Von der „großen“ Russischen Oktoberrevolution soll hier einmal nicht die Rede sein, die so brachial wie folgenreich gewesen ist. Weniger bekannt ist die „kleine“ Oktoberrevolution von 1944 in Guatemala. Mit dieser im Windschatten des Zweiten Weltkriegs vergessenen, aber für ganz Lateinamerika umso bedeutenderen Revolution beschäftigen sich nicht nur Sachbücher, sondern auch zwei belletristische Bücher: Recht neu „Harte Jahre“ von Mario Vargas Llosa und – schon im Jahr 1958 erschienen – „Weekend in Guatemala“ von Miguel Ángel Asturias.
Zunächst einmal ein Blick auf die Fakten zum historischen Zusammenhang. Handelt es sich doch streng genommen um keine „Revolution“, da sie explizit nur Reformen zum Ziel hatte, aber trotzdem eine quasi revolutionäre Sprengkraft besaß: Ein wenig entwickeltes Land – Guatemala – hatte die Chance, sich auf das Niveau bürgerlicher Demokratien nach dem erklärten Vorbild der USA entwickeln zu können. Das Programm der Regierungen Juan José Arévalo und danach Jacobo Árbenz sah ausdrücklich den Erhalt des Privateigentums vor und wollte besonders das Kleineigentum an Land und die Entwicklung der Arbeiter*innenschaft fördern. Gewerkschaften wurden erstmals zugelassen und Arbeiter*innenrechte eingeführt. Den zentralen Punkt bildete die Agrarreform, in der ausschließlich unbebautes Land an die Masse indigener Besitzloser verteilt werden sollte. Innerhalb von zwei Jahren soll nach offiziellen Angaben eine Million Hektar Land an 200.000 Campesinas und Campesinos, also landlose Landarbeiter*innen, verteilt worden sein, (1) und dies gegen Entschädigung auf Grundlage des von den Eigentümer*innen selbst (in der Regel zu niedrig) gegenüber der Steuerbehörde angegebenen Werts.
Landeigentümer*innen waren seit Kolonialzeiten die schwerreichen weißen Großgrundbesitzer*innen und in neuerer Zeit auch die US-amerikanische „United Fruit Company“ (UFCO; heute „Chiquita“, „Dole“ usw.), die riesige Ländereien besaßen und die bis dato überhaupt keine Steuern gezahlt hatten. Die Betroffenheit der UFCO brachte dann auch die Nordamerikaner*innen auf den Plan. Mit Hilfe einer von der UFCO betriebenen intensiven Werbekampagne zur Beeinflussung politischer Kreise in Washington und maßgeblicher US-Medien gelang es, das für die Company so gefährliche Treiben der Reformregierung Guatemalas als „kommunistisch“ zu deklarieren. „Kommunistisch“ zu sein galt in der Zeit der Hetze gegen Linke und Unangepasste während der McCarthy-Ära als verbrecherisch, auch wenn kaum jemand wusste, was unter „kommunistisch“ eigentlich zu verstehen sei.
Unter den Vorzeichen des Kalten Krieges und der Konkurrenz der Großmächte Sowjetunion und USA wurde schließlich mithilfe der CIA und unter Federführung des US-Botschafters John Emil Peurifoy in Guatemala die militärische Intervention einer Söldnertruppe initiiert. Diese führte im Jahr 1954 zur Beseitigung dieses gemäßigten Reformmodells und verhalf den alten Kräften wieder in ihre früheren Besitzstände. Das Land sollte jedoch für Jahrzehnte und bis in jüngste Zeit nicht wieder zur Ruhe kommen. Wechselnde Militärdiktaturen und ein endloser Bürger*innenkrieg begleiteten nun den Fortgang der Geschichte und lähmen diese – mit kurzen Unterbrechungen – bis heute.
Zwei herausragende Autoren und politische Romanciers, der Guatemalteke Miguel Ángel Asturias und der Peruaner Mario Vargas Llosa, wollten und wollen in ihrem Werk das Augenmerk auf die für Lateinamerika so folgenreiche Interventionsgeschichte lenken, um sie dem Vergessen zu entreißen.
„Weekend in Guatemala“
Das literarische Werk des Schriftstellers Miguel Ángel Asturias, geboren 1899 in Guatemala-Stadt, ist durchwoben von der Geschichte seines Landes und dem Schicksal seiner Ureinwohner*innen, der Maya, die den Großteil der verarmten und rechtlosen Bevölkerung ausmachen. Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller legte 1923 seine Diplomarbeit „El problema social del indio“ (dt. „Das soziale Problem des Indio“) vor, und dieses Thema sollte auch sein zukünftiges literarisches Schaffen begleiten. Besonders seine „Bananentrilogie“ – „Sturm“ (1949), „Der grüne Papst“ (1954), „Die Augen der Begrabenen“ (1960) – zeugen von seinem Wunsch, nach dem Besuch einer Bananenplantage der UFCO „nur noch soziale Romane“ zu schreiben. Auch andere Werke wie z. B. „Die Maismenschen“, „Der Herr Präsident“ und eben „Weekend in Guatemala“ (2) erhalten durch die dezidierte Darstellung der sozialen und politischen Wirklichkeit des Landes eine besondere Authentizität und in den Handlungen ihrer Protagonist*innen ihre große Intensität.
