es wird ein lächeln sein

Solidarität mit Anarchist:innen im Sudan

Interview mit der anarcha-kommunistischen Föderation Die Plattform

| Interview: Bernard und Julia Berger

Seit der Bürgerkrieg im Sudan immer stärker eskaliert, verschlechtert sich auch die Situation für die kleine anarchistische Bewegung dort. Diese hat sich in den letzten Jahren intensiv an den Kämpfen für eine bessere Gesellschaft in ihrem Land beteiligt. Ein Bündnis anarchistischer Organisationen auf fünf Kontinenten, an dem auch die deutsche anarcha-kommunistische Plattform beteiligt ist, steht im Kontakt mit den Genoss:innen vor Ort und hat jetzt eine Solidaritätskampagne samt Spendenaufruf gestartet. (1) Ihr Ziel ist es, den Anarchist:innen, die das Land in Richtung Exil verlassen müssen, eine sichere Flucht zu ermöglichen. Anlass genug, Aktivist:innen der Plattform zu ihrem Selbstverständnis und zu ihrer Kampagne zu befragen. (GWR-Red.)

Graswurzelrevolution (GWR): Was ist die Plattform und was will sie? Warum lohnt es sich, hier mitzuarbeiten?

Die Plattform (DP): Wir sind eine anarchistische Föderation für den deutschsprachigen Raum und haben uns vor gut fünf Jahren gegründet. Heute sind wir in verschiedenen deutschen Städten mit Lokalgruppen und Einzelpersonen vertreten. Unser Ziel ist eine herrschaftsfreie Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Wir denken, dass nur eine soziale Revolution den Weg zu dieser Gesellschaft eröffnen kann. Dafür müssen die Kräfte der lohnabhängigen Klasse in verschiedenen alltäglichen Kämpfen kontinuierlich aufgebaut werden. Um als Anarchist:innen in diesem Prozess eine relevante Rolle einzunehmen und revolutionäre, antiautoritäre Positionen in den Kämpfen zu verankern, müssen wir gut organisiert und viele sein. Deshalb versammeln wir Anarchist:innen aus allen Teilen dieser Region und schaffen eine stabile und schlagkräftige Organisation. Wir möchten andere Anarchist:innen dazu einladen, sich unserem Weg anzuschließen – denn nur gemeinsam sind wir stark.

GWR: Bei anarchistischen Organisationen mit klassenkämpferischem Anspruch denken viele zuerst an die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter:innen Union (FAU) oder die unionistischen Industrial Workers of the World (IWW, Wobblies). Was unterscheidet euch von diesen Basisgewerkschaften?

DP: Zuerst einmal: Wir sind keine Gewerkschaft und wollen auch keine sein. Nicht, weil wir Gewerkschaften oder Betriebskampf ablehnen. Im Gegenteil denken wir, dass Betriebe ein zentrales Feld für den Aufbau von Gegenmacht der lohnabhängigen Klasse sind. Gewerkschaften sind notwendig, um den Kampf in den Betrieben zu organisieren. Deshalb sind viele von uns selbst in Gewerkschaften aktiv, die meisten in der FAU. Wir organisieren uns jedoch zusätzlich in der Plattform, weil wir denken, dass sie Funktionen erfüllt, die die Gewerkschaften nicht erfüllen können oder sollten. Gewerkschaften stehen notwendigerweise auch solchen Arbeiter:innen offen, die kein gefestigtes revolutionäres Bewusstsein haben. Sie fokussieren sich richtigerweise auf den betrieblichen Kampf. Demgegenüber erlaubt uns die politische Organisation, in einen intensiven Austausch über Theorie und die strategische Ausrichtung unserer Praxis zu treten, der nur möglich ist, weil sich die Mitglieder in vielen Fragen bereits einig sind. Sie ermöglicht uns auch, in Kämpfe zu intervenieren, die abseits der betrieblichen Ebene stattfinden und die damit jenseits des aktuellen Handlungsfelds der Gewerkschaften liegen – zum Beispiel in der Klimabewegung oder in feministischen und antifaschistischen Kämpfen.

