die waffen nieder

Putins Kanonenfutter

Die menschenverachtende Rekrutierungspraxis der russischen Armee

| Lou Marin

links: Dudelsack­spieler bei der Solda­ten­werbung (Ungarn, 1816), József Bikkessy Heinbucher, Public domain, via Wikimedia Commons; rechts: Putin und Verteidigungsminister Schoigu, Kremlin.ru, CC BY 3.0 , via Wikimedia Commons

Der seit dem 24. Februar 2022 tobende russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat dazu geführt, dass die letzten freien Medien Russlands zerschlagen oder ins Exil vertrieben wurden. Die russische Autokratie hat sich unter Putin in eine zunehmend totalitär agierende Diktatur verwandelt. Die Fratze des Krieges zeigt sich in ihrer Widerwärtigkeit bei der Praxis der Kriegsführung der russischen Armee in den letzten Wochen, als ihre Offensive die ukrainischen Truppen bedingt zurückwerfen konnte. Die Menschenverachtung des Autokraten Putin zeigt sich auch im Umgang mit seinen eigenen Soldaten, die nur als „Kanonenfutter“ betrachtet und nicht zuletzt auch aus den Massen von nicht-russischen Arbeitsmigrant*innen rekrutiert werden. (GWR-Red.)

Am Ausgang der Moschee Kotelniki fand am 20. Oktober 2023 eine Razzia statt. Die Moschee liegt in einer Schlaf-Vorstadt Moskaus, ungefähr eine Stunde entfernt vom Zentrum der Stadt. Dort wohnen rund 70.000 Menschen, darunter viele Migrant*innen. Immer wieder muss die dortige kaukasischstämmige oder aus Asien kommende Bevölkerungsgruppe rassistische Polizeidurchsuchungen und Personenkontrollen sowie diskriminierende Kommentare der Anwohner*innen über sich ergehen lassen. Doch am 20. Oktober diente die Razzia dem einzigen Zweck, neue Rekruten für die russische Armee und deren Krieg gegen die Ukraine zu gewinnen. (1)
Im Anschluss an die heftigen Kämpfe um das ostukrainische Awdijiwka Anfang November 2023 übernahm die „Frankfurter Rundschau“ die Angaben des ukrainischen Kriegsministeriums, das seit Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022 von insgesamt bereits 302.000 gefallenen russischen Soldaten spricht. Auch wenn sich diese Zahl nicht überprüfen lässt, so sind die Verluste an Soldaten auf russischer Seite mit Sicherheit enorm. Allein im heftig umkämpften Adwijikwa starben laut Frankfurter Rundschau allein am 1. November 2023 ca. 930 russische Soldaten im Rahmen der angeblichen militärischen Offensive. (2) Nach Angaben des nationalen Sicherheitsberaters der USA, John Kirby, besteht die Angriffstaktik der russischen Armee im direkten Verschleiß ganzer Reihen von Soldaten, die schutzlos nach vorne geworfen werden. Es sei eine Taktik der „menschlichen Wellen“. Soldaten, die Befehlen an der Frontlinie nicht gehorchten oder der Versuchung nachgeben, Rückzugsgefechte zu führen, würden direkt von der russischen Armee „exekutiert“. (3)

Dem Trotzki treu ergeben

Auch wenn sich die Zahlen der Ukraine und der USA nicht verifizieren lassen, so erinnert diese Kriegstaktik diejenigen, die sich aus antimilitaristisch-anarchistischer Sicht mit der russischen Revolution von 1917 und vor allem dem Matrosenaufstand in Kronstadt 1921 befasst haben, an die alte Taktik Trotzkis. Trotzki gründete als sowjetischer Kriegskommissar unter Lenin nach der Russischen Revolution 1917 die Rote Armee.
1921 kam es zu einem Aufstand der Kronstädter Matrosen gegen die bolschewistische Diktatur. Der Kronstädter Matrosenaufstand wurde von der Roten Armee unter Trotzkis Leitung blutig niedergeschlagen.

