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Die Glückssucherin

Pınar Seleks Weg für eine Gesellschaft ohne Herrschaft und Gewalt

| Hanna Mittelstädt

Guillaume Gamblin (Hg.): Die Unverschämte. Gespräche mit Pınar Selek. Aus dem Französischen übersetzt von Lou Marin, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2023, 228 Seiten, 20,90 Euro, ISBN 978-3-939045-50-2

Pınar Selek, 1971 in Istanbul geboren, ist Aktivistin, Soziologin, Autorin, Feministin und Anarchistin. Sie geriet wegen ihrer Recherchen über die kurdische Arbeiterpartei (PKK) bei den türkischen Behörden unter Terrorverdacht und wurde 1998 – mit dem Vorwurf der Propagandaarbeit für die PKK und der Beteiligung an einem Bombenanschlag auf dem Gewürzmarkt von Istanbul – inhaftiert und schwer misshandelt. Nach ihrer Freilassung zweieinhalb Jahre später wurde sie weitere drei Mal erneut zu lebenslanger Haft verurteilt und jeweils wieder freigesprochen. Die Prozesse ziehen sich seit 25 Jahren hin, dabei ist keineswegs erwiesen, dass es sich bei der Explosion in dem Basar überhaupt um eine Bombe handelte oder eher um einen Unfall mit einem Gasbehälter. Der aktuelle Stand ist, dass die mit internationalem Haftbefehl gesuchte Angeklagte, die nach einer Zwischenstation in Berlin nun in Frankreich im Exil lebt, sich im Juni 2024 vor dem Höchsten Gerichtshof in Istanbul erneut zu verantworten hat. Ihre Auslieferung aus Frankreich, wo sie inzwischen Staatsbürgerin und Ehrenpräsidentin der ASES (eine Assoziation der Hochschul-Soziologinnen) ist, wurde von den türkischen Behörden noch einmal beantragt.
Ihr größter Schutz sind ihre vielen internationalen, zum Teil prominenten Freundinnen und Freunde, die immer wieder die Öffentlichkeit gegen diesen unbegründeten Prozess aufrütteln und dem Gericht publizistisch und mit Solidaritätsaktionen auf die Finger hauen. Auch dieses Buch ist ein Teil dieser Öffentlichkeitsarbeit. Hoffentlich wird die internationale Solidarität im Juni beim Prozess des Höchsten türkischen Gerichts soweit Erfolg haben, dass Pınar Seleks Alptraum endlich beendet wird. Denn Pınar lebt zwar leidlich geschützt im Exil, ihre Familie aber weiterhin in Istanbul. Und der türkische Geheimdienst hat seine Krallen überall und bedroht sie wie alle Regimegegner:innen.
2017 und 2018 führte Guillaume Gamblin für die Zeitschrift Silence fünf Gespräche mit Pınar in verschiedenen Städten. Seit 2009 ist Pınar im Exil, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie heimisch werden kann. Berlin war es nicht, auch der Sprache wegen. Durch ihre Ausbildung an einem französischen Gymnasium lag ihr Frankreich näher, hier lebt sie seit 2012 in wechselnden Städten. Aus den Gesprächen hat Guillaume Gamblin einen Lebensbericht zusammengestellt, mit vielen Zitaten und erklärenden Überleitungen. Es ist ein Buch der direkten Rede.
Wir lesen von einer politischen Sozialisation in einer politisierten Familie, aber vor allem auf der Straße, mit den Menschen am Rand der Gesellschaft, den Straßenkindern, Trans-Menschen, Prostituierten, mit Kurd*innen und Armenier*innen. Wir lesen von verschiedenen Protestwellen in der Türkei, gefolgt von Repressionen brutalen Ausmaßes. Wir lesen davon, wie ethnische Vertreibungen, Krieg und Genozid, wie die Barbarei der Herrschaft gesellschaftlich verdrängt werden und welche Auswirkungen das auf die Gesellschaft hat.
Pınar ist seit den 1980er Jahren Teil der sich ständig neu erfindenden Opposition, sei es durch eine Werkstatt für Straßenkünstler, ein Wandertheater, Hausbesetzungen, feministische Kooperativen, diverse Formen des Aktivismus und des Antimilitarismus, eine Plattform für soziale Ökologie usw.
