Film-Review

Zurichtung in Nahaufnahme

Der Film „Irdische Verse“ gibt einen Einblick in die täglichen Kämpfe der Iraner*innen mit Regime und Bürokratie

| Nicolai Hagedorn

Achtung Blitzer: Sadaf (Sadaf Asgari) wird zur Rechenschaft gezogen, weil sie in ihrem eigenen Auto keinen Hijab trägt. © Neue Visionen Filmverleih

Die vielleicht eindrucksvollste Episode des iranischen Films, der seit 11. April in den deutschsprachigen Kinos läuft, ist ein Vorstellungsgespräch einer jungen Frau bei einer größeren Baufirma in Teheran. Wir sehen nur die Frau, den männlichen Interviewer hören wir nur. Er fällt aber schon nach wenigen Sätzen durch seine Prahlerei und seinen Chauvinismus auf. Zunächst aber verläuft das Gespräch wie ein übliches Vorstellungsgespräch, der Interviewer erklärt, seine Firma kümmere sich gut um die Angestellten, achte darauf, „dass sie versichert sind, und es gibt Zusatzleistungen, sogar drei Monate Mutterschaftsurlaub.“ Doch bald wechselt der Mann die Anrede, aus dem förmlichen Sie wird ein ranschmeißerisches Du, im Persischen eine Signal für Flirterei, die Fragen werden privat, persönlich, anmaßend.

Bist du wirklich schon 30 Jahre alt? – Ja. – Im Ernst? Du hast dich gut gehalten.

Er befragt sie nach seinen Englischkenntnissen, sie erklärt, sie spreche recht gut Englisch. Er fragt: „You are very beautiful“, was heißt das?

Sie zögert.

Sagtest du nicht, du verstehst gut Englisch? Ein einfacher Satz. You are very beautiful. – Es heißt „Sie sind sehr schön“ – Oh danke, findest du das wirklich?

„Der Film mag absurd und tragikomisch wirken, aber für einen iranischen Bürger ist er hyperrealistisch. Das sind die Gespräche, die wir jeden Tag führen“, erklärt Ali Asgari, einer der beiden Co-Regisseure im Presseheft zu „Irdische Verse“, in dem in verschiedenen kurzen so genannten Vignetten anhand kurzer Gespräche einfacher Bürger*innen mit Vertreter*innen von Behörden bzw. in zwei Fällen privaten Arbeitgebern, die jeweils mit einem Anliegen, einem Interesse an die Autoritäten herantreten, kleine Geschichten erzählt werden.

Der Film ist als Satire gelabelt, aber da die Geschichten und Situationen, wie ja Asgari selbst angibt, im Iran durchaus zum Alltag gehören, verliert „Irdische Verse“ seine satirische Dimension, die Überzeichnung von bürokratischen Gängeleien im Allgemeinen ist ja hier keine Karikatur, sondern spiegelt die realen Zuständen in einem besonders repressiven System wieder.

Das schadet dem Film aber keineswegs, im Gegenteil.

Einmal sehen wir einen Mann, der von einem Standesbeamten erklärt bekommt, dass er seinen Sohn nicht David nennen dürfe, da eine solche Namensgebung „eine fremde Kultur propagieren würde“. In einer anderen Episode wird ein kleines Mädchen in einer Boutique für eine „religiöse Verpflichtungszeremonie“ ausgestattet. Aus dem bunten, tanzenden Kind wird eine graue, verhüllte Puppe und tanzen und hüpfen kann sie in dem schweren hässlichen Gewand auch nicht mehr.

Die einzelnen Episoden haben erzählerisch nichts miteinander zu tun, außer dass sie in ihrer Abfolge von dem verhinderten David bis zu einem 100jähriger Mann in der letzten Einstellung grob den Ablauf eines Menschenlebens nachzeichnen.

Was wir hier präsentiert bekommen, ist nicht weniger als ziemlich dezdierte Staats- und Kapitalismuskritik. Asgari und Khatami belassen es nicht dabei, „das Regime“ als ein den Individuen aufgezwungenes, repressives „Äußeres“ darzustellen, das in seiner konkret-individuellen Form zur Erniedrigung und zum Sadismus neigt, sondern sie weisen ebenfalls auf den Umstand hin, dass diese Entwürdigung des Individuums durch Vertreter der Macht durchaus systemisch, strukturell ist. Das oben ausschnittsweise zitierte Vorstellungsgespräch kann in etwas weniger drastischer Form genauso gut hierzulande oder in anderen demokratischen Staaten, ja in allen Gemeinschaften stattfinden, die extreme Machtgefälle aufweisen oder deren innere Konstitution solche ermöglichen. Das Problem ist dann nicht ein bestimmtes konkretes Regime, sondern die systematische Möglichkeit, Macht auszuüben an sich.

