Nachruf

Eine Epoche geht zu Ende

Hanna Mittelstädt erinnert an Pierre Gallissaires (1932-2020)

| Hanna Mittelstädt

Am 10. August 2020 ist Pierre Gallissaires im Krankenhaus von Toulouse im Alter von 88 Jahren gestorben. Als Anarchist, Poet und Übersetzer brachte er die Ideen der Situationistischen Internationale nach Deutschland. Als er 1972 in Hamburg die jungen Anarchist*innen Lutz Schulenburg und Hanna Mittelstädt kennenlernte, war das auch die Inititialzündung für den späteren Verlag Edition Nautilus. Letztere wurde 1974 als libertärer Verlag für politische Sachbücher, Biografien und Belletristik in Hamburg gegründet und ist heute der vielleicht einflussreichste libertäre Verlag im deutschsprachigen Raum. (1) Pierre Gallissaires war neben Lutz Schulenburg und Hanna Mittelstädt der dritte Verlagsgründer des MaD-Verlags, später Edition Nautilus. Hanna Mittelstädt erinnert an ihn mit einem bewegenden Nachruf. (GWR-Red.)

Pierre Gallissaires lebte seit vielen Jahren allein in Montauban in einem Häuschen am Stadtrand, die Vorderseite auf eine graue, vielbefahrene Ausfallstraße gerichtet, Autobahnzubringer, Gewerbegebiet, Stadion, aber die Fenster der Rückseite blickten auf eine Art Paradies: ein grüner Garten, dahinter ein Nebenarm der Tarn, der vor Jahren, kurz nach seinem Einzug, um mehr als sieben Meter anschwoll und einen Teil von Pierres Bibliothek ersäufte, der noch in Kartons auf dem Boden stand. Aber nur einen kleinen Teil, denn das meiste war bereits ordentlich in Regale eingeordnet. Pierre hasste das, was landläufig Ordnung genannt wird, er hasste weiße Wände, Krankenhäuser und die Katholische Kirche. Er hasste Professoren. Und die „Alte Welt“. Hauptsächlich liebte er aber: die Poesie, die Revolution, seine eigene, selbstgebastelte Ordnung und seinen eigenen, möglichst langsamen Rhythmus, so langsam wie möglich in all den Turbulenzen. Er liebte seine Freundinnen, Freunde und Genossen sowie Genossinnen, seine Gefährtin Nadine Tonneau, die lange vor ihm starb, und auch, nehme ich an, sein selbst gestaltetes Vorstadthäuschen, in dem es keine weißen Wände gab: Sie waren alle mit Collagen und Plakaten aus der „eigenen Produktion“, mit Büchern einer 70 Jahre lang stetig gefüllten Bibliothek, mit den Fundstücken seines langen Lebens, den Töpfereien und Bildern seines Bruders Francois, mit Fotos und einigen schwer in die Jahre gekommenen aus dem Elternhaus geerbten Möbeln bedeckt. In der Küche hing eine Sammlung von Holzlöffeln aus aller Welt, bestimmt hundert, aber was sind schon Zahlen, sie bedeckten eine ganze Wand. Immer, wenn ich kam (oder sicher auch andere), stand im Gästezimmer eine Vase mit einer frisch geschnittenen Rose oder etwas Blühendem aus dem Garten. Ich war gern in seinem Haus, beim Eigenbrötler mit seinem festen Tagesrhythmus, ich ging in der von mir geliebten und/oder geteilten Geschichte umher.
Ich kann es nur immer wieder betonen, wie wichtig Pierre für die Anfänge des Verlags war, für die Programmatik, und was für großartige Projekte er teils initiierte, teils umsetzte: Das Paris der Surrealisten, Fotos und Texte, von ihm zusammengestellt und ausgesucht, mit dem wir uns vorwitzig auf den Kunstbuchmarkt wagten. Die Autobiographien von Charles Mingus und Billie Holiday, von Jacques Mesrine (damals Staatsfeind Nr. 1 Frankreichs). Die Dadaisten, Isidore Ducasse, Jacques Vaché, Arthur Cravan, das geschriebene Werk Francis Picabias … all das kannten wir anarchistischen Lümmel Lutz und ich ja gar nicht, jung wie wir waren. Pierre war, was man heute unseren Mentor nennen würde. Für uns war er ein Genosse und enger Freund, der sich auskannte und dessen literarischem und politischem Geschmack wir vertrauten.
Er war der „Sendbote“ der situationistischen Ideen, mit ihm zusammen übersetzte ich die gesamten Texte der Zeitschrift „Internationale Situationniste“ ins Deutsche. Pierre war auch Freund Raul Vaneigems und legte uns dessen Bücher aus der nach-situationistischen Zeit ans Herz, die wir sehr gern, aber auch sehr erfolglos veröffentlichten.
Pierre war immer wieder überrascht, dass wir ihn öffentlich stets als „Dritten Mann“ der Edition Nautilus-Gründung erwähnten. Für ihn war das, was wir zusammen machten, ein Spiel, ein Abenteuer, eine politische Ausrichtung, aber kein Verlag. Er hasste alles Institutionelle, Verfestigte.
Pierre war 1972 nach Hamburg gekommen, er suchte eine andere Welt als die des niedergeschlagenen Mai 68 in Frankreich. Er fand diese andere Welt, die natürlich eine zu schaffende war, damals bei den jungen Anarchisten in Hamburg. Er hatte den alten anarchistischen Genossen Jean Barrué in Bordeaux nach Kontakten in Deutschland gefragt, und dieser hatte ihm ein paar Kombattanten seines Alters in Frankfurt genannt. Das war noch die Generation aus der vor-faschistischen Zeit, und Pierre fragte sie nach jüngeren Aktivisten. In Hamburg sollte es eine lebendige Gruppe von jungen Suchenden geben, und so machte sich Pierre in das Versammlungslokal im Keller des Lokals „Gewinde“ im Hamburger Karlinenviertel auf. Dort wurde vehement diskutiert, wie die Revolution vorangetrieben werden könnte, bewaffnet oder nicht, mit welchen Aktionen, in welchen gesellschaftlichen Feldern oder Konflikten interveniert werden könnte etc. Pierre hatte eine feine und genaue Art, Fragen zu stellen oder Thesen oder Erfahrungen aufzuspannen. Er konnte fast druckreif und auf jeden Fall akzentfrei deutsch sprechen. Seine historische und „theoretisch-praktische“ Kenntnis überstieg die der Anwesenden erheblich. Trotzdem war Pierre nie autoritär und auch nicht didaktisch. Er war aber bestrebt, den Horizont weit zu stecken und die politischen Ideen genau anzusehen. Er praktizierte die „radikale Kritik“ im besten Sinn: nie demagogisch, nicht rechthaberisch, immer bereit zum Spiel und mit einem größtmöglichen Willen zur Klarheit. Die Begegnung mit Lutz war eine „Liebe auf den ersten Blick“. Lutz, der schon ein paar Jahre Aktivist in der Schüler- und Lehrlingsbewegung gewesen war, wollte unbedingt dazulernen. Und Pierre liebte diese ungestüme Begeisterung. Ich stieß kurz darauf dazu, und die Zusammenfügung der drei Temperamente und Leidenschaften entzündete ein lange brennendes Feuer der Neugierde und Tatkraft. Lutz und ich waren in etwa zwanzig und Pierre vierzig Jahre alt.
Auch wenn Pierre Hamburg schon bald wieder verließ, um mit seiner neuen Freundin Nadine nach Frankreich zurückzukehren, ließ die Verbindung nicht nach. Wir kamen im Sommer für vier Wochen dorthin, wo deren Nomadentum gerade eine Unterkunft gefunden hatte, und Pierre reiste hin und wieder nach Hamburg oder zu einem Treffen anderswo. Wir praktizierten das Verlagsprogramm (diskutierten, übersetzten, suchten nach Geld, entwarfen Strategien) und daneben experimentierten wir eine politische Praxis in der Folge der Situationisten: Poesie, Alltagsleben, Politik in einem Tätigsein vereint. „Seid Wasser“ sagte man damals noch nicht, aber wir waren gegen jede Verfestigung.
Um anzudeuten, wie wir mit der „politischen Praxis“ experimentierten, hier ein Auszug aus einem Brief Pierres von 1977, in dem er seine Grundlagen der Kollektivität und des revolutionären Eingreifens als „Langstreckenpraxis“ formulierte, die auch für uns galten:

Im alltäglichen Leben/Überleben kann man nur in dem Maße erleben, in dem man darin eingreift, sich ihm gegenüber aktiv verhält. Ein Irrtum wäre also zu glauben, man könnte ohne Intervention im alltäglichen Leben/Überleben zum Erleben gelangen. … Erleben hat nur mit Lebendigem zu tun, d.h. Unmittelbarem, Direktem, Nahem … Wie die Spontaneität ist das Erleben vielmehr eine Eroberung als ein Gegebenes … Ein Subjekt/Individuum lässt sich dadurch definieren, dass es durch den Willen zum Leben lebendig gemacht wird, den Willen zum Leben, den es entweder nie ganz verloren oder auch wiedererlangt hat, den Willen, sich selbst und die Welt zu erzeugen und zu gestalten, sich selbst zu machen, wie man Geschichte macht … ein Subjekt, ein Individuum, das durch die Tätigkeit zum Ausdruck kommt, durch diese „notwendige Entäußerung“, und nur durch sie zu sich selbst kommt und sich selbst verwirklicht (Debord, These 161 ((aus: Die Gesellschaft des Spektakels))); das den anderen nur dann begegnen kann (Kommunikation), wenn sie gleichfalls durch denselben Willen zum Leben getrieben werden (und nicht nur Überlebende sind) … Bekanntlich ist die erste Form, in der dieser Wille zum Leben zum (äußerlichen) Ausdruck kommt, die Spontaneität, die „Seinsweise der individuellen Kreativität“ (Vaneigem) und die Poesie die „Organisation“ dieser „kreativen Spontaneität“ … Eingreifen, intervenieren, in die Hand nehmen, schöpferisch gestalten, spielen usw. usf. … aber wie?

