so viele farben

Lasst sie nicht ertrinken!

Ein Callcenter gegen das Sterben im Mittelmeer

| Elisabeth Voß

Fotos: Stefaan Vermeulen (Mare nostrum) via flickr.com (CC BY 2.0), Paul Bischoff (red telephone) via flickr.com (CC BY 2.0)

Im Oktober 2019 wurde das Alarm Phone fünf Jahre alt: Ein selbstorganisiertes Callcenter gegen das Sterben im Mittelmeer. Mittlerweile 200 Freiwillige in europäischen und nordafrikanischen Ländern stellen mit unbezahlten Acht-Stunden-Schichten sicher, dass die Alarm Phone-Notrufnummer rund um die Uhr erreichbar ist. Sie nehmen Anrufe entgegen von Menschen, die im Mittelmeer in Seenot geraten, oder die in Sorge sind um ihre Angehörigen auf See.

Diese dritte Jubiläumsbroschüre – die erste erschien nach einem Jahr, die zweite nach drei Jahren – berichtet über die Arbeit des Callcenters, über aktuelle Entwicklungen und dokumentiert Rettungs- und Todesfälle. Jeder Band enthält eine Chronologie. Die aktuellsten Fälle aus diesem Jahr: Im Juli ertranken mehr als 150 Menschen im zentralen Mittelmeer. Im August rettete die „Open Arms“ 125 und die „Ocean Viking“ 80 Menschen. In beiden Fällen hatte das Alarm Phone auf die Seenotfälle aufmerksam gemacht. In den fünf Jahren seines Bestehens hatte das Callcenter Kontakt mit 2.800 Booten und hat zur Rettung von Tausenden Menschen vor dem Ertrinken beigetragen. Jedoch mussten die Aktivist*innen viel zu oft auch das Sterben auf See bezeugen.

Die Autor*innen schildern ihre Telefonate und haben einige Gespräche aufgezeichnet. Es geht um konkrete Daten zur Situation und Position des Bootes, aber ebenso um eine freundliche, solidarische Ansprache der Menschen, und denen, die oft sehr verzweifelt sind, Mut zuzusprechen. Das Alarm Phone alarmiert die zuständigen Küstenwachen und versucht zu verfolgen, ob diese wirklich eine Such- und Rettungsmission starten. Es kooperiert mit den verbliebenen zivilen Rettungsinitiativen, die trotz Repression noch Schiffe oder Aufklärungsflugzeuge betreiben können.

Die Flüchtenden nicht allein lassen

Das Alarm Phone dokumentiert und veröffentlicht, was auf dem Mittelmeer geschieht, wie die Rettung oft verzögert oder verweigert wird, und wie versucht wird, Menschen an der Überquerung des Mittelmeers zu hindern. Das Projekt skandalisiert eine europäische Politik, die mit ihrer Flüchtlingsabwehr für das Sterben auf dem Mittelmeer verantwortlich ist und zu diesem Zweck auch militärische Mittel einsetzt. Dabei wird das Leben der Flüchtenden aufs Spiel gesetzt und ihr Grundrecht auf Asyl missachtet. Bei Pullback-Aktionen holen türkische oder libysche Küstenwachen rechtswidrig Boote zurück in ihre Hoheitsgewässer, umgekehrt erzwingen beim Pushback beispielsweise griechische Küstenwachen die Rückkehr von Booten aus europäischen Gewässern in den Einflussbereich der Türkei.

In der Broschüre wird über die Arbeit des Alarm Phone berichtet und über die Situation auf den drei Hauptrouten. Im westlichen Mittelmeer zwischen Marokko und Spanien haben 2018 die Überfahrten deutlich zugenommen. Der mit Abstand am meisten frequentierte Weg führt jedoch nach wie vor durch das ägäische Meer von der Türkei nach Griechenland. Je schwieriger die Überfahrten werden, desto mehr Menschen versuchen es auf dem Landweg über den Fluss Evros. Auf beiden Wegen kommt es immer wieder zu massiven Menschenrechtsverletzungen, die militärische Grenzsicherung wird durch die EU finanziert, auch die NATO ist in den Gewässern unterwegs. Über das zentrale Mittelmeer von Libyen und Tunesien nach Italien und Malta wagten sich weniger Schiffe. Seit einiger Zeit kommen auch wieder Boote direkt an den europäischen Küsten an, alleine in den Monaten März bis Juni 2019 mit weit über 1.000 Menschen.

Zur Arbeit beim Alarm Phone gehört auch die Konfrontation mit dem Tod. Manche Aktivist*innen müssen Verstorbene dokumentieren und identifizieren, um die Angehörigen benachrichtigen zu können, denn nichts ist quälender als die Ungewissheit, ob die Liebsten noch am Leben sind oder nicht. Auch das Gedenken ist Teil der Solidarität. So wird zum Beispiel in Mailand eine monatliche Demonstration organisiert, so wie die der Mütter von Verschwundenen in Buenos Aires. In Griechenland wurden Orte des Gedenkens errichtet, wo Angehörige gemeinsam mit solidarischen Begleiter*innen trauern können.

Bewegungsfreiheit für alle!

Ein weiteres Callcenter-Projekt, das langsam seine Arbeit aufnimmt, ist das Alarme Phone Sahara. Es hat seinen Schwerpunkt in Niger, wo Deutschland und andere EU-Länder zwecks Migrationskontrolle Sicherheitskräfte finanzieren. Jenseits der kontrollierten Reisewege ist die Fahrt durch die Wüste gefährlich, immer wieder bleiben Autos liegen. Die Rettung ist sehr mühsam, das Sahara Phone berät auch Reisende und dokumentiert Notfälle.

Hotline-Projekte werden ebenfalls in Slowenien und an der Grenze zwischen Italien und Frankreich in den Alpen aufgebaut, sowie in Frankfurt am Main ein Notruftelefon gegen Abschiebungen. Die Jubiläumsbroschüre enthält auch Stimmen von Geflüchteten, Berichte über Gewalt und Gedichte, die schmerzlich vor Augen führen, welche Ungerechtigkeit und welches Leid rassistische Grenzregime verursachen.

Das Alarm Phone rettet Leben, es dokumentiert und skandalisiert das Sterben auf der Flucht, und es tritt für das Recht auf Bewegungsfreiheit für alle Menschen ein. Mit seiner zuverlässigen alltäglichen Arbeit, ebenso wie mit Gedenk- und Protestaktionen bekräftigt es immer wieder seine Forderungen: „Fähren statt Frontex!“, „Flucht ist kein Verbrechen!“ und „Bewegungsfreiheit für alle!“

From the Sea to the City! 5 Jahre Alarm Phone, Selbstverlag, Oktober 2019, 156 Seiten. In mehreren Sprachen online: https://alarmphone.org/de/jubilaeumsbroschueren/

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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