahre und war darüber hinaus mit der Liebesbeziehung zwischen Lutz und mir verquickt. Natürlich war das nicht einfach, es war ein Prozess, der immer sichtbar und zu leben war. Die Konflikte jeder Art ballten sich manchmal, und manchmal waren sie völlig vergessen und weg, weil alles strömte. Sehr schwierig war der Spagat zwischen unseren revolutionären Ansprüchen und dem Verlag als Ort der kapitalistischen Ökonomie, als Teil der Warengesellschaft. Da konnte man noch so stark die „eigene Ökonomie“ durchdenken und nach ihr handeln, es blieb ja immer die Frage des Geldes und des Überlebens des Verlags und von uns als Personen bestehen. Es musste sich auch die persönliche Beziehung zwischen Lutz und mir in all den Ansprüchen und unter großem Druck entwickeln. Aber dann hat doch immer wieder die Lust überwogen, und die Begeisterung, so dass wir sehr selten der titelgebenden Parole aus dem Mai 68 folgen konnten.

Ja, da gibt es ein ironisches Spannungsverhältnis zwischen Titel und dem, was du im Buch erzählst. Was gab dir die Kraft weiter zu machen? Gab es nach den 1970er Jahren viel Rückhalt aus der politischen oder sozialen Bewegung?

„Arbeitet nie!“ bezieht sich natürlich auf die Lohnarbeit, und in der Hinsicht waren Lutz und ich „erfolgreich“. Wenn man aber ein „richtiges Leben im Falschen“ versucht, ergeben sich trotzdem erhebliche Zwänge aus diesem „Falschen“, und die hatten wir zu meistern. Das war kräftezehrend. Die Kraft aus einer „politischen-sozialen Bewegung“ – nein, eher nicht. Wir fanden eigentlich keine „Bewegung“, in der wir uns passend gefühlt hätten. Das hat uns wahrscheinlich vor Frustration und Resignation bewahrt. Wir haben sozusagen alles selbst gestrickt, auch unsere „soziale Bewegung“, d.h. wir als autonomer Kern in Auseinandersetzung mit den Gruppen, Bewegungen etc.
Der Unterschied ist wahrscheinlich die starke Einheit zwischen Alltagsleben, Politik und Kunst, die aus dem situationistischen Ansatz herrührt. Wenn alles eins ist, bist du nahe an dem „ganzen Menschen“, den wir erstrebten. Und das macht auf eine Art süchtig. Dahinter wollten wir nicht zurück. Wir wollten diese Erlebensdichte mit so vielen unterschiedlichen Menschen aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen. Das war unmittelbar als Reichtum spürbar.

Was mich sehr angesprochen hat, war die Art und Weise, wie du diese Verlagsgeschichte bzw. diese Lebensgeschichten erzählst. Du hast eine sehr poetische Sprache gewählt und schreibst im Buch, dass du versuchst, so nahe wie möglich an deiner Subjektivität und der inneren Glut zu bleiben, die diese Geschichte ermöglicht hat.

Die Geschichte der 40 Jahre von 1973 bis 2013 (bis zu Lutz‘ Tod also) zu erzählen, konnte nur fragmentarisch sein. Es gibt noch so viel mehr zu erzählen. Ich habe mir während des Schreibens und während ich Stück für Stück die 40 Verlagskorrespondenzordner durchsah, gedacht, ich konzentriere mich auf das, von dem ich möchte, dass es erhalten bleibt. Darum kommen die Konflikte zu kurz, es kommen auch viele Autorinnen oder Autoren nicht vor, es kommt auch nicht vor, wie das „Team“ funktionierte, das wir im Laufe der Zeit bildeten. Ich wollte gern einen Resonanzraum schaffen, in dem Gegenwart und Vergangenheit sich verschränken, in dem jede-r Lesende eine eigene Lesart haben kann, in der Zuversicht entsteht, auch Mut. In dem Sinne ist mein Buch kein Handbuch für independent-Verlage oder für kollektives Arbeiten, es ist eher ein „Handbuch“ im Sinne des Situationisten Raoul Vaneigem, dessen „Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen“ für uns Anfang der 70er so wichtig war. Es geht um eine Lebenskunst, einen Lebensreichtum, die der kapitalistischen Welt radikal entrissen ist, damals wie heute.

Für mich ist es auch ein Handbuch für mutiges Schreiben. Du folgst den verschiedensten Erinnerungspfaden und zeigst dich nicht nur in deiner Stärke, sondern auch in deiner Verletzlichkeit. Mich hat das sehr berührt, auch die Feinfühligkeit deiner Sprache. Wie gestaltete sich der Schreibprozess für dich?

Das freut mich sehr. Also, wenn ich eine Fertigkeit gelernt habe in den Jahren, dann, mit Sprache umzugehen (neben dem vielen Kochen für die vielen Gäste). Die Sprache all unserer Autoren (meist männlich) geistert auch durch meine Sprache. Und ich habe schon seit langem kleinere Texte in meinen Verlagsauszeiten geschrieben (und im Verlag Peter Engstler veröffentlicht). Die gaben mir die Freiheit, zu reflektieren und gleichzeitig zu gestalten, zu schauen und meine Form zu finden. Dass ich eine kollektive Geschichte nicht auktorial oder einheitlich erzählen wollte, war mir klar. Und durch die vielen Briefe in den Ordnern hatte ich ja einen Schatz geborgen, den ich kommentieren und mit dem Material von heute kombinieren konnte. Ich glaube auch, dass ich durch die viele Arbeit am Wort der anderen (durch Lektorat und Übersetzungen) beweglich geblieben bin, dass ich eine große Freude an verschiedenen Stilen habe. So habe ich sie sehr gern zu einem Gewebe verknüpft.

Du hast den Verlag 2016, ich formuliere es mal salopp, in einem sehr guten Zustand den Mitarbeiter:innen übergeben, die ihn nun als Kollektiv weiter führen. Dieses Buch ist nun ebenfalls abgeschlossen. Gibt es schon neue Pläne? Wohin zieht es dich?

Es zieht mich tatsächlich dahin, an dieser anderen Welt weiter zu arbeiten, etwas dazu beizutragen, was ich eben kann. Ich bin ja nun unterwegs mit Buchvorstellungen, an denen mich die Diskussion im Anschluss interessiert, so mache ich immer eine andere Lesung, je nach Ort und (vorgestelltem) Publikum. Ich bin auch mit anderen Basisthemen des Verlags und meiner Vergangenheit unterwegs, aktuell mit einem Buch über die Gelbwesten z. B., aber ich bin auch neugierig, wie ich in die Debatte einer radikalen Umgestaltung mit eingreifen kann. Solange ich das Gefühl habe, dass meine Erfahrung etwas bewirken kann, bringe ich sie ins Gespräch, auf unterschiedliche Weise.

(1) Hanna Mittelstädt, Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens. Chronik eines Verlags, Edition Nautilus, Hamburg 2023, 360 Seiten, 28 Euro, ISBN 978-3-96054-317-6. Siehe Vorabdruck in GWR 477, März 2023, S. 22

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