Als sie sich doch irgendwann an der Universität einschreibt, um Soziologie zu studieren, ist das keineswegs ein Schritt in eine Karriere, sondern ihrem unbedingten Wunsch nach Wissen zuzuschreiben. Sehr bald verlässt sie das Politikverständnis, das sich in „links“ und „rechts“ aufspalten lässt, oder auch den Gegensatz zwischen Mann und Frau. Ihre Perspektive ist die Ausrichtung auf eine „neue Zivilisation“. Pınars Gesellschaftsvision will auf den Pluralismus von Herausforderungen und Herrschaftssituationen antworten, die nicht hierarchisch angeordnet sind, keine ist wichtiger als eine andere, alle ordnen sich in einen universellen Zusammenhang ein.
Mit 25 Jahren beginnt sie als Studentin, sich in die Kurdistanfrage hineinzubohren, schließlich herrscht Krieg in der Türkei. Sie untersucht die Frage der Gewalt auch auf Seiten des kurdischen bewaffneten Kampfes, wie Gewalt und Märtyrertum zusammenhängen, wie mythologisch-religiöse Referenzen benutzt werden, wie ein Personenkult entsteht. Wie Theorie und Praxis des Nationalstaates zusammenhängen mit Genozid (an den Armenier*innen) und Krieg und Vertreibung (gegen die Kurd*nnen). Sie führt endlos viele Interviews mit Menschen, die den bewaffneten Weg der Guerilla eingeschlagen hatten. Das ist der Schatz, den sich die türkische Polizei aneignen wollte, als sie Pınar 1998 von der Straße weg entführte und einkerkerte.
Zweieinhalb Jahre wurde sie im Gefängnis festgehalten, und nach den Tagen der brutalen Folter lebte sie fortan in einem selbstverwalteten Laboratorium unter den eingesperrten Frauen, in einem Schlafsaal mit 60 Personen. Ihre Forschungen konnte sie hier weiterführen, denn viele ihrer Mitgefangenen waren Kurdinnen.
Nach ihrer Haftentlassung macht sie weiter: Sie ist Mitgründerin der feministischen Kooperative Amargi mit ihrem Slogan: „Gegen das Patriarchat zu kämpfen bedeutet, gegen alle Herrschaftssysteme zu kämpfen“. 2006 ist sie im Redaktionskomitee der gleichnamigen feministischen Zeitschrift, die zur Referenz für die Reflexionen über den Feminismus wird. Eine Hierarchisierung der Kämpfe nach irgendwelchen Prioritäten lehnt auch die Zeitschrift ab. Sie spricht sogar vom „akrobatischen Feminismus“, der nötig sei, um gegen die Krake der Herrschaft mit ihren zahlreichen Tentakeln kämpfen zu können. Sie will die Fähigkeit erlangen, die Not aller unterdrückten Lebewesen in ihrer singulären Existenz zu betrachten, um damit den Weg zu einer radikalen Politik einzuschlagen. Ihr Feminismus besteht nicht primär in der Verteidigung der Frauenrechte, sondern er ist eine Philosophie und eine Politik der universellen Freiheit, ein Weg zur Solidarität der vielen „Unterschiedlichen“.
Die von ihr mitinitiierte Kooperative für soziale Ökologie ist inspiriert von Murray Bookchin, gemäß dem „kein einziges der großen ökologischen Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind, ohne tiefgreifende soziale Veränderungen gelöst werden kann. Eine ökologische Gesellschaft muss nicht-hierarchisch sein.“ Die Kooperative will eine Plattform für verschiedene Initiativen im Großraum Istanbul bauen, um andere Lebensformen, solidarische Organisationsformen von unten zu ermöglichen, insbesondere gegen die sich vollziehende Umwandlung Istanbuls in eine „globale Stadt“ und die damit einhergehende Vertreibung und Enteignung gemeinsam genutzter Orte.
Gegen die Perspektive des bewaffneten Kampfes, der aus der kurdischen Guerilla auch in die zivilgesellschaftlichen urbanen Kämpfe übergreift und Gewalttaten, Männlichkeitswahn und Misstrauen in die Gruppierungen bringt, setzt sich Pınar für die anti-militaristischen Kräfte ein, die zivilen Ungehorsam gegen jede militärische Struktur propagieren. Unter Antimilitarismus verstehen Pınar und ihre Mitstreiterinnen den Kampf gegen jede Hierarchie, gegen jede Legitimation und Organisation von Gewalt und Macht. Militarismus ist für sie die Organisation von Gewalt. Sie sind gegen jede Form von Krieg, auch den von „revolutionären Organisationen“. Pınar kritisiert die PKK als hierarchische und patriarchale Organisation … für deren angebliche Verherrlichung sie zu lebenslanger Haft verurteilt werden soll. Wie üblich ist die Dummheit der staatlichen Institutionen himmelschreiend.

