editorial

Krise als Chance

 Über die Notwendigkeit von Veränderung

| GWR-Redaktion

Liebe Leser*innen,

dies ist nun die dritte Ausgabe der Graswurzelrevolution, die nicht von unserem langjährigen Koordinationsredakteur, Bernd Drücke, sondern von einer Notredaktion erstellt wurde.

Redaktion in Not?

Wenig vorbereitet, dafür aber zu dritt, sind wir Anfang Februar ins kalte Wasser gesprungen und mussten gleich eine Doppelnummer der GWR mit Libertären Buchseiten und anarcha-feministischem Aktionsblatt herausbringen. Mitte März erreichte die Corona-Krise dann Deutschland, das Graswurzelbüro wurde geschlossen und wir wanderten ins Homeoffice, wo wir nach wie vor bei schönem, aber viel zu trockenem Wetter, ausharren, Texte lektorieren, neue Ausgaben planen, Anzeigen tauschen, das Layout erstellen, mit der Druckerei kommunizieren und viel zu viele Mails schreiben. An tägliche, stundenlange Telefonate sind wir mittlerweile gewöhnt. Nicht selten auch an Wochenenden. Neu sind Online-Meetings, die sich bei virtuellen Treffen im größeren Kreis bewährt haben.

Es ist ein erstaunlich stressiger Job. Nicht nur wegen des Zeitdrucks. Hinter jeder Ausgabe der Graswurzelrevolution liegt ein Prozess, in dem die Wünsche und Beiträge von ca. zwanzig Autor*innen, diverser Anzeigenkund*innen sowie des Herausgeber*innenkreises der Zeitung berücksichtigt und koordiniert werden müssen. Was für die Einzelne eine kleine Bitte ist, summiert sich in der Redaktion zu einem Berg von Aufgaben, bei dem es schwer fällt, die Übersicht zu behalten. Und kaum ist die Zeitung in Druck, geht es mit der Vorbereitung der nächsten Ausgabe weiter. Wie im Perpetuum mobile!

Am meisten zehrt an den Nerven, wenn ein zugesagter Artikel nicht kommt oder länger ist als abgesprochen. Autor*innen sind zarte Pflanzen. Sie wollen wachsen. Redakteure sind wie Gärtner, sie stutzen die Texte zurecht und haben das Gesamtbeet im Blick. Dankbar und erleichtert sind wir, wenn die Zusammenarbeit reibungslos funktioniert und Balsam für die Seele gibt es, wenn uns jemand einen klasse Text zuschickt (von denen es in dieser Ausgabe gleich mehrere gibt, wie wir in aller Bescheidenheit sagen dürfen). Jedoch macht es Spaß, an der Zeitung zu arbeiten. Man lernt nie aus und wächst mit neuen Herausforderungen. Es freut uns besonders, wenn uns neue Autor*innen schreiben und ihre Texte anbieten. So bleiben Zeitung und Bewegung lebendig und nah ihren (Gras-)Wurzeln.

Nach der Sommerausgabe (Redaktionsschluss 15. Mai) wird Bernd hoffentlich so weit genesen sein, dass er die Redaktionsarbeit wieder übernehmen kann. Nichtsdestotrotz wird das nicht ohne strukturelle Veränderungen möglich sein. Für eine Person ist diese Arbeit zu viel, selbst wenn sie eine unerschütterliche Frohnatur ist. Sinnvoll wäre, die Arbeit auf mehrere Schultern zu verteilen. Es ist jedoch fraglich, ob wir dauerhaft so viel erwirtschaften können, um z.B. eine weitere halbe Stelle zu schaffen. Wir sind deshalb auf unsere Leser*innen und ihre Spenden angewiesen. Über das weitere Vorgehen werden wir im Herausgeber*innen-Kreis diskutieren. Eine Spenden-Kampagne wäre keine schlechte Idee.

Ist eine solidarische Ökonomie möglich?

Der Schwerpunkt dieser Ausgabe liegt auf den sozio-ökonomischen Folgen der Covid-19-Pandemie und deren Auswirkungen auf unser (Zusammen-)Leben. Die gegenwärtige Situation untersuchen die kapitalismuskritischen Texte von M. Baxmeyer, Nicolai Hagedorn und Torsten Bewernitz. Dazu verfolgen wir mithilfe der Genoss*innen vom Streiksolibündnis aus Leipzig den weltweiten Arbeitskampf der Amazon-Arbeiter*innen, die in Zeiten von Corona um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen kämpfen. Elisabeth Voß fragt in ihrem Artikel: „Wie können wir diesen Moment der Veränderung nutzen?“, während Peter Nowak und Matthias Coers dem „Solidarität“ genannten nationalen Burgfrieden Beispiele bereits funktionierender (transnationaler) solidarischer Netzwerke gegenüberstellen. Den Corona-Zykus in dieser Ausgabe schließen wir mit dem Artikel von Lou Marin, einer antifaschistischen Interpretation des Romans „Die Pest“ von Albert Camus.

Auch wenn Covid-19 zurzeit alles überschattet, sollten wir nicht vergessen: Es geht uns immer noch verteufelt gut! Wenn wir krank werden, gibt es Beatmungssysteme, wenn unser Geschäft pleite geht, Sozialversorgung. In den Ländern, in denen die Menschen von der Hand in den Mund leben, haben sie diesen Luxus nicht. Wer dort krank wird oder nicht mehr arbeiten kann, ist wirklich in der Existenz bedroht. Covid-19 wirft ein Schlaglicht auf die sozialen Hierarchien in unserer Gesellschaft und der Welt.

Zum anderen: Es gibt größere Probleme als Corona! Um den Klimawandel aufzuhalten oder abzuschwächen, braucht es mindestens so entschiedene und weltweite Maßnahmen, wie wir sie jetzt erleben. Wenn uns dies in den nächsten Jahren nicht gelingt, drohen Verwüstung, Wasserknappheit, Brände… An den Folgen des Klimawandels werden mehr Menschen sterben als an Covid-19.

Und während der Klimawandel auch im reichen Norden spürbar ist, geht das alltägliche Elend dieser Welt, gehen Ausbeutung, Krieg, Hunger ungestört weiter. „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ (Bertolt Brecht: An die Nachgeborenen); und doch…

Eine Krise ist auch eine Chance

Die Pandemie verdeutlicht den Irrsinn des Kapitalismus und seiner aktuellen, neoliberalen FormWenn der Bürgermeister von New York sich beschwert, dass Atemmasken und Schutzanzüge nicht dahin geliefert werden, wo sie gebraucht werden, sondern dahin, wo am meisten gezahlt wird, setzt sich vielleicht die Einsicht durch, dass wenigstens die Daseinsvorsorge Sache der öffentlichen Hand sein muss. Es liegt an uns, den Wahnwitz einer Gesellschaft aufzuzeigen, deren Wirtschaft nicