Basisdemokratie

Der Aufruf von Commercy/Lothringen für direkte Demokratie

| Die Gelbwesten aus Commercy

Foto: Patrice CALATAYU (CC BY-SA 2.0), via flickr.com

Der Aufruf von Commercy (bei Verdun) vom 2. Dezember 2018 hat innerhalb der Bewegung seine Runde gemacht und viel Beachtung gefunden. Hier die Dokumentation in deutscher Übersetzung.

Seit zwei Wochen hat die Bewegung der Gelbwesten Hunderttausende überall in Frankreich auf die Straßen gebracht, oft zum ersten Mal in ihrem Leben. Der Preis für Dieselkraftstoff [Dieselautos sind in Frankreich noch weit verbreiteter als in der BRD; d.Ü.] war der Tropfen auf den heißen Stein, der das Präriefeuer entfacht hat. Der Leidensdruck; der Eindruck, die Schnauze voll zu haben; das Gefühl der Ungerechtigkeit waren noch nie so verbreitet gewesen. Jetzt organisieren sich überall im ganzen Land Hunderte lokaler Gruppen selbst, jedesmal auf unterschiedliche Weise.

Hier in Commercy, im Departement Meuse, funktionieren wir seit unsern Anfängen mittels täglich stattfindender Volksversammlungen, an denen jede Person gleichberechtigt teilnimmt. Wir haben Blockaden der Zufahrtsstraßen zur Stadt, der Einfahrten zu Tankstellen und filternde Straßensperren [frei für Autos, geschlossen für LKWs und Lieferwägen; d.Ü.] organisiert. Daran anknüpfend haben wir eine Hütte auf dem zentralen Platz der Stadt aufgestellt. Wir treffen uns dort jeden Tag, um uns zu organisieren, über unsere nächsten Aktionen zu entscheiden, mit den Leuten zu reden und diejenigen einzuweisen, die sich der Bewegung anschließen. Wir organisieren dort ebenfalls „solidarische Suppenküchen“, um so einen schönen Moment in Gemeinschaft zu erleben und uns kennenzuleren – unter Bedingungen der Gleichheit.

Aber jetzt schlagen uns die Regierung und einige Fraktionen der Bewegung vor, für die gesamte Region [die Verwaltungsebenen in Frankreich sind, von unten nach oben, Gemeinderat/Stadtrat, Departementsrat, Regionalrat, nationale Ebene; d.Ü.] Repräsentant*innen zu benennen! Das bedeutet: Einige Personen sollen zu den einzigen „Ansprechpartner*innen“ der öffentlichen Behörden werden und unsere Vielfalt widerspiegeln.

Wir aber wollen keine „Repräsentant*innen“, die notwendig dabei enden werden, an unserer Stelle zu sprechen!

Wozu soll das gut sein? In Commercy hat eine zeitlich befristete Delegation den Unter-Präfekten (offizieller Repräsentant des Departements) getroffen; in größeren Städten haben andere punktuelle Delegationen den Präfekten gesprochen. Diese offiziellen Vertreter haben bereits jetzt unsere Wut und auch unsere Forderungen vergrößert. Sie wissen bereits jetzt, dass wir entschlossen sind, dieser verhassten Präsidentschaft ein Ende zu bereiten und mit ihr dieser verabscheuenswerten Regierung und dem verfaulten System, dass sie verkörpern!

Und genau das ist es, was der Regierung Angst macht! Denn sie weiß, wenn sie damit anfängt, bei der Frage der Steuern und der Benzinpreise nachzugeben, muss sie auch bei den Renten, den Arbeitslosen, den Beamten und dem ganzen Rest nachgeben! Sie weiß außerdem sehr gut, dass sie damit Gefahr läuft, eine allgemeine Bewegung gegen das System zu verstärken!

Die Regierung sucht verzweifelt „Repräsentant*innen“ der Bewegung

Es geht der Regierung bei ihrer Forderung nach „Repräsentant*innen“ nicht um das Verstehenwollen unserer Wut und unserer Forderungen: Sondern sie will uns damit einschränken und begraben! So wie üblicherweise mit den Gewerkschaftszentralen sucht sie nach Vermittler*innen, nach Leuten, mit denen sie verhandeln kann. Sie sucht nach Leuten, auf die sie Druck ausüben kann, um diese Bewegungseruption zu befrieden; nach Leuten, die sie dann in der Folge vereinnahmen und dazu bewegen kann, die Bewegung zu spalten, um sie begraben zu können.