Aufruf zur Solidarität. Grafiken: Die Plattform

GWR: Die Plattform versteht sich als anarcha-kommunistisch (2). Was versteht ihr darunter konkret?

DP: Der anarchistische Kommunismus oder Anarchakommunismus ist das Gesellschaftsprojekt, für das wir kämpfen. In einer Gesellschaft, die nach anarchistisch-kommunistischen Prinzipien funktioniert, würden alle bestehenden Herrschaftsformen überwunden werden. Konkret bedeutet das die Abschaffung des kapitalistischen Privateigentums sowie des Staates, der dieses Privateigentum sichert. An die Stelle der bisherigen Institutionen treten basisdemokratische Strukturen in Betrieben, Nachbarschaften und Bildungseinrichtungen, die in der Lage sind, die Gesellschaft von unten selbst zu verwalten. Lokale und regionale Strukturen verständigen sich auf Augenhöhe mit ähnlichen Strukturen überall auf der Welt und arbeiten solidarisch zusammen. Produktion und Verteilung sind nicht mehr profitorientiert, sondern nach den konkreten Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet. Durch einen solchen gesellschaftlichen Umbruch wäre die Möglichkeit gegeben, Patriarchat, Rassismus und andere Formen der Unterdrückung zu beseitigen. Diese schaffen sich nicht von selbst ab und es ist notwendig, von Anfang an einen Kampf gegen die Spaltungen der lohnabhängigen Klasse und die reaktionären Tendenzen in der Gesellschaft zu führen. Der anarchistische Kommunismus ist für uns nicht nur Zielgesellschaft, sondern auch eine Strömung, die sich durch die Geschichte der weltweiten anarchistischen Bewegung zieht und in deren Tradition wir uns verorten. Sie beinhaltet für uns, sich positiv auf den organisierten Klassenkampf als Motor gesellschaftlicher Veränderung zu beziehen und die Notwendigkeit einer sozialen Revolution hochzuhalten.

GWR: Ihr habt euch im Juli 2023 auch am anarchistischen Kongress in St. Imier (3) beteiligt, an dem 5.000 Anarchist:innen aus aller Welt teilgenommen haben. Wie schätzt Ihr die Situation des Anarchismus ein, einerseits hierzulande, andererseits global?

DP: Der Anarchismus ist in Deutschland, wie auch global, weiterhin eine marginale politische Strömung, die weit hinter ihrer Hochphase zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückbleibt. Erfreulich ist, dass sich anarchistische Ideen – wenn auch langsam – in den letzten Jahrzehnten in Teile der Welt verbreitet haben, die abseits der klassischen industriellen Zentren liegen und bisher über kaum eine anarchistische Tradition verfügen. Zu nennen wären hier beispielsweise die Organisierungsbemühungen von Anarchist:innen in der Türkei, im Iran und in Afghanistan, anarchosyndikalistische Gewerkschaften in Pakistan oder Bangladesch, aber eben auch die Genoss:innen im Sudan, um die es in diesem Interview gehen soll. In seinen klassischen Hochburgen in Europa und den Amerikas schwankt der Anarchismus zwischen einer subkulturellen Ausrichtung einerseits und einer Rückbesinnung auf den Klassenkampf andererseits. Dieser Widerspruch tritt im deutschsprachigen Raum, unserer Wahrnehmung nach, in den letzten fünf Jahren deutlicher zu Tage als zuvor. Konkret meinen wir, dass es mehr explizit klassenkämpferische Projekte gibt und einen Trend, sich von der Subkultur zu lösen. Das ist aus unserer Sicht eine positive Entwicklung. Wie umfangreich und nachhaltig sie sein wird, muss sich erst noch zeigen. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, diese Entwicklung voranzutreiben.

GWR: Im Moment macht ihr eine Kampagne für sudanesische Anarchist:innen. Der Sudan liegt nicht gerade vor der Haustür. Persönliche oder organisatorische Verbindungen zwischen Menschen in Deutschland und im Sudan sind nicht alltäglich. Wie kam euer Kontakt zu den anarchistischen Genoss:innen im Sudan zustande?

