Nach fünf Jahrzehnten Guerillakrieg und Militärrepression trat im Dezember 2016 in Kolumbien ein fragiler Friedensvertrag in Kraft, allerdings unter Aufrechterhaltung der sozialen Ungerechtigkeit. Bereits vor zwanzig Jahren entstand in Kolumbien unter den ungünstigen Bedingungen von Militärdiktatur und Bürgerkrieg die Friedensgemeinschaft von San José de Apartadó. Sie ist ein ermutigendes Beispiel für erfolgreichen gewaltfreien Widerstand von unten. (GWR-Red.)
War Resisters' International (Hg.): Handbuch für gewaltfreie Kampagnen, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg, erscheint voraussichtlich Ende Oktober 2017, 256 Seiten, 28 Fotos, 25 Abbildungen (Tabellen/Grafiken), 18,90 Euro, ISBN: 978-3-939045-32-8
Am 23. März 1997 wurde die Friedensgemeinschaft von San José de Apartadó in Kolumbien gegründet. Die Stadt San José und ihr landwirtschaftliches Hinterland in den gebirgigen Zonen der Region Urabá sind berüchtigt für ihre Gewalt und Instabilität. Die Gemeinschaft lebt nach klaren, selbst gesetzten Regeln:
Sie weigert sich, an bewaffneten Konflikten teilzunehmen; sie lehnt es ab, Informationen an kriegführende Parteien weiterzugeben oder ihnen Hilfestellung zu leisten; sie verpflichtet ihre Mitglieder zu Gemeinschaftsarbeit. In Erzählungen über ihre eigene Geschichte erinnert sich die Friedensgemeinschaft an das Massaker von acht LandarbeiterInnen durch die kolumbianische Armee im Jahre 1977; die Familien dieser Opfer leben nun in der Friedensgemeinschaft.
Zwanzig Jahre nach diesem Massaker wurde die Friedensgemeinschaft gegründet, in dem Versuch, auf dem Land zu bleiben und eine prinzipielle Ablehnung der Gewalt zu praktizieren, die in den 1990er-Jahren in Kolumbien grassierte. Im September 1996 und Februar 1997 gab es weitere Massaker und zwischenzeitlich wurden im Januar 1997 achthundert Menschen gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben. Im März 1997 wurde die Friedensgemeinschaft gegründet.
Die Siedlungen der Friedensgemeinschaft liegen an einem Knotenpunkt strategischer und ökonomischer Interessen: nahe an der karibischen Küste, nahe an den Waffen- und Drogentransportwegen von und nach Europa und den USA. Schließlich ist das fruchtbare Land, in einer Gegend mit geringer Staatspräsenz, ideal für den Kokaanbau.
In der Umgebung der Gemeinschaftssiedlungen wird der Kampf um die Kontrolle des Landes seit langem gewaltsam ausgetragen. Die Gewalt in Kolumbien resultiert aus diesem Kampf um die Kontrolle des Landes, der nicht nur der Kontrolle der Ressourcen dient, sondern auch soziale und politische Kontrolle nach sich zieht.
Darum ist die Friedensgemeinschaft so ein symbolträchtiger Fall für sozialen Widerstand in Kolumbien. Durch den Aufbau einer pazifistischen Zone verzichtet sie auf die Kultur der Gewalt als Mittel zur Macht und befürwortet Neutralität. Durch die Betonung von Gemeinschaftsarbeit verzichtet sie auf Profitgier. Sie ersetzt sie mit Gemeinschaftswerten, Verwandtschaftsbindungen und Respekt vor dem Land.
Die Kosten des Friedens in einer Kriegszone
Drei bewaffnete Gruppen kämpfen um das Land: die kolumbianische Armee; paramilitärische Gruppen, die oft Hand in Hand mit dem Militär operieren; und die Guerilla-Armee Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC, Revolutionäre Bewaffnete Kräfte Kolumbiens). Alle drei Gruppen sind verantwortlich für die Attentate auf Mitglieder der Friedensgemeinschaft, obwohl die Mehrheit der Morde auf Kosten der Armee und der paramilitärischen Gruppen geht.
Seit 1997 wurden über 200 Mitglieder der Gemeinschaft ermordet; bis 2014 wurden nur zwei von 900 in der Gemeinschaft aufgezeichneten und dokumentierten Menschenrechtsverletzungen vor Gericht verhandelt. Im Moment hat die Gemeinschaft etwa 600 Mitglieder.
Die Friedensgemeinschaft hat eine Geschichte von friedlichem und aufrichtigem Widerstand im Angesicht von Brutalität. Sie kann einige beeindruckende Erfolge für sich verbuchen, nicht zuletzt die Tatsache, dass sie weiterhin ihr eigenes Land bebauen und ihre Höfe bewirtschaften kann.