Die namensgebende Titelgeschichte handelt vom geheimen Einsatz eines US-Soldaten, der nicht nachvollziehen kann, warum sein Land, dass mächtigste der Welt, diese kleine mittelamerikanische Republik quasi im Zuge eines Wochenendtrips („Weekend“) überfällt.
Asturias, der wohl in jungen Jahren mit dem Anarchismus sympathisiert hat, flicht die entsprechende Kompetenz in seine Geschichte ein: Ein Landbesitzer namens Tocho, der trotz der Nachteile für seine Person die Reformen der Regierung nachvollziehen kann, gibt zu: „weil wir es doch sind, die den Indios das Land weggenommen haben. Aber jedes Eigentum gründet sich auf Diebstahl.“ „Kommunist!“, entgegnet man ihm. Er antwortet: „Wenn Sie wüssten, wer Proudhon war, würden Sie mich nicht so nennen …“ (3) Oder der italienische Gärtner Tizonelli, der in der Geschichte „Torotumbo“ (4) eine Versammlung rechter Honoratioren („Komitee zur Verteidigung gegen den Kommunismus“) in die Luft sprengt, in der sich auch der Vergewaltiger eines indigenen Mädchens befindet. Tocho und Tizonelli werden realistisch als ambivalente Figuren dargestellt, weil „das Gute“ eben auch mit „Nebenwirkungen“ erreicht wird.
Auch die übrigen Geschichten handeln im Vorfeld und im Verlauf der Intervention im Jahr 1954. Die im politischen Spektrum Rechten und Linken, Herrschende und Beherrschte, sind in den einzelnen Novellen aus ihren Blickwinkeln heraus verstehbar, als handelnde oder erleidende Personen mit ihren jeweiligen Interessen, auch die politisch „neutral“ dargestellten Indigenen mit ihrer Unwissenheit und ihrem Fatalismus. Alles liest sich recht gut und flüssig und wirkt noch so modern, wie neuerdings erst niedergeschrieben.
Nach der Niederschlagung der „Oktoberrevolution“ und der Wiedereinsetzung der vorrevolutionären Verhältnisse in dieser „Bananenrepublik“ musste Asturias Guatemala verlassen und ins Exil nach Argentinien und Europa gehen. 1974 starb Miguel Ángel Asturias als geehrter „Sprecher seines Stammes“ in Paris. (5)
„Harte Jahre“
Nach längerer Pause legt Vargas Llosa mit „Harte Jahre“ (6) wieder einen „politischen Roman“ vor. Wie schon in „Der Krieg am Ende der Welt“, wo die Handlung vor dem Hintergrund von Aufstieg und Fall der brasilianischen Canudos-Bewegung stattfindet, oder in „Tod in den Anden“, einer literarischen Verarbeitung des peruanischen Bürger*innenkriegs und der Bekämpfung der Guerilla „Leuchtender Pfad“ durch den Staat, untersucht der Autor auch hier Motive und Wirkungen des Denkens und Handelns lebendiger Protagonist*innen im politisch-sozialen Kontext.
Vargas Llosa, der in jungen Jahren Journalist gewesen ist, beginnt seinen Politthriller denn auch mit der dokumentarischen Schilderung des Ausnahmezustands in Guatemala im Jahr 1954: Der US-amerikanische Multinationale Konzern „United Fruit Company“ fürchtet um seine herausragende Stellung als Staat im Staate, weil die reformistische Regierung ihr brachliegendes Land an landlose indigene Bauern und Bäuerinnen verteilt. Schließlich gelingt es mit Methoden modernster Werbepsychologie, die Öffentlichkeit und die Regierung der USA für eine Intervention in ihrem „Hinterhof“ zu mobilisieren. Im „Vorher“ genannten Prolog stellt Vargas Llosa zwei nicht unmittelbar in den Hauptstrang der Handlungen des Romans verwickelte Figuren vor, ohne deren Hintergrundaktivitäten das ganze Geschehen jedoch nicht möglich gewesen wäre: Sam Zemurray, der Leiter der „United Fruit Company“, und Edward L. Bernays, ein Werbepsychologe, der schon im Jahr 1928 in seinem Buch „Propaganda“ (7) das Thema Public Relations als die „bewusste und intelligente Manipulation der formierten Gewohnheiten und Meinungen der Massen in einer demokratischen Gesellschaft“ angepriesen hatte. Dies auf Wunsch Sam Zemurrays zugunsten einer Wende in Guatemala umzusetzen, sollte seine Aufgabe als PR-Berater der „United Fruit Company“ sein. Im „Nachher“ genannten Epilog beschreibt der Autor, wie er eine der Hauptfiguren, Marta Borrero, in ihrem Altersruhesitz in den USA interviewt, um – im Rückblick auf die Ereignisse – Erklärungen zu erhalten. Letzte Zufriedenheit will dabei jedoch nicht aufkommen, denn Menschen handeln – bewusst und unbewusst – in einer Grauzone zwischen ihren Licht- und Schattenseiten, um überleben zu können.