Beim Vorrücken der Roten Armee ließ Trotzki bolschewistische Politkommissare in zweiter Reihe platzieren und auf widerwillige oder im Rückzug befindliche Soldaten schießen, um sie weiter zum Angriff zu zwingen.
Putins heutige Kriegsführung gegen die Ukraine erinnert nicht nur an diese Art der bolschewistischen Kriegsführung, sondern auch an die Bestrafung Lenins und Trotzkis für die Insubordination der Kronstadter Garnison der damaligen Roten Armee:
„Das Politbüro beschloss, mit Kronstadt zu verhandeln, dann ein Ultimatum zu stellen und als letztes die Festung und die eingefrorenen Panzerschiffe der Flotte anzugreifen. In Wirklichkeit kam es nicht zu Verhandlungen. Ein in aufreizenden Wendungen abgefasstes Ultimatum, von Lenin und Trotzki unterzeichnet, wurde angeschlagen: ‚Ergebt Euch oder Ihr werdet zusammengeknallt wie Kaninchen.‘ Trotzki kam nicht nach Petrograd und sprach nur im Politbüro.“ (4)
Für die aggressiv vorgehende Putin-Diktatur, die sich hier in treuer Nachfolge von Lenins und Trotzkis mörderischem Zynismus befindet, sind die eigenen Soldaten nur solche „Kaninchen“, die willkürlich geopfert werden und somit in großer Zahl weiter rekrutiert werden müssen.
Wegen der ungeheuer hohen Opferzahlen seit Beginn des Angriffskriegs am 24. Februar 2022 hat die russische Armee Nachholbedarf an soldatischem „Menschenmaterial“, das nun auf rassistische Weise unter den Migrant*innen Moskaus und anderer Städte rekrutiert wird. Denn Putin will auf alle Fälle eine erneute, womöglich unpopuläre Zwangsmobilmachung, wie schon Ende Juli 2022, vermeiden – auf diese Potentialität der Infragestellung seiner Macht und Kriegsführung nimmt er dann doch Rücksicht. So macht er Jagd auf nicht ethnisch-russische Migrant*innen.
„Die ‚Aufstandsbekämpfungstruppen‘ am Ausgang der Moschee in Kotelniki hatten einen Korridor gebildet und vier Busse mit all jenen gefüllt, die eine nicht-slawische Gesichtsphysiognomie hatten“, erzählt Timour, aus Kirgisistan stammend, an diesem Tag einem französischen Journalisten von „Le Monde“. (5) „Wir wurden eineinhalb Stunden lang zur nächsten Militärkaserne gefahren. Dort hat man uns erklärt, dass wir einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterzeichnen sollten. Weil ich der einzige Erziehungsberechtigte einer vielköpfigen Familie bin, hat man mich ausnahmsweise wieder gehen lassen, mit der Auflage, in einigen Tagen beim Rekrutierungsbüro wieder vorstellig zu werden.“ Und Valentina Tchoupik, russische Anwältin für die Rechte von Migrant*innen, die heute im Exil lebt, meint, dass allein an diesem Tag zwei weitere Razzien auf Märkten von Kotelniki stattfanden: „Seit Sommer sind es Dutzende in ganz Russland gewesen.“
Seit Dezember 2022 gibt es ein Gesetz, das alle Nicht-Russ*in-nen unter 30 Jahren, die erst vor kurzem die russische Staatsbürgerschaft erlangt haben, zur Ableistung des Kriegsdienstes verpflichtet. Nach mehreren Zeugenaussagen werden die Kriegsdienstleistenden nach Ableistung des Kriegsdienstes von den Offizieren zur Dienstverpflichtung für ein weiteres Jahr gezwungen, was den Beitritt zur regulären Armee und die Entsendung in die Ukraine umfasst. „Solche Praktiken sind inzwischen üblich“, so Tchoupik weiter. Sie meint, dass dadurch gerade diejenigen Leute verwirrt werden, die ihre Rechte nicht kennen. Formal gehe es um den Kriegsdienst, „faktisch müssen sie den Vertrag unterzeichnen und werden bei Ablehnung mit Gefängnisstrafen bedroht“. Und Timour erzählt, dass zwar alle nach Russland Immigrierten lange Jahre von der russischen Staatsbürgerschaft träumten, weil damit das Leben leichter und weniger gefährlich sei. „Aber jetzt ist gerade das synonym mit Gefahr geworden.“

Die rassistische Rekrutierung der Migrant*innen

In Russland leben heute ca. 11 Millionen Immigrant*innen aus zentralasiatischen oder kaukasischen Ländern. Bereits im September 2022 hatten die Behörden eine beschleunigte Einbürgerung für Migrant*innen angeboten, wenn sie einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschreiben. Doch diese Migrant*innen wehrten sich – mehr oder weniger entschlossen – gegen ihre Versendung in die Ukraine.
Die russische Regierung behauptet weiterhin, dass sie keine Probleme habe, eine ausreichende Anzahl Freiwilliger für die Armee rekrutieren zu können, vor allem aufgrund des erhöhten Soldes der Armee. Als Zahl werden von offizieller Seite 385.000 neu rekrutierte Soldaten für das Jahr 2023 genannt. (6)

Für die aggressiv vorgehende Putin-Diktatur, die sich hier in treuer Nachfolge von Lenins und Trotzkis mörderischem Zynismus befindet, sind die eigenen Soldaten nur „Kaninchen“, die willkürlich geopfert werden und somit in großer Zahl weiter rekrutiert werden müssen.

