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Ziviler Ungehorsam als Leidensideologie?

| besalino

Wolfgang Sternsteins Wortwahl ist nicht unbedacht. Für ihn gehört zum zivilen Ungehorsam „auch die Bereitschaft, die für die Gesetzesübertretung oder die Gehorsamsverweigerung verhängte Sanktion klaglos (sic!) hinzunehmen“ (GWR 354, S. 7). Die AktivistInnen sollen also bereitwillig, ohne zu knurren und zu murren, den Schuldspruch einer Gerichtsverhandlung akzeptieren und vielleicht die Höhe des Urteils anfechten, aber keineswegs den Verurteilungsprozess als solchen.

Man/frau muss um die dahinterstehenden Auffassungen wissen, um die – aus libertärer Perspektive – negativen, anti-emanzipatorischen Implikationen zu sehen. Das geforderte Aufsichnehmen der Strafe erfüllt zum einen die Funktion einer Bußübung. Denn Ziviler Ungehorsam ist nach Ansicht von Sternstein keine Aktionsform, zu der Menschen per se das Recht haben, sondern (im Ausgangspunkt) eine strafbare verwerfliche Handlung, einer Sünde gleich, die nur durch besondere Umstände und besonders sittliches Verhalten entschuldbar und vertretbar ist.

Mit dieser Sichtweise reiht sich Sternstein unter diejenigen wie Habermas, Sharp, Rawls, Glotz usw. ein, für die die Anerkennung des rechtsstaatlichen Prinzips oberstes Gebot ist: „Mit ihrer Bereitschaft, Nachteile und Strafen hinzunehmen, bekunden sie ihren Respekt vor dem Recht als solchem…“ (GWR 354, S. 7) Wer also Recht bricht, darf gemäß dieser Sicht nicht so verstanden werden, dass er/sie das Recht missachtet. Der Sternsteinschen Logik folgend, könnte man sagen: Durch die reuige Anerkenntnis der Strafe stelle ich den Frieden im gestörten Verhältnis zwischen Bürger und Rechtsstaat wieder her; sie sühnt die Schuld und hebt die Tat zugleich auf eine höhere moralische Stufe.

Was von dieser Logik zu halten ist, hat Hannah Arendt scharfzüngig folgendermaßen kritisiert: „‚Die Idee, dass die Verbüßung einer Strafe die Gesetzesverletzung rechtfertige, leitet sich nicht von Gandhi und der Tradition des zivilen Ungehorsams her, sondern von Oliver Wendell Holmes und der Tradition des Rechtsrealismus. […] Auf dem Gebiet des Strafrechts ist eine solche Doktrin offensichtlich absurd. Die Annahme ist unsinnig, dass Mord, Vergewaltigung oder Brandstiftung gerechtfertigt seien, wenn man nur die Strafe bereitwillig verbüße.’ Es ist höchst bedauerlich, dass in den Augen vieler Leute ein ‚Element der Selbstaufopferung’ als der beste Beweis für die ‚Intensität des inneren Engagements’, die ‚Ernsthaftigkeit des Verweigerers und seine Gesetzestreue’ gilt.“ (1)

Worte wie „klaglos“, „hinnehmen“ vermitteln zum einen, dass hier die freiwillige Unterwerfung unter die Rechtsordnung gefordert ist – genau darum geht es in der Sache. Zum anderen schwingt eine Leidenspassion mit, die stark an christliche Vorbilder erinnert. Auch hier muss man sagen, dass die Leidensprogrammatik Sternsteins Spezifikum ist, aber keineswegs integral dem Zivilen Ungehorsam. Von je her wurde aus dem Umfeld der Graswurzelrevolution daran kritisiert, dass das Leiden zum Aktionsprinzip und die Leidensbereitschaft zur Tugend erklärt wird, abgesehen von den unannehmbaren Rollenbildern, die damit einhergehen.

Sternstein dürfte unter S21-GegnerInnen heute nur wenige finden, die dieser Leidensideologie folgen – und das ist nicht zu bedauern. Viele AktivistInnen sehen in dem freiwilligen Aufsichnehmen der Repression eine Zumutung, die einer Selbstkasteiung gleichkommt.

Die demonstrative Leidensbereitschaft nimmt bei Sternstein eine Schlüsselrolle ein, soll doch durch sie die besondere Lauterkeit der Motive unter Beweis gestellt werden, ja sie wird geradezu durch die Hinnahme der Sanktionen „geadelt“. Solcherart tadelloser Protest – so die Vorstellung über die Wirkungsweise – verlangt Respekt ab (bei der Gegenseite), unterstreicht die Ernsthaftigkeit des Anliegens und wirkt auf andere bewusstseinsläuternd.

