grenzenlos

Massenbewegung gegen Erdoğans Autokratie

Pınar Selek: „In der Türkei sind die Proteste dank neuer Annäherungen innerhalb der Aktivist*innenkreise nun widerstandsfähiger“

| Pınar Selek

Beitragerdogan
Demonstrant schaut auf Mitdemonstranten im Gebäude der Istanbuler Stadtverwaltung - Foto: u/Responsible-Cover207 (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sara%C3%A7haneden-%C3%A7ekti%C4%9Fim-baz%C4%B1-kareler-v0-185bukk28bqe1.webp?uselang=de#file)

Die Protestbewegung, die sich nach der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters in der Türkei entwickelt hat, ist das Ergebnis neuer Oppositionsbündnisse gegen die Macht des Autokraten Recep Tayyip Erdoğan. Eine Analyse der Soziologin und gewaltfreien Anarchafeministin Pınar Selek. (GWR-Red.)

Am 19. März 2025 begann in der Türkei eine massenhafte Protestbewegung, nach der Verhaftung von Ekrem Imamoğlu, dem wichtigsten Rivalen von Präsident Reep Tayyip Erdoğan. Der Bürgermeister von Istanbul entstammt zwar der kemalistischen Cumhuriyet Halk Partisi (CHP; „Republikanische Volkspartei“), steht aber gleichzeitig auch an der Spitze des Bündnisses „Urbaner Konsens“, das zusammen mit der prokurdischen „Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie“ (DEM) und Teilen der türkischen Zivilgesellschaft gebildet wurde. Angesichts der gegen dieses Bündnis erhobenen Vorwürfe der „Korruption“ und des „Terrorismus“ antworten seine Unterstützer*innen, dass die Festnahme Imamoğlus nichts weniger sei als ein „Staatsstreich“. In 45 Provinzen der Türkei haben sich progressiv ausgerichtete Milieus versammelt, um trotz eines Demonstrationsverbots und der brutalen Repression zu demonstrieren. In der Folge hat die CHP eine parteiinterne Abstimmung zur vorgezogenen Wahl des Präsidentschaftskandidaten auf Seiten der Opposition durchgeführt. Ekrem Imamoğlu hat sie mit 14,85 Millionen Stimmen gewonnen. Die Protestbewegung nahm jeden Tag zu; die Repression ebenso.

Was geht da vor sich?

Um diese Frage zu beantworten, muss man die Ereignisse in einem größeren Kontext betrachten, der durch systematische Repression und eine sowohl ökonomische als auch geopolitische Krise charakterisiert ist. Aber ich konzentriere mich hier auf die jüngsten Entwicklungen der grenzübergreifenden kurdischen Bewegung, deren Bündnis mit der kemalistischen Opposition sowie der vorläufigen Unfähigkeit des Regimes, diesen Annäherungsprozess zu stoppen.

Angesichts des autoritären Schraubstocks haben die Bewegungsnetzwerke eine pluralistische Opposition hervorgebracht, die dazu fähig ist, den Nationalismus durch konkrete Solidarisierungswellen zu überschreiten.

Im Februar dieses Jahres hat Abdullah Öcalan, der Anführer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der seit 1999 im Gefängnis sitzt, einen Aufruf zur Auflösung der PKK und für das Ende des bewaffneten Kampfes veröffentlicht und damit die Hoffnung auf eine neue Ära des Friedens begründet (vgl. Artikel in GWR 498).
Dieser Wendepunkt, Ergebnis eines schwierigen Verhandlungsprozesses, entfaltet seine Wirkungen sowohl in der Türkei wie in Syrien, wo sich Einigungen zwischen dem Autonomiegebiet von Rojava und dem syrischen Regime abzeichnen. Der ausgerufene Waffenstillstand unterstreicht den Friedenswillen der PKK – eine Position, die im Übrigen von den politischen Repräsentant*innen der kurdischen Bevölkerung geteilt und von einer neu entstandenen, grenzübergreifenden Sozialbewegung unterstützt wird. Davon zeugen die massiven Demonstrationen in den dortigen Gebieten und die Solidarisierungen mit dem Aufruf vom Februar 2025, die am 21. März des Newroz-Festes stattfanden, dem Frühlingsfest, auf dem auch der kurdische Widerstand gefeiert wird.