Die besondere Stärke des Films ist also, dass er bei schlichter (moralisierender) Staatskritik nicht stehenbleibt, sondern in der Analyse weitergeht. Die beiden Regisseure nutzen die besondere Möglichkeit des Kinos, menschliche Körper, Gesichter, Gesten, Mimik aus der Nähe zu zeigen meisterhaft. „Wir [haben] das Kino von allem befreit, was den Flammen im Wege stand. Wir wollten sehen, wie scharf dieses Medium werden kann, wie direkt es sein kann“, erklärt Co-Regisseur Asgari. Formal ist der Film minimalistisch. Wir sehen immer nur einen Gesprächspartner, immer den Schwachen, Erniedrigten, während wir die Autorität nur hören können. Die Kamera ist fest und unbeweglich. Durch diese Form wird die Aufmerksamkeit des Zuschauers ganz auf den betroffenen Menschen gerichtet, auf die Zurichtung und ihre sichtbare Wirkung in der jeweils konkreten Situation.

„In „Irdische Verse“ untersuchen wir die Machtdynamik in der zeitgenössischen iranischen Gesellschaft und stützen uns dabei auf Foucaults Ideen zu Bio-Politik und Bio-Macht. Wir untersuchen, wie totalitäre Regime persönliche Aspekte des Lebens des Einzelnen, wie Körper, Sexualität und Identität, kontrollieren“, schreiben die Regisseure in ihrem Statement zum Film.

Und das gelingt. Wir sehen sich krümmende, nervöse sich schämende, geduckte, sich windende Körper, nervöse Hände, wir sehen die Wirkung der repressiven Zurichtungen aus der Nähe und was wir aus dem Off hören, sind Prahlereien, Besserwissereien, Belehrungen und in dem oben erwähnten Vorstellungsgespräch puren Sexismus, chauvinistische Anmache, eine kaum verblümte Erpressung von sexuellen Diensten.

Indem die Regisseure überdies die Abhängigkeit der gezeigten Menschen vom Wohlwollen oder Entgegenkommen der Vertreter der Macht auch auf ökonomische Zusammenhänge zurückführen (jedenfalls in denjenigen Episoden, die im dargestellten Zyklus des Lebens Menschen zum Gegenstand haben, die im werktätigen Alter sind), bekommen sie die tatsächlichen Verhältnisse in kapitalistischen Gemeinschaften in den Blick. Der sexistische Arbeitgeber ist dabei nur ein Beispiel. Auch das Verkehrsamt, das droht, einer Taxifahrerin das Auto abzunehmen, genauso ein weiterer Arbeitgeber, der einen Bewerber zu einer sehr erniedrigenden Scharade zwingt, alle erhalten ihre Macht durch gesellschaftliche Verhältnisse, die den Einzelnen dadurch abhängig macht, dass alle Menschen unter kapitalistischen Bedingungen nur durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft Zugang zu den gesellschaftlich produzierten Reichtümern erhalten können.

Und weil sie vereinzelt sind, weil sie nicht oder zu wenig voneinander wissen, weil sie sich nicht ohne weiteres organisieren können, sind sie den Mächtigen ausgeliefert. Diese Vereinzelung führt der Film durch seine episodenhafte Form eindrücklich vor.

Aber gerade in den unterschiedlichen Reaktionen der Menschenkörper unter der Lupe wird nahegelegt, dass man der „Macht“ durchaus auch entgegentreten kann. Die junge Frau, der das Auto entzogen werden soll, weil sie ohne Kopftuch gefahren sei, reagiert vergleichsweise souverän, macht sich sichtlich lustig über die spießige Fragerin, ein anderes junges Mädchen gibt der Schuldirektorin nicht nur sehr selbstbewusst kontra, sondern überführt sie auch der Bigotterie. Überhaupt sind es in „Irdische Verse“ fast ausschließlich die weiblichen Charaktere, die in ihrer (Körper)haltung so etwas wie Widerständigkeit ausstrahlen, wo die Männer sich meist resigniert und verängstigt in ihr Schicksal fügen. „Die Ereignisse im Iran haben alles vor und nach der Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“ in den Schatten gestellt. Es gab ein Kino davor, und es wird ein Kino danach geben“, stellt Co-Regisseur Alireza Khatami fest.

„Irdische Verse“ ist ein kluger, großartig gespielter Film, vielleicht einer der sehenswertesten des Jahres.

Dies ist ein Beitrag der Online-Redaktion. Schnupperabos der Druckausgabe zum Kennenlernen gibt es hier.

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