Bei den US-AktivistInnen Theodore Olsen und Lynne Shivers liest sich das so: „Zu dieser Haltung gehört das Wesensmerkmal, die Bereitschaft, lieber Leiden auf sich zu nehmen, als Gewalt anzuwenden. Dabei wird der Kampf dennoch unnachgiebig geführt und der Gegner durch die zunächst einseitige Anwendung gewaltfreier Methoden seinerseits zu einer gewaltlosen Austragung des Konflikts gedrängt. Die Folgen seiner Politik und seines Verhaltens werden ihm so lange mit Phantasie und Ausdauer vor Augen gehalten, bis er selbst deren Korrektur nicht mehr im Wege steht.“ (2) Mit anderen Worten: Der Gegner wird solange mit zäher, zu jedem Leiden entschlossenen Gewaltfreiheit konfrontiert (weichgekocht?), bis dieser, entnervt, entwaffnet und im Herzen geläutert, bereit ist, den Forderungen zuzustimmen. Mit Verlaub: Der Glaube, dass sich Menschen verändern und von ihrem Tun abbringen lassen, indem man ihnen moralisch den Spiegel vorhält, ist illusionär. Mehr noch: Dieses mit Missionseifer gezeichnete Bild von gewaltfreier Wirkmächtigkeit ist Ausdruck einer Hybris und Selbstüberschätzung. Es macht aus gewaltfreien AktivistInnen Heilige und Märtyrer.

Unser Ansatz des Zivilen Ungehorsams ist dagegen die Politik der ersten Person Singular. Meint: Wir greifen direkt in politische und sozialwirtschaftliche Prozesse ein und stellen die Verhältnisse selbst her, die wir wollen; kurz: Wir ermächtigen uns selbst, die notwendigen politischen Veränderungen zu schaffen. Anschaulich wird dieses Verständnis im Flugblatt einer Aktionsgruppe im Kampf gegen die rassistischen Gesetze der USA beschrieben, wie sie in der Trennung von Schwarz und Weiß auch in Restaurants zum Ausdruck kamen:

„Wir wollen und können erreichen, dass wir in Zukunft in integrierten Restaurants essen. Wir werden nicht die Gesetzgebung in Anspruch nehmen, um die Integration mit ihrer Hilfe zu erlangen: Wir werden nicht die Inhaber der Restaurants feierlich um Integration nachsuchen, sondern wir werden diese Zukunft einfach schaffen. Genauer: Wir selbst werden die Restaurants zu integrierten machen, und es wird jenen, die über die Macht des Gesetzes und der Eigentumsrechte verfügen, überlassen bleiben zu entscheiden, wie sie auf diese Neuschöpfung reagieren. Darum werden wir jetzt durchsetzen, was wir in Zukunft verwirklicht sehen wollen, und die Gesellschaft muss dazu Stellung nehmen.“ (3)

Diesem frechen Selbstbewusstsein steht das Sternsteinsche ZU-Konzept konträr entgegen. Statt das Bewusstsein von der Macht und Wirkmächtigkeit von ZU zu entwickeln, laufen seine Gebote: „Du sollst die Repression hinnehmen und das Recht achten“ auf eine Disziplinierung der TeilnehmerInnen hinaus. Sie wirken als moralischer Zeigefinger, sich nicht über die Grenzen der rechtsstaatlichen Ordnung hinaus zu bewegen. Genau das aber macht die Stärke von ZU aus.

Die Sternsteinschen Postulate drücken den zivil Ungehorsamen in eine Rechtfertigungsposition. Wer mit diesem Verständnis Zivilen Ungehorsam leistet, handelt aus einer Verteidigungshaltung heraus, nicht mit der Kraft des selbstbewussten Anklägers.

Ob ich die Repression akzeptiere oder nicht, ist keine Stilfrage. Darin kommt etwas sehr Grundsätzliches zum Ausdruck. Die Frage nämlich, ob es überhaupt eine Autorität außerhalb von mir geben darf, der ich mich unterordne. Erich Fromm hat eine klare Antwort darauf gegeben:

„Jeder Gehorsam gegenüber einer Person, einer Institution oder Macht (heteronomer Gehorsam) ist Unterwerfung; er impliziert, dass ich auf meine Autonomie verzichte und einen fremden Willen oder eine fremde Entscheidung anstelle meiner eigenen akzeptiere. Wenn ich dagegen meiner eigenen Vernunft oder Überzeugung gehorche (autonomer Gehorsam), so ist das kein Akt der Unterwerfung, sondern ein Akt der Bejahung. Meine Überzeugung und mein Urteil sind – sofern sie wirklich die meinen sind – ein Teil von mir.“ (4)

besalino

Anmerkungen:

(1): Hannah Arendt: „Ziviler Ungehorsam“ [1970], in dies.: Zur Zeit. Politische Essays, Rotbuch Verlag, Berlin 1986, S. 119-159, hier S. 131.

(2): Olsen/Shivers zit. nach Gernot Jochheim: Die Gewaltfreie Aktion, Rasch und Röhring Verlag, Hamburg 1984, S. 25.

(3): Zit. nach Gernot Jochheim, ebenda, S. 14/15.

(4): Erich Fromm: Über den Ungehorsam und andere Essays, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1982, S. 12.

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