Beschreibung
Ekkehart Krippendorff
Über den Tag hinaus
Exemplarische Theaterkritik im herrschaftsfreien Diskurs
166 Seiten, statt 14,90 Euro nur noch 4,90 Euro
ISBN 978-3-939045-35-9
Theaterkritiken sind kein literarisches Genre wie der Essay, die Erzählung oder gar der Roman – allenfalls Rezensionen haben mit ihnen etwas gemein. Theaterkritiken sind aber flüchtiger und überleben selten ihren angestammten Erscheinungsort, die Tages- oder Wochenzeitung. Selten tragen sie den Mantel des Zeitungslesers vom übernächsten Tag und ebenso selten treten sie auf die Bühne der Öffentlichkeit mit dem Anspruch, von späteren Lesern und Leserinnen noch wahrgenommen zu werden.
Solche Kritiken stellen bisweilen literarische Ansprüche „über den Tag hinaus“. Um solche geht es bei der hier getroffenen Auswahl aus rund dreißig Bühnenbesprechungen aus fünfundzwanzig Jahren überwiegend Berliner Inszenierungen und einigen wenigen, aber nichtsdestoweniger einschlägigen anderen Beispielen.
Der Autor hat nicht den Ehrgeiz, Maßstäbe kritischen Theaters zur Diskussion zu stellen, wohl aber Maßstäbe für die Theaterkritik und sehr wohl der politischen Thematik bekannter oder weniger bekannter klassischer Stücke aktuelles Gehör zu verschaffen – auch insofern also: „Über den Tag hinaus“.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Leitmotiv: Goethe zu Eckermann, Weimar 23. Oktober 1828
Ohne die kleinen Bühnen kein großes Theater
Vom Kleinsten. Eine von „52 anderen Bühnen in Berlin“
Lob der Graswurzeln
Tribunal und Bühne
Exemplarische Theaterkritiken
Furcht und Elend der Bundesrepublik
Franz Xaver Kroetz: „Ich bin das Volk“. Leitung der Inszenierung: Peter Zadek; im Berliner Ensemble
Anarcho-DDR
Bühnenfassung von Thomas Brussigs Roman „Helden wie wir“. Inszenierung: Götz Schubert; im Berliner Deutschen Theater
An Goethes Faust in Peter Steins Expo-Inszenierung ist die deutsche Theaterkritik gescheitert
Johann Wolfgang von Goethe: „Faust“. Inszenierung: Peter Stein; Expo-Gelände Hannover
Entdeckung und Bereicherung
Eve Slatner: „Der große Tag“. Im Berliner Theaterforum Kreuzberg
Große Gnaden. Vielfältigkeit des Immergleichen
Samuel Beckett: „Happy Days. Glückliche Tage“. Inszenierung: Edith Clever; im Berliner Ensemble
Mitleid mit den Menschen
Anton Tschechow: „Die Möwe“. Inszenierung: Thomas Langhoff; im Berliner Deutschen Theater
Theater pur: dass es das noch – oder wieder – gibt!
Eugene O’Neill: „Eines langen Tages Reise in die Nacht“. Inszenierung: Thomas Schulte-Michels; im Berliner Deutschen Theater
Arbeitslos
Anton Tschechow: „Drei Schwestern“. Inszenierung: Christoph Marthaler; in der Berliner Volksbühne
Bürger und Bürgerinnen auf die Bühne
Georg Büchner: „Woyzeck“. Inszenierung: Volker Lösch; im Staatsschauspiel Dresden
Bier trinken, die Welt erobern
Bertolt Brecht: „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“. Inszenierung: Manfred Karge; Probebühne im Berliner Ensemble
Was macht mächtig?
Friedrich Schiller, Friedrich Hebbel, Alexander Puschkin: „Demetrius“. Inszenierung: „Faust“-Ensemble Peter Stein; in der „Arena“, Berlin
Theater A Fraktion: RAF – Räuber. Kritik der Gewalt
Friedrich Schiller: „Die Räuber“. Inszenierung: Rike Eckermann; in der Klosterruine, Berlin-Mitte
Türkischer Tartuffe
Molière/Nazim Hikmet: „Tartüf 59“/„Tartüf 2000“. Inszenierung: Yilmaz Onay; im Tiyatrom, türkisches Theater in Berlin
Eine Theaterlektion: Ein Engländer spielt „Hitler“ in Berlin
Pit Utton: „Adolf – Theatre against Racism“. Inszenierung: Pit Utton; in der Berliner Akademie der Künste
Voller Töne. Sprachverzicht als Widerstand
Herman Melville: „Bartleby“. Inszenierung: Christoph Marthaler; in der Berliner Volksbühne
Hundeherz!