Unter Antimilitarismus verstehen Pınar und ihre Mitstreiterinnen den Kampf gegen jede Hierarchie, gegen jede Legitimation und Organisation von Gewalt und Macht.

Mit dem erzwungenen Schritt ins Exil, einem einzigen Koffer als Gepäck, erweitert Pınar noch einmal ihr Verständnis der Autonomie und erklärt sich gegen alle Grenzen nationalstaatlicher Art: Nationale Zugehörigkeiten und Grenzen seien künstliche Konstruktionen, Lügen. Trotzdem erlebt sie das Exil auch als Orientierungsverlust, dem sie schreibend entgegenzuwirken versucht. Sie vermisst Istanbul als ihren Raum, einen kollektiven Raum, ein Terrain, auf dem die Menschen leben und soziale Beziehungen eingehen. Ein Terrain, das die Menschen formt und das von den Menschen geformt wird, die dort leben. „Sogar die Nomadinnen haben ihren Raum. Sie kennen ihre Wege und verlieren sich nicht darin. Die Nomadinnen öffnen ihre Wege und verwandeln sich beim Vorangehen.“
Pınar schreibt, wird vom PEN unterstützt, geht von Berlin zunächst nach Straßburg, nach Nizza, nach Lyon. Sie geht an die Universität und schreibt ihre Doktorarbeit über die armenische Diaspora. Dann, des Meeres wegen, wieder nach Nizza. Sie schreibt literarisch. Wieder ist sie vieles gleichzeitig: Soziologin, Aktivistin und Schriftstellerin. Auch in Nizza ist Pınar dabei, Räume autonomen Denkens und Handelns zu schaffen. Sie wendet das an, was sie im Gefängnis gelernt hat: sich auf das konzentrieren, was sie hier und heute tun kann. Und der Verlust ihres Terrains in Istanbul? „Wir überschreiten die Grenzen, und wir schaffen neue Länder jenseits der Grenzen.“
Als sie 2023 erfährt, dass ihr Freispruch zum vierten Mal kassiert wird und der Prozess vor dem Höchsten Gericht Istanbuls wieder aufgenommen werden wird, geht es ihr sehr schlecht. Sie ist am Ende ihrer Kräfte, versucht aber auch diesen Zustand kritisch zu durchleuchten: Sie unterscheidet die Solidarität, die ihr immer wieder geholfen hat, von der Viktimisierung. Sie möchte sich nicht auf die Rolle des Opfers reduzieren lassen, denn diese Haltung reproduziert ein Machtverhältnis, schafft Abhängigkeit. „Die Beziehung wird nicht mit der betroffenen Person eingegangen, sondern mit ihrem Status.“
Pınar ist eine Symbolfigur des Widerstands in der Türkei seit den achtziger Jahren und stärker noch seit ihrer Inhaftierung und Anklage 1998. Pınars Nachwort in diesem Buch trägt die Überschrift „Das Glück ist möglich“. Ich wünsche das für ihren Prozess, für sie als Aktivistin der Poesie, für ein Leben voller Wunder und für die „Revolution, sofort!“, wie sie abschließend formuliert. Der armenische Journalist und Aktivist Hrant Dink, der 2007 auf offener Straße in Istanbul ermordet wurde, nannte sie respektvoll „die Unverschämte“. Ich würde vielleicht eher dazu neigen, sie eine Glückssucherin zu nennen, eine, die unerschrocken auf dem Weg der Wunder unterwegs ist und die diese Wunder im Imaginären der Kämpfe um eine Gesellschaft ohne Herrschaft aufspürt.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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