1. die beste Intervention ist diejenige, die am weitesten vom Militantismus (=Politaktivismus) jeder Art entfernt ist und bleibt. …
2. die beste Intervention ist diejenige, die am weitesten von der Wiederholung, d.h. auch von der Austauschbarkeit entfernt ist und bleibt.
3. die beste Intervention ist diejenige, die am weitesten von dem Bewusstsein der „notwendigen“ Fügung entfernt ist und bleibt.
… und im positiven Sinne
1. die dem Spontanen am nächsten ist und bleibt, d.h. eigentlich, die ihm trotz all seiner Unzulänglichkeiten und Unvollständigkeiten Vertrauen schenkt, ein selbstkritisches Vertrauen, das weiß, das Spontane sei auf der einen Seite kein Gegebenes, es enthalte aber auf der anderen Seite in sich selbst die Elemente ihrer Weiterführung und Entfaltung – ihrer Organisation, ihrer eigenen Poesie …
2. die dem Moment am nächsten ist und bleibt, d.h. dem Punktuellen des einmaligen, unmittelbaren und einheitlichen Moments … gegen die tote Zeit der hektischen Wiederholungversuche, die Zeit sozusagen zu verlangsamen, um die „fortwährenden Leidenschaften der unmittelbaren Erfahrung zu erleben … sie nicht an sich vorübergehen zu lassen, sondern sie zu leben und fortwährend neu zu schaffen …“ (Raul Vaneigem)

(schlussfolgernd)
5. die beste Intervention ist diejenige, die ein Maximum an Lust zum Spiel und an Spielmöglichkeiten und -formen einsetzt, die am meisten das dialektische Spiel des erlebten Raumes und der erlebten Zeit betätigt, mit dem Ziel, die einheitliche Raum-Zeit des Erlebten zu konstruieren. … die keinen qualitativen Unterschied zwischen Ausgangspunkt und Ziel kennt, das ist sogar ein Aspekt ihrer Einheitlichkeit

… Es lebe unsere unreduzierbare Unzufriedenheit und Begierde dem Leben gegenüber! Es lebe das ständige Experiment – zur ständigen Kritik und Neuschaffung der Totalität des alltäglichen Lebens! Ohne tote Zeit, ohne Hemmnisse, so unterschrieb Pierre jeden Brief und auch diesen auf deutsch verfassten und noch viel längeren Exkurs über die Grundlagen der Organisation …

Wir versuchten also, dieses Wissen in die Praxis umzusetzen, d.h. zu leben, persönlich, kollektiv. Diese Haltung lag immer über unserem Verlagsunternehmen, und der Spagat zwischen den täglichen Erfordernissen – den sich verfestigenden Formen der Ökonomie und Bürokratie, ihren Zwängen und Wiederholungen – und der revolutionären Vision war oft anstrengend. Nicht zuletzt, weil der Verlag bald kein „Spiel“ mehr war, ist Pierre in Distanz gegangen und sich selbst treu geblieben.
Um Pierre kein Unrecht zu tun: er hat ganz selten solche grundsätzlichen Thesen aufgeschrieben oder mündlich vertreten. Das entsprach gar nicht seinem Temperament. Aber hin und wieder kam es aus ihm heraus, wenn der „verlorene Haufen“ in Deutschland sich verrannte oder Lutz verzweifelte. Dann holte er aus, in einem Deutsch, das wir immer bewundert haben.
Pierre wurde in Frankreich ein angesehener Übersetzer, zum bescheidenen Broterwerb, aber die Texte entsprachen in der Mehrzahl seinem persönlichen Geschmack. Er übersetzte eine lange Liste von Werken unterschiedlichster Autoren aus dem Deutschen: Max Stirner, Ernst Toller, Gustav Landauer, Heinrich Böll, Arthur Schnitzler, Oscar Panizza, Alfred Döblin, Hugo Ball, Karl Kraus, Joseph Roth, Hans-Magnus Enzensberger, Franz Jung, Paul Scheerbarth, Erich Mühsam, B. Traven, A. Granach u.a. Für gemeinsame Lyrik-Übersetzungen mit Jan Mysjkin aus dem Niederländischen erhielten die beiden 1995 und 2009 jeweils einen Lyrik-Preis. Pierre hasste Preise, aber es war doch verdient.