Michael Bulgakow: „Hundeherz!“. Inszenierung: Christa Weber; im Berliner Hackeschen Hoftheater
Einleuchtender Ehebruch
Johann Wolfgang von Goethe: „Die Wahlverwandtschaften“. Inszenierung: Sylvia Armbruster; im Berliner Schlosspark-Theater
Schule des Zorns: Lehrstück Wasser
Berliner Compagnie: „Das blaue Wunder“. Inszenierung: Berliner Compagnie/Helma Fries, Kreuzberg
Der Clown
Dario Fo: „Die Welt, wie ich sie sehe“. Inszenierung: Dario Fo; im Berliner Ensemble
Die Erotik der Langsamkeit
Alexander Puschkin: „Eugen Onegin“. Inszenierung: Alvis Hermanis; in der Berliner Schaubühne
Vergnügen an bitterer Wahrheit
Carol Fréchette: „Die sieben Tage des Simon Labrosse“. Inszenierung: Britta Schreiber; im Berliner Maxim Gorki Theater
Tod am 43. April 2000
Nikolai Gogol: „Tagebuch eines Wahnsinnigen“. Inszenierung: Dzidek Starczynowski; im Kreuzberger Teatr Kreatur
Dostojewski
Fjodor M. Dostojewski: „Die Sanfte“. Inszenierung: George Steiner; im Kreuzberger Theater am Ufer
Ein besserer Faust
Henrik Ibsen: „Peer Gynt“. Inszenierung: Saskia Kuhlmann; im Staatstheater Cottbus
Die Geschichte gibt keine Ruhe: Namibia und die deutsche Kolonialpolitik
Yvette Coetzee: „No Palm Trees, no Lions, no Monkeys“. Inszenierung: Yvette Coetzee; English Theatre im F 40, Kreuzberg
Verlierer des Großen Spiels
Berliner Compagnie: „Die Verteidigung Deutschlands am Hindukusch“. Inszenierung: Berliner Compagnie/Helma Fries, Kreuzberg
Zustände des Theaters heute
„… die Haupt- und Staatsaktionen aufs Theater zu bringen“
Vortrag zu den Shakespeare-Tagen in Weimar, 23. April 1999
Die große politische Wegscheide des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends
Deutsches Theater nach dem 11. September 2001: „Antigone“, „Titus Andronicus“, „Tristano“
Wo soll die Wut herkommen, bei so stillen Straßen?
Zum Theatertreffen 2010
Abgeschaltete Gefühle
Warum weinen wir nicht mehr, wenn wir Dramen anschauen? Über die Relevanz der zeitgenössischen Bühne (2011)
Lieber Herr Krippendorff
Brief von Ulrich Matthes zum Freitag-Artikel: „Abgeschaltete Gefühle“, 13. Juni 2011
Hermann, der Chefportier
Deutsche Stoffe-Spielzeit (2004) im Deutschen Theater Berlin; Stücke von Heiner Müller und Heinrich von Kleist
Zum Zustand der Theaterkritik heute
Vom Elend der Theaterkritik – anlässlich der „Iphigenie“ in der Berliner Schaubühne
Johann Wolfgang von Goethe: „Iphigenie auf Tauris“. Inszenierung: Klaus Michael Grüber; Berliner Schaubühne (1998)
Rezensionen
Ekkehart Krippendorfs Theatertexte
Es sollte, meint der Kritiker, es sollte im Theater einen besonderen Preis geben, nämlich für die beste Lösung, die Regie und Schauspieler für den “einleuchtenden Ehebruch” finden, der in den “Wahlverwandten” nicht bloß stattfindet, sondern sichtbar unsichtbar dargestellt werden muss. In Goethes Roman begehen die Eheleute doppelten Ehebruch, weil sie, wenn sie miteinander schlafen, jeweils an einen anderen und eine andere denken. In einer Inszenierung des Berliner Schlossparktheaters wird das “mit den einfachsten Mitteln unmittelbar einleuchtend gezeigt”, und der Kritiker würde den Preis sofort dafür vergeben. Der Kritiker ist der vor einem Jahr verstorbene Politikwissenschaftler Ekkehart Krippendorff, seine Rezension stand 2000 in der Süddeutschen Zeitung und sie ist jetzt zusammen mit dreißig weiteren verstreut erschienenen Texten im Verlag Graswurzelrevolution neu herausgekommen (“Über den Tag hinaus. Exemplarische Theaterkritik im herrschaftsfreien Diskurs”. Heidelberg 2019. 168 Seiten, 14,90 Euro). Krippendorff war im Berlin der Sechzigerjahre mit seiner Amerika-Erfahrung einer der Anstifter der Studentenrebellion, er blieb ein engagierter Friedensforscher, aber abends musste er ins Theater. Bei der Ankunft in einer fremden Stadt studierte er noch am Bahnhof das Programm und ließ sich vom laufenden Angebot überraschen. Das Theater konnte gar nicht klein genug sein, und Provinz gab es für ihn nicht, aber Goethe und Shakespeare waren ihm doch die liebsten. Beiden hat er gewichtige Studien gewidmet, bei aller analytischen Draufsicht aber nicht den Blick aus dem Parkett auf die Bühne in Cottbus, Dresden oder Kreuzberg verlernt. Was hilft es, meint der Kritiker, ständig die Hände über wieder ein dürftiges Theaterjahr zu ringen, Regieeskapaden und den Autorenmangel zu beklagen, es geht doch darum, wie der Faden der Theatertradition fortzuspinnen sei. “Um diese Frage zu beantworten, muss man in die Keller und Fabriketagen, Kneipen-Hinterzimmer und unter Dachböden steigen.” Ekkehart Krippendorff hat es getan und dabei immer wieder Neues im Alten entdeckt.
Willi Winkler
erschienen in: SZ, Süddeutsche Zeitung, 2. März 2019