Dazwischen liegt die eigentliche Geschichte des Romans, erzählt als spannender Politthriller und Abenteuerroman: Der Diktator der Dominikanischen Republik, Rafael Trujillo, unterstützt die Intervention der US-Amerikaner*innen und die Beseitigung der Reformregierung Árbenz. Der durch diesen Umsturz als Präsident der rechten Regierung eingesetzte General Carlos Castillo Armas verspricht Trujillo, sich zum Dank mit politischen und persönlichen Zugeständnissen zu revanchieren, was er dann aber unterlässt. Trujillo rächt sich, indem er Armas durch einen Geheimagenten namens Jonny Abbes Garcia ermorden lässt. Dieser zieht schließlich auch noch mit Armasʼ Geliebter von dannen, die es sich gerne gefallen lässt. Diese Geliebte namens Marta Borrero erweist sich im Laufe des Romans immer wieder als intelligente und machtbewusste Frau, ihren Männern überlegen, aber als Frau unter patriarchalischen Verhältnissen eben zum Lavieren verurteilt, bis hin zur völligen Grundsatzlosigkeit. Sie rettet sich nach dem Sturz der Trujillo-Herrschaft in die USA, bis sie schließlich dort Jahrzehnte später von Vargas Llosa interviewt wird. Es bleibt letztendlich schwer einschätzbar, ob sie für die CIA tätig war und wie sie es mental geschafft hatte, erst den Präsidenten und anschließend dessen Mörder zu lieben.
Wie bei Asturias sind auch bei Vargas Llosa die Protagonist*innen widersprüchliche Figuren, die aus ihrer Biographie heraus verstanden werden müssen. Vargas Llosa mischt fiktive mit historischen Figuren, und das Buch ist, wie bei ihm gewohnt, hervorragend übersetzt und sprachlich wunderbar gelungen.
Am Ende konstatiert Vargas Llosa, was das verheerende Ergebnis dieser Interventionsgeschichte gewesen ist: Dass nämlich demokratische Alternativen zum autoritären Staatssozialismus in den folgenden Jahrzehnten keine Option mehr für lateinamerikanische Linke sein konnten. Die Analyse des Reformmodells Guatemala durch Che Guevara, der als Zeitgenosse vor Ort war, ergab, dass gegen Armee und intervenierende Großmacht nicht anzukommen ist. Der Weg in die Arme des Staatssozialismus à la Sowjetunion sollte fortan für Kuba und andere revolutionäre Bewegungen die Ultima Ratio sein. Der Tod zehntausender Guerilla-Kämpfer*innen und hunderttausender Zivilist*innen in vielen Ländern des Subkontinents sowie nicht zuletzt der Verlust der Hoffnung auf eine humanistische Systemalternative waren auf Jahrzehnte das Ergebnis dieser verheerenden Hinterhofpolitik der USA.
(1) Augustin Souchy: betrifft: Lateinamerika, Frankfurt am Main 1977, S. 55.
(2) Miguel Ángel Asturias: Weekend in Guatemala. Acht Novellen zum Sturz der Árbenz-Regierung 1954. Deutsche Erstausgabe: Berlin/DDR 1961; hier: Rotpunktverlag, Zürich 1988.
(3) Ebd. S. 162.
(4) Ebd. S. 190-239.
(5) Asturias’ Sohn Rodrigo war ab 1971 ein Führer der Guerilla-Bewegung Organización Revolucionaria del Pueblo en Armas (ORPA), welche die guatemaltekische Militärdiktatur bekämpfte. Er benutzte dazu den Kampfnamen „Gaspar Ilom“ nach einer Hauptfigur aus dem Roman seines Vaters „Die Maismenschen“.
(6) Mario Vargas Llosa: Harte Jahre. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2020, 12,00 Euro (Softcover)/24,00 Euro (Hardcover), ISBN 978-3-518-47134-0
(7) E. L. Bernays, Propaganda, zit. in: Vargas Llosa: Harte Jahre. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2020, S. 9ff.