Doch neben dieser legalen Verlockung durch erhöhten Sold gibt es viele Aussagen aus dem Netzwerk von Valentina Tchoupik, dass Migrant*innen getäuscht und zum Beispiel mit falschen Anklagen für Bagatellvergehen vierzehn Tage lang interniert werden, in denen sie mit Gefängnis oder Abschiebung bedroht werden. Oft komme es sogar zu regelrechten Entführungen oder systematischer Gewalt. So sah sich etwa der Tadschike C. Tillozoda der Anklage einer „passiven Spionage“ mit der Drohung von 20 Jahren Gefängnis konfrontiert, als er sich der Verschickung an die Front entziehen wollte. Solche Praktiken seien laut Tchoupik vor allem im September/Oktober 2022 und im April/Mai 2023 angewandt worden. Nach ihren Angaben enden die Razzien derzeit wieder ein wenig öfter bei rassistischen Abschiebungen als bei der Rekrutierung für die Armee. Diese Taktik der Razzien werde besonders in Vorwahlzeiten intensiv angewandt – im März 2024 gibt es Präsidentschaftswahlen in Russland und Putin will sich da mit seinen üblichen Wahlmanipulationsmethoden zur weiteren Amtsführung bis mindestens 2030 wählen lassen. (7) Das ist bei Autokratien heute so üblich, dass sie sich mit einem parlamentarischen-wahltaktischen Mäntelchen bekleiden, siehe Orbán, siehe Erdoğan, denen die weitgehend gleichgeschalteten, auf Linie gebrachten Medien jeweils zu fast 100% bei ihren Meinungsmanipulationen zur Seite stehen.
Dabei kommt es zu vielfältigen Formen der Diskriminierung, denen die Migrant*innen ausgesetzt werden: So gab Sarvar, ein usbekischer Migrant aus der Moskauer Vorstadt gegenüber einem Journalisten der „Le Monde“ an, er lebe als Bauarbeiter seit 20 Jahren in Moskau und habe Anfang Oktober 2023 seine Arbeitserlaubnis verlängern wollen. Normalerweise werde man auf dem Amt brutal angeschrien, aber jetzt sei man geradezu freundlich gewesen und habe ihn sogar gesiezt. Doch: „Überall waren Werbeplakate für die Armee“. Eine Sekretärin ließ ihn einen Stapel an Dokumenten für seine Arbeitserlaubnis unterzeichnen. Gleich darauf sei die Polizei gekommen und habe ihm gesagt: „Jetzt gehörst du zu uns, ob du willst oder nicht.“ Erst da habe er gemerkt, dass eines der unterzeichneten Papiere sein Verpflichtungsvertrag mit dem Verteidigungsministerium gewesen war. Mit Hilfe der Botschaft Usbekistans sei es ihm dann aber gelungen, nachzuweisen, dass der Vertrag nicht formell bindend war, sondern nur eine Absichtserklärung: „Ich kann mich wehren, denn ich spreche und lese Russisch. Aber jemand ohne diese Fähigkeiten – was kann er schon antworten, wenn sie ihm sagen, wie sie es bei mir gemacht haben, dass er nun einmal unterzeichnet habe und nicht mehr davon zurücktreten kann.“ Als Sarvar zwei Wochen später wieder erschien, um seine Arbeitserlaubnis abzuholen, musste er sich eine weitere halbe Stunde von einem Armeeoffizier anhören, dass er bei einer Rekrutierung doch die Wahl habe, ob er an die Front gehen oder in der Reserve bleiben wolle. Sarvar dazu: „Seit 20 Jahren zahle ich in Russland meine Steuern. Ich habe schon viel erlebt: von Unternehmern konfiszierte Pässe, nicht überwiesene Löhne, Drohungen und Gewalt durch die Polizei. Aber ich habe mir nie vorstellen können, dass sie auf einem solch bodenlosen Niveau des Zynismus enden könnten.“ (7)

(1) Benoît Vitkins: „À Moscou, la chasse aux migrants pour les enrôler“ (Moskau: Die Jagd nach Migranten, um sie zu rekrutieren), in: Le Monde, 6.11.2023, S. 6.
(2) Angaben nach Meldungen in der Frankfurter Rundschau,
https://www.fr.de/politik/news-ticker-ukraine-krieg-russland-kampfdrohnen-kiew-moskau-gegenoffensive-gefechte-zr-92644544.html#id-pageApi-verluste .
(3) Meldung: „Selon Washington, la Russie ‘exécute des soldats’, qui battent en retraite“ (Nach Washington exekutiert Russland Soldaten, die im Rückzug kämpfen), in: Le Monde, 28. Oktober 2023, S. 6.
(4) Vgl. Graswurzelrevolution 256, Februar 2001: „Vor 80 Jahren Kronstadt! Victor Serge (1943) erinnert sich an den Aufstand und dessen Niederschlagung“, https://www.graswurzel.net/gwr/2001/02/vor-80-jahren-kronstadt/ .
(5) Benoît Vitkins, a.a.O.
(6) Ebenda.
(7) Zitat Sarvar, ebenda, a.a.O.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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