DP: Die Plattform ist mit ähnlich ausgerichteten anarchistischen Organisationen aus vielen Ländern in einer internationalen Koordination organisiert. Diese nahm im Februar 2022, inmitten der revolutionären Unruhen, die den Sudan seit 2018 erschüttern, über das Internet Kontakt zu einer Gruppe sudanesischer Anarchist-:innen auf. Aufgrund von Sprachbarrieren war der Austausch nicht immer einfach, aber wir sind dabeigeblieben und haben viel von den Genoss:innen über die revolutionären Bestrebungen im Sudan und die Widerstandskomitees, in denen sie organisiert sind, lernen können. Zusammen mit unseren Genoss:innen aus der internationalen Koordination arbeiten wir nun an einer Unterstützungskampagne für unsere sudanesischen Genoss:innen, die sich zur Zeit in größter Gefahr befinden.

GWR: Was sind deren Ideen und Ansätze? Wo sind die Gemeinsamkeiten, wo die Unterschiede?

DP: Die Gruppe, zu der wir Kontakt haben, besteht vor allem aus jungen Studierenden aus der Hauptstadt Khartoum. Dort und auch unter den Studierenden in Dongola sind anarchistische Kämpfe besonders präsent. Soweit wir wissen, hatten die Genoss:innen bisher nicht die Möglichkeit, ihre ideologischen Ansätze als Gruppe allzu sehr zu vertiefen, weil sie sich erst 2018 während der Proteste gegen die Regierung von Omar al-Bashir kennenlernten. Dort war die Gruppe aktiv in den Widerstandskomitees, die im Zentrum der revolutionären Bestrebungen standen, und beteiligt an einigen Aufständen und Revolten. Außerdem hatten sie Verbindungen zur Sudanese Professional Association (SPA), einem Dachverband verschiedener sudanesischer Gewerkschaften, die während der Proteste eine große Rolle spielten. Die schwer vergleichbare Situation macht es für uns schwierig, konkrete Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu benennen. In jedem Fall eint uns, dass wir einen Anarchismus mit revolutionärem Anspruch verfolgen, der sich positiv auf Basisorganisierung und Massenkämpfe von unten als Mittel gesellschaftlicher Veränderung bezieht. Ein zentraler Unterschied liegt sicherlich darin, dass unsere Organisationen nahezu ausschließlich aus Ländern mit einer reichhaltigen anarchistischen Geschichte kommen, während die Genoss:innen im Sudan neu anfangen mussten.

Wir meinen, dass es mehr explizit klassenkämpferische Projekte gibt und einen Trend, sich von der Subkultur zu lösen. Das ist aus unserer Sicht eine positive Entwicklung. Wie umfangreich und nachhaltig sie sein wird, muss sich erst noch zeigen. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, diese Entwicklung voranzutreiben.

GWR: Stellt bitte die Kampagne vor.

DP: Aufgrund des seit Monaten tobenden Bürgerkriegs im Sudan ist die aktuelle Lage für revolutionäre Kräfte und damit auch für die junge anarchistische Bewegung und ihre Aktivist:innen extrem gefährlich. Mit unserer Kampagne wollen wir unsere Genoss:innen unterstützen und schützen – entweder indem wir dabei helfen, dass sie sich im Sudan in Sicherheit bringen können oder indem wir ihnen die Flucht in ein anderes Land ermöglichen. Die Gefahren, die eine solche Reise ohne Perspektive auf baldige Rückkehr mit sich bringt, wollen wir, so gut es geht, eingrenzen. Außerdem wollen wir unsere Genoss:innen dabei unterstützen, ihr Engagement für die Sudanes:innen im Exil und die ausgebeuteten Bevölkerungsschichten in ihrem Zielland fortzusetzen. Das ist nicht einfach, denn die ganze Region ist politisch sehr instabil und es ist derzeit für Sudanes:innen nicht einfach möglich, das Land zu verlassen. Dazu brauchen wir Geld, und die Solidaritätsfonds der Organisationen unserer internationalen Koordination allein reichen nicht aus. Wir rufen also alle Leser:innen dieses Interviews auf, sich an der Spendenkampagne zu beteiligen und sie möglichst zu verbreiten. Gleichzeitig arbeiten wir mit den größten Anstrengungen daran, einen Weg für unsere Genoss:innen zu finden, den Sudan zu verlassen und in ein sicheres Land zu kommen, in dem sie bleiben können. Dort wollen wir sie auch langfristig in ihrem Ankommen und ihren politischen Aktivitäten unterstützen.