Der Nationalismus – die chronische Krankheit der türkischen Politik

Jedoch: Die unausgesetzten Bombardierungen in Rojava (der kurdischen Region in Nordwest-Syrien) und die autoritäre Haltung der türkischen Regierung machen den Ausgang der Ereignisse unsicher. Denn auch die Repression nimmt zu, mit der Verhaftung mehrerer Hunderter Journalist*innen, Künst-ler*innen und Aktivist*innen. Mehrere demokratisch gewählte kurdische Bürgermeister*innen sind in den kurdischen Gebieten der Türkei bereits ihrer Ämter enthoben und durch Statthalter der türkischen AKP/MHP-Regierung ersetzt worden – ein bereits üblich gewordenes Vorgehen des Erdoğan-Regimes. Und: Die Verhaftung des Bürgermeisters von Istanbul vollzog sich mit der gleichzeitigen Verhaftung Hunderter seiner Parteimitglieder und seines ihn umgebenden Teams.
Özgür Özel, der Parteivorsitzende der CHP, interpretiert die gegenwärtigen Demonstrationen als Erbe der Revolte im Istanbuler Gezi-Park 2013. Damals wurde bereits einmal ein versuchter Friedensprozess mit der PKK durch ein Attentat der Organisation „Islamischer Staat“ beerdigt. Seitdem ist das Land in einem Tunnel des Horrors verschwunden. Die extreme Repression zielt zugleich auf die kurdische Bewegung und die Demokrat*innen ab, die aus der Gezi-Bewegung hervorgegangen sind. Sie konnte jedoch nicht die Konvergenz der Bewegungen rund um die Kandidatur von Selahattin Demirtas zu den Parlamentswahlen von 2015 verhindern.

800 415 max
Pinar Selek

Dessen historisches Wahlergebnis hat die Partei des Präsidenten, die AKP („Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“), zum Bündnis mit den Neofaschist*innen der Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, „Partei der Nationalistischen Bewegung“) veranlasst. Selahattin Demirtaş, der Co-Vorsitzende der prokurdischen HDP (Halkların Demokratik Partisi; Demokratische Partei der Völker) wurde 2016 verhaftet und ist heute noch im Gefängnis. Dem Regime ist es gelungen, die Gezi-Revolte niederzuschlagen und die Konvergenz der sozialen Kämpfe in der Türkei vorläufig zu verhindern.
Das Bündnis „Urbaner Konsens“, das 2024 entstanden ist, eröffnete nun ein neues Kapitel und ermöglichte es Imamoğlu, die Kommunalwahlen in Istanbul zu gewinnen. Die Regierung versuchte, in unmittelbarer Reaktion darauf, diese neue Oppositionsbewegung zu schwächen. Dafür hat sie eine Politik gewählt, die sich zugleich auf Verständigungsangebote und repressive Maßnahmen stützt. Einerseits versucht sie, die kurdische Bewegung zu isolieren, indem sie sich auf einen angeblichen Friedensprozess mit ihr beruft, andererseits vervielfacht sie die Terrorismusvorwürfe gegen die CHP.
Das Regime wird bei seiner repressiven Politik vom Nationalismus gewisser Strömungen innerhalb der CHP unterstützt. Das ist eine chronische Krankheit der türkischen Politik, die auf einer erfundenen Erzählung basiert, welche dem Negieren des Genozids an den Armenier*innen von 1915 und weiterer Massaker geschuldet ist. Darin liegt auch der Schwachpunkt der kemalistischen Partei. An den ersten Tagen der neuen Protestbewegung entstanden deshalb auch Spannungen nach einer sehr nationalistisch ausgerichteten Rede eines CHP-Politikers, gehalten am 19. März, der den Kurd*in-nen Vorwürfe machte.