Gewaltfreier Widerstand gegen die Kultur des Krieges
Die internen Regeln der Gemeinschaft stellen eine Ablehnung der politischen Ökonomie in einer peripheren Konfliktzone wie Urabá dar. Die dortige Wirtschaft wird von denen, die durch sie zu Macht gelangt sind, geschützt und energisch vorangetrieben. Die Friedensgemeinschaft lehnt den Gebrauch von Gewalt als eine legitime Machtanwendung ebenso ab wie den Anbau von Koka. Ihre Mitglieder schätzen Gemeinschaftsarbeit als ökonomisches Modell. Die Friedensgemeinschaft praktiziert eine direkte Form der Demokratie. Sie betont Regionalisierung, Nachhaltigkeit, Gemeinschaftsorganisation und Ablehnung von Vertreibung. Ihre Mitglieder stehen ein für ihre Prinzipien und oft sterben sie dafür.
Mit der Zeit hat die Friedensgemeinschaft eine Reihe von Formen gewaltfreien Widerstands und Interventionen entwickelt, um den verschiedenen Bedrohungen zu begegnen, denen sie und ihr Lebensstil ausgesetzt sind. Ein Tag pro Woche wird für Gemeinschaftsarbeit genutzt. Dann hilft man beispielsweise einem einzelnen Mitglied der Gemeinschaft oder arbeitet zusammen auf Gemeindeland – jede Siedlung der Friedensgemeinschaft ist in Arbeitsgruppen aufgeteilt, die mit ihrem gewählten Delegierten der Arbeit nachgehen. Bei den gelegentlich anfallenden größeren Projekten, wie z.B. die Verbesserung der Wege zwischen den Dörfern, arbeitet die ganze Gemeinschaft zusammen.
Eine Form des Widerstands besteht darin, die Herausforderungen und die Gewalt, denen die Gemeinschaft ausgesetzt ist, öffentlich aufzuzeichnen. Der interne Rat der Gemeinschaft gibt regelmäßig öffentliche Stellungnahmen heraus und stellt sie ins Internet. Zum Beispiel, wenn ein Bataillon der Armee auf ihrem Land kampierte; wenn paramilitärische Gruppen versuchten, ein Mitglied zu bedrohen oder zu bestechen, falsche Anschuldigungen zu machen; wenn ein Mitglied entführt oder ein Haushalt überfallen wurde. Diese öffentlichen Stellungnahmen sind nicht nur dazu da, die Arbeit und Lebenswelt der Gemeinschaft zu beschreiben, sondern sie bleiben öffentlich zugängliche Aufzeichnungen, die von anderen AktivistInnen genutzt werden können, um Veränderungen zu reklamieren, die Transparenz der Aktivitäten der Gemeinschaft aufrecht zu erhalten und falsche Anschuldigungen zu widerlegen.
Der interne Rat wird von der Gemeinschaft einmal im Jahr gewählt, bei einer der halbjährlichen Versammlungen der gesamten Bevölkerung. Der interne Rat trifft sich einmal wöchentlich, diskutiert die Situation der Gemeinschaft, anstehende interne und externe Probleme und die strategische Ausrichtung. Der Rat ist auch zuständig für die gemeinschaftlich betreuten Ländereien und Ressourcen, es sei denn diese Aufgabe, wie z.B. das Management des Kakaoanbaus, wurde delegiert. Die Mitglieder des internen Rats sind das öffentliche Gesicht der Gemeinschaft und sie setzen sich einem hohen persönlichen Risiko aus. Nichtsdestotrotz gehen sie auf Vortragsreisen und zu Treffen mit Offiziellen außerhalb der Gemeinschaft. Diese regulären Strukturen aus Wahlen, öffentlicher Kommunikation und Gemeinschaftsarbeit sorgen für die tagtäglichen Rahmenbedingungen der Gemeinschaft und sie bieten auch die Basis für Strategien in Notfällen.
Wenn ein Mitglied der Gemeinschaft belästigt, bedroht oder attackiert wird, antwortet die gesamte Gemeinschaft, geführt vom internen Rat. Zusätzlich zu den veröffentlichten Anklagen in den regulären Berichten kann auch eine Gruppe von Gemeinschaftsmitgliedern, oft mit internationaler Begleitung, an eine bewaffnete Gruppe herantreten und die Freilassung eines Mitgliedes verlangen bzw. über deren jüngste Übergriffe Klage führen.
Im Jahre 2013 gab es in den benachbarten Kommunen Rodoxali und Sabaleta einen großen Einmarsch von paramilitärischen Truppen, die Menschen aus ihren Häusern vertrieben, junge Männer gewaltsam rekrutierten und andere „verschwinden“ ließen.
Die Friedensgemeinschaft organisierte eine einwöchige „Pilgerschaft“ mit einer Gruppe von etwa 100 Leuten unter Beteiligung von auswärtigen Verbündeten, wie JournalistInnen, RechtsanwältInnen und internationalen BegleiterInnen. Sie gingen in diesen Kommunen auf die Suche nach den paramilitärischen Gruppen, um einzufordern, dass das Land und das Leben ihrer NachbarInnen respektiert würden. Die paramilitärischen Gruppen vermieden ein Zusammentreffen und versteckten sich vor der „pilgernden“ Gruppe, aber die Botschaft war klar und paramiltärische Aktivitäten in der Region ließen beträchtlich nach. Der Mut der Menschen, unbewaffnet eine bewaffnete Gruppe zu konfrontieren, die wiederholt Massaker gegen die Gemeinschaft begangen hat, Mitglieder von Familien ermordet hat und öffentlich Drohungen verbreiten ließ, ist nicht zu unterschätzen.