Pierre liebte es, seine eigene Lyrik zu schreiben. Nachdem er irgendwann entschieden hatte, mit dem Übersetzen aufzuhören (er hatte stets abgelehnt, sich an einen Computer auszuliefern – er hasste Maschinen), setzte er sich jeden Abend nach einer leichten Suppe, die er liebte, an seine Schreibmaschine, eine lebenslange Treue, und dichtete, in französischer Sprache, die schweren Fensterläden zur Straße sorgfältig geschlossen. 1967 erschien sein erster Gedichtband vingt-deux poèmes (22 war seine magische Zahl), 1968 der Folgeband vingt-deux poèmes pour en rire. 1971 wurde Suite Benjamin mit einem beigelegten Siebdruck seines Bruders Francois in einer bibliophilen Ausgabe mit unaufgeschnittenen Druckbögen publiziert. Es enthält die deutschsprachige Widmung vom 2. Juli 1972: für lutz und hannah, dieses stückchen einer langen folge zur befreiung der menschlichen sprache. In der Edition Nautilus wurde, als sie noch MaD-Verlag hieß, 1975 eine Sammlung von Pierres Gedichten mit Zeichnungen von Lutz als Flugschrift Nr. 10 unter dem Titel: Die Straßen, die Mauern, die Commune, 22 Gedichte über Mai und Juni 68 auf französisch und deutsch veröffentlicht. Pierres enge Freundin Evy Azuelos gründete 2009 den kleinen Verlag Aviva und veröffentlichte zwei seiner Gedichtbände: Le dit du poème parmi d´autre (Gedichte 1979 – 2009) enthält die französischsprachige Widmung: für h.m. von ihrem alten freund und komplizen „für immer“. Je tu il ou d´aucuns, 2015, mit der Widmung an mich: Für h.m., am faden der worte, der jahre und einer alten freundschaft, dein pg. Ein neuer Gedichtband ist bei Aviva in Vorbereitung.

AM HELLEN TAG

das glück war da das risiko
der überfluss der traum
und seine wirklichkeiten schwarze blumen von neuem

vom tiefen meeresgrund kamen die blumen an die oberfläche

die zukunft in der gegenwart das unglaubliche
evident wie 2 und 2

sind märz im monat mai

FABEL

hören sie doch auf aber hören sie doch auf
angst zu haben und der alte
wackelpudding
sinkt endlich zusammen
in die peugeot taxe die davon fährt
langsam ganz langsam
hören sie doch auf aber hören sie doch auf
angst zu haben rue cassette paris
also in frankreich am ersten juli
1968

vielleicht sagt ihnen sowas nichts-
mir aber sehr viel

Eine Epoche geht zuende, schrieb mir eine Freundin zum Tod Pierres. Aus der Urzelle der Nautilus-Epoche bin ich jetzt die letzte. Die Nautilus-GMBH der Mitarbeiter*innen ist eine neue Epoche, an der ich nicht mehr teilhabe. Ich sitze am Schreiben der Verlagschronik, die bis Lutz´ Tod reichen wird, und bin mit den Verlagskorrespondenzordnern von 1972 schon bis 1979 vorgedrungen. Die Hälfte der Ordner nimmt der Briefwechsel zwischen Lutz und Pierre ein. Was für ein Schatz, dass es sie gibt. Was für eine lebenslange Arbeit am Wort. Was für Lebenslinien: vom Vorstadtproleten ohne gültigen Schulabschluss und mit nicht bestandener Dekorateurslehre zum erfolgreichen Verleger (Lutz), von der recht ordentlichen Abiturientin zur Erbin unserer Erfahrungen, vom Deserteur aus dem Algerienkrieg Ende der fünfziger Jahre, dem begeisterten Kombattanten im Mai 68 zum Dichter an der Schreibmaschine im Jahr 2020. Pierre wurde 88 Jahre alt.

Hanna Mittelstädt

Anmerkungen:

1) Zur Geschichte der Edition Nautilus siehe: Subversive Kopffüßler? Ein Gespräch mit Hanna Mittelstädt und Lutz Schulenburg zum dreißigsten Geburtstag der Edition Nautilus, in: Bernd Drücke (Hg.), ja! Anarchismus, Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert, Unrast Verlag, Münster 2018, S. 102-114

Zwanzigtausend Meilen für die Anarchie. Nina Nadig und Bernd Drücke im Gespräch mit den Edition-Nautilus-Verlegerinnen Hanna Mittelstädt und Katharina Picandet, in: B. Drücke (Hg.), Anarchismus Hoch 3. Utopie, Theorie, Praxis, Unrast Verlag, Münster 2016, S. 64-75