Aber dabei berücksichtigen sie nicht die Stärke und die Intelligenz unserer Bewegung. Dabei denken sie nicht daran, dass wir bereits dabei sind, darüber nachzudenken, wie wir uns organisieren und unsere Aktionen weiter entwickeln, die ihnen Angst und Bange machen; dass wir bereits dabei sind, unsere Bewegung zu vergrößern!

Außerdem berücksichtigen sie alle eine wichtige Sache nicht, dass nämlich die Bewegung der Gelbwesten in verschiedenen Formen und auch jenseits der Kaufkrafterhöhung die Macht des Volkes, durch das Volk und für das Volk einfordert. Das meint ein neues System, in dem die „Nichtswürdigen“, wie sie uns mit Verachtung bezeichnen, die Macht über all diejenigen wieder an sich reißen, die sich überfressen – über die Führungsschichten und über die Macht des Geldes! Denn das heißt Gleichheit und Gerechtigkeit. Das bedeutet Freiheit. Das ist es, was wir wollen. Und das geht von der Basis aus!

Wenn wir aber „Repräsentant*innen“ und „Sprecher*innen“ benennen, dann endet das nur damit, dass wir wieder zu Passiven gemacht werden. Schlimmer noch: Wir würden ganz schnell das System reproduzieren und von Oben nach Unten verwalten, so wie die Lumpenkerle, die uns regieren. Diese sogenannten „Volksvertreter“, die sich die Taschen füllen, die Gesetze beschließen und uns das Leben verschlimmern – und nur den Interessen der Ultra-Reichen dienen!

Reichen wir dem Räderwerk der Repräsentation und der Vereinnahmung nicht den kleinen Finger. Es ist jetzt nicht die Zeit, unsere Stimme einer Handvoll von Leuten – auch aus unseren Reihen, und wenn sie noch so ehrenwert sind – zu überantworten. Wir wollen, dass die Regierenden uns allen zuhören – oder eben niemandem!

Von diesem Ort Commercy aus rufen wir daher dazu auf, überall in Frankreich Volkskomitees zu gründen, die als regelmäßige allgemeine Versammlungen fungieren. Es sollen Orte sein, an denen alle frei zu Wort kommen, an denen man es wagt, die Meinung zu sagen, Leute für etwas zu begeistern, sich gegenseitig zu helfen. Wenn es dabei zu Delegierten kommt, dann nur auf der Ebene jedes lokalen Volkskomitees der Gelbwesten – und damit so nah wie möglich an der Stimme des Volkes. Und diese Delegierten haben imperative Mandate, ihre Funktionen sind widerrufbar und ihre Zuständigkeiten rotieren. Sie unterliegen der Transparenz – und basieren auf Vertrauen.

Wir rufen gleichfalls dazu auf, dass die Hunderte von Gruppen der Gelbwesten eine Hütte errichten, wie wir in Commercy, oder auch ein „Volkshaus“ wie in Saint-Nazaire, kurz: einen gemeinsamen Ort für Versammlungen und Fragen der Organisierung! Und wir rufen dazu auf, sich untereinander zu koordinieren, auf lokaler Ebene und auf der Ebene des Departements – unter den Bedingungen der Gleichheit!

Auf diese Weise werden wir diese Auseinandersetzung gewinnen, den von da Oben aus sind sie es nicht gewohnt, das alles zu verwalten! Und das macht ihnen viel Angst. Lassen wir uns nicht fremdbestimmen! Lassen wir uns nicht vereinnahmen und spalten!

Wir sagen also Nein zu Repräsentant*innen und zu selbst erklärten Sprecher*innen! Lasst uns die Macht über unser Leben wieder zurückgewinnen! Es leben die Gelbwesten in ihrer Vielfältigkeit!

Es lebe die Macht des Volkes, durch das Volk, für das Volk!

Wenn ihr euch auf der Grundlage dieses Aufrufs wiederfindet, in eurer lokalen Gelbwesten-Gruppe oder eben in anderen Gruppen, nehmt zu uns Kontakt auf, damit wir uns auf der Basis egalitärer Volksversammlungen koordinieren können: giletsjaunescommercy@gmail.com

Die Gelbwesten aus Commercy, 2.12.2018

Veröffentlicht auf der französischen anarchistischen Website-Zeitung „À Contretemps“ (Im ungünstigen Zeitpunkt), 4. Dezember 2018; Übersetzung: Lou Marin

Dies ist ein Beitrag aus der monatlich erscheinenden Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.