Interne Schwierigkeiten, zum Beispiel wenn jemand Gemeinschaftsland abzweigte, werden strikt gehandhabt und manche Leute werden sogar gebeten, die Gemeinschaft zu verlassen, um Einheit zu gewährleisten und sicherzustellen, dass die Gemeinschaft nicht beschuldigt werden kann, ihre eigenen Regeln zu missachten.
Die Friedensgemeinschaft bleibt standhaft in ihrer Haltung gegen Gewalt und Terror. Sie hat ihr Gemeinschaftsland erweitern können und entwickelt effektive Methoden von Gemeinschaftsarbeit zum Nutzen aller. Sie hat die „Universität der Bäuerinnen und Bauern“ gegründet, die gleichgesinnte Gemeinschaften aus ganz Kolumbien in die Friedensgemeinschaft einlädt, um sich über Technologien und Strategien auszutauschen. Sie hat humanitäre Zonen eingerichtet, wo jede Person, ob sie nun Mitglied ist oder nicht, Zuflucht nehmen kann vor den erbitterten Kämpfen zwischen den drei bewaffneten Gruppen in der Nähe ihrer Dörfer. Ihre demokratische Struktur und Weitsicht hat dieser Gemeinschaft nicht nur in ihrer Heimatregion Antiochia und im benachbarten Cordoba Anerkennung verschafft, sondern sie ist mittlerweile im Bewusstsein der Nation verankert.
Internationale Präsenz und Unterstützung
Seit ihrer Gründung genießt die Friedensgemeinschaft die Unterstützung von Gruppen der kolumbianischen und internationalen Zivilgesellschaft. Organisationen aus der ganzen Welt helfen der Friedensgemeinschaft. Seit 2002 leben Mitglieder des Fellowship for Reconciliation Colombia (Versöhnungsbund Kolumbien), nun unter dem Namen FOR Peace Presence (Versöhnungsbund Präsenz für Frieden), mit der Gemeinschaft von La Unión. Sie begleiten die Mitglieder der Gemeinschaft bei ihren täglichen Arbeiten und machen gewaltsame Repressalien weniger wahrscheinlich. Während des ganzen Jahres leben Mitglieder von Peace Brigades International (PBI, Internationale Friedensbrigaden) und Operazione Colomba (Gewaltloses Friedenskorps der Gemeinschaft Papst Johannes XXIII) mit der Friedensgesellschaft und stellen die physische und politische Begleitung zur Verfügung, um die Sicherheit dieser inspirierenden Organisation zu fördern.
Erfolg des gewaltfreien Widerstandes
Fortschritte wurden gemacht. Seit dem Angriff vom 21.-22. Februar 2005 gab es kein „schwerwiegendes“ Massaker mehr. Der UN-Menschenrechtsrat hat die gegen die Gemeinschaft begangenen Missbräuche untersucht. Im Juli 2012 forderte das kolumbianische Verfassungsgericht das Büro des kolumbianischen Präsidenten auf, früher gemachte Stellungnahmen zurück zu ziehen und sich bei der Gemeinschaft zu entschuldigen; Präsident Santos tat dies im Dezember 2013. Auch fordert das Verfassungsgericht die Etablierung von direkten Kommunikationskanälen zwischen der Regierung und der Friedensgemeinschaft sowie die Gründung einer Kommission für Evaluierung und Gerechtigkeit. Diese Forderungen wurden noch nicht in die Tat umgesetzt.
Seit Bildung einer Selbstverwaltungsstruktur für die Friedensgemeinschaft wurden auf ihre Mitglieder Attentate und Belästigungen verübt; viele mussten sich verstecken oder starben.
Trotz dieser Rückschläge macht die Friedensgemeinschaft weiter, nun schon in der zweiten Generation, als sich selbst erhaltende, demokratische Gemeinschaft, die standhaft zu ihren Prinzipien Gewaltfreiheit, gemeinschaftliche Arbeit und Recht auf Land steht.
Die Friedensgemeinschaft gehört zu einer der verwundbarsten Gruppen in Kolumbien: Kleinbäuerinnen- und bauern.
Weltweit ist Kolumbien das Land mit der höchsten Zahl interner Flüchtlinge. Mit über fünf Millionen vertriebenen KolumbianerInnen ist klar, dass der Kampf um Land einer der Hauptgründe für den bewaffneten Konflikt in Kolumbien ist.
Es ist erfreulich, dass die Friedensgemeinschaft sich über so lange Zeit trotz Attacken auf gewaltfreie Weise für ihre Rechte einsetzt. Es macht diese Gemeinschaft zu einer führenden Kraft im Kampf für ein friedliches, gerechtes Kolumbien.