Die Veränderung in den kollektiven Aktionen

Jedoch hat Tuncer Bakırhan, der Co-Vorsitzende der DEM-Partei, unmittelbar danach zu einer gemeinsamen Oppositionsfront aufgerufen und dabei unterstrichen, dass seine eigene Partei seit langem unter vergleichbaren Repressionen leidet. Auf Özel, den CHP-Vorsitzenden, ging er mit einer öffentlichen Vertrauenserklärung zu. Folgender Satz fasst seine Position zusammen: „Der Regenbogen wird gewinnen. Die unterschiedlichen Gruppen, die Kurd*innen und die Türk*in-nen, die Alewit*innen und die Sunnit*innen werden vereint gewinnen.“
Allen internen Spannungen zum Trotz wird eine Zerschlagung dieses politischen Bündnisses durch das System von Tag zu Tag unwahrscheinlicher. Die Protestbewegung hat nun dank neuer Konvergenzen aus Akti-vist*innenmilieus an Resilienz gewonnen. Das Bündnis „Urbaner Konsens“ gewinnt vor allem durch die Vertiefung der Beziehungen innerhalb dieses pluralistischen Raums an Zustimmung. Die feministischen, ökologischen, LGBTQ-, die syndikalistischen und antiautoritären Bewegungen befinden sich seit 20 Jahren innerhalb dieses Raumes in einem fruchtbaren Dialog. Auch die Urbanisierung der kurdischen Bewegung seit den 1990er-Jahren ist Teil dieser Dynamik: Konzepte, Formen des Austauschs und von Erfahrungen vermischen sich hin zu einem Paradigmenwechsel innerhalb der kollektiven Aktionen.
Diese Transformation beflügelt nun auch die Basisgruppen der CHT und zwingt die Partei dazu, deren traditionelle Oppositionsschemata zu überwinden, was die politische Macht natürlich stark beunruhigt. Eine sich zusammenfindende Massenmobilisierung lässt sich nicht so einfach unterdrücken. Tatsächlich war schon die Revolte im Gezi-Park nicht einfach vom Himmel gefallen – und sie hat sich trotz der Repression auch nicht einfach verflüchtigt. Angesichts des autoritären Schraubstocks haben diese Bewegungsnetzwerke eine pluralistische Opposition hervorgebracht, die dazu fähig ist, den Nationalismus durch konkrete Solidarisierungswellen zu überschreiten. Der folgende, öffentlich kolportierte Kommentar eines Istanbuler Demonstranten fasst diese Gemengelage zusammen: „Wir sind nicht ein Volk, wir sind viele Völker – und genau darin liegt unsere Stärke!“ Wird diese Stärke ausreichen, um all das Böse auszutilgen, das dieses Land befallen hat? Vielleicht. Jedenfalls fließt das Wasser und findet seinen Weg.

Übersetzung aus
dem Französischen:
Lou Marin

Die französische Originalversion dieses Artikels ist am 29. März 2025 in der französischen Tageszeitung Le Monde unter dem Titel „En Turquie, la contestation est désormais plus résiliente grâce à de nouvelles convergences au sein des sphères militantes“ erschienen und online zu finden auf:
https://www.lemonde.fr/idees/article/2025/03/29/en-turquie-la-contestation-est-desormais-plus-resiliente-grace-a-de-nouvelles-convergences-au-sein-des-spheres-militantes_6587640_3232.html

Pınar Selek ist Dozentin an der Universität von Nizza/Côte d’Azur.
Am 25. April 2025 (nach Redaktionsschluss dieser GWR) hat in Istanbul eine erneute Anhörung im Rahmen der seit 26 Jahren laufenden juristischen Verfolgung gegen Pınar Selek stattgefunden, wegen eines erfundenen Bombenanschlags auf einem Istanbuler Markt 1998 sowie erfundener Vorwürfe der Unterstützung terroristischer Gruppen in ihrem Exilland Frankreich 2024. Sie lebt derzeit im Exil in Frankreich. Die internationalen Solidaritätsgruppen für sie fordern eine Einstellung aller Verfahren. Die Formierung einer erneuten Internationalen Delegation zum Prozess nach Istanbul war auch ein starkes Zeichen für alle nun wegen der Ausübung ihrer Meinungsfreiheit inhaftierten Gefangenen in der Türkei.
Die Graswurzelrevolution wird in einer ihrer nächsten Ausgaben über den Verlauf dieser Anhörung berichten. Kontakt zu den europaweiten Solidaritätsgruppen und Infos zur Internationalen Delegation:
comitepinarselek13@gmail.com

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

Wir freuen uns auch über Spenden auf unser Spendenkonto.