GWR: Für die Graswurzelrevolution ist der sudanesische Aktivist und Gelehrte Mahmud Muhammad Taha mit seiner gewaltfrei-libertären Interpretation des Koran eine wichtige Größe. (4) Er wurde 1985 wegen seiner Opposition gegen das Regime des damaligen sudanesischen Diktators Numeiri zum Tode verurteilt und hingerichtet. Bezieht sich die heutige anarchistische Szene noch auf diesen Vorkämpfer libertärer Ideen im Sudan?

DP: Diese Frage haben wir an unsere sudanesischen Genoss:innen weitergeleitet: Sie schreiben, dass Mahmud Muhammad Taha ein islamischer Denker war, der sich dem islamischen Regime der Muslimbruderschaft widersetzte, indem er eine republikanische Partei gründete. Sein Ziel war es, viele Konzepte im Islam zu ändern, was die Aufhebung verschiedener religiöser Verbote bedeutet hätte. Die Genoss:innen möchten aber klarstellen, dass Mahmoud Muhammad Taha aus ihrer Sicht dennoch kein Libertärer im anarchistischen Sinne war, weil er an vielen anderen religiösen Einschränkungen festhielt. Insofern können wir sagen, dass Mahmoud Muhammad Taha den jungen Anarchist:innen im Sudan heutzutage definitiv ein Begriff ist, dass er aber anscheinend keinen wichtigen ideologischen Bezugspunkt darstellt.

GWR: Welche Perspektiven sehen die sudanesischen Genoss:innen für die Zukunft des Sudan und ihre eigene Arbeit?

DP: Als im April diesen Jahres General Hemetti, Befehlshaber der Miliz der „Rapid Support Forces“, eine Rebellion gegen die sudanesische Nationalarmee anzettelte, weigerten sich unsere Genoss:innen und andere emanzipatorische und revolutionäre Kräfte des Landes, in diesem sinnlosen Krieg Partei zu ergreifen und den einen Verbrecher gegen einen anderen zu unterstützen. Zunächst hatten sie gehofft, dass sie ihre Agitationsaktivitäten im Sudan im Geheimen fortsetzen könnten. Aber die Situation ist unhaltbar geworden und lässt keine sozialen oder politischen Aktivitäten mehr zu. Gerne würden sie aus dem Land fliehen, ihr Studium beenden und anarchistische Ideen in der Diaspora weiter verbreiten. Wir hoffen, ihnen dabei mit all den Spenden, die bereits im Rahmen der Kampagne eingegangen sind und auch noch eingehen werden, solidarisch zur Seite stehen zu können.

GWR: Danke! Wir finden die Kampagne gut und hoffen, dass wir mit diesem Interview ein bisschen Öffentlichkeit schaffen und zum Erfolg beitragen können.

(1) Siehe: https://www.dieplattform.org/
2023/08/22/internationale-solidaritaetsaufruf-unterstuetzt-sudanesische-anarchistinnen-im-exil/
(2) Siehe Artikel von Mark Winter: Neue Impulse in der anarchistischen Organisationslandschaft. „die plattform“ stellt sich vor, Artikel aus: in GWR 441, September 2019, https://www.graswurzel.net/gwr/2019/09/neue-impulse-in-der-anarchistischen-organisationslandschaft/
(3) Siehe Schwerpunkt in GWR 481
(4) Siehe dazu u.a. Artikel in GWR 480 und das von Guillaume Gamblin, Pierre Sommermeyer und Lou Marin im Verlag Graswurzelrevolution herausgegebene Buch: „Im Kampf gegen die Tyrannei. Gewaltfrei-revolutionäre Massenbewegungen in arabischen und islamischen Gesellschaften: der zivile Widerstand in Syrien 2011-2013 und die ‚Republikanischen Brüder‘ im Sudan 1983-1985“, https://www.graswurzel.net/gwr/produkt/im-kampf-gegen-die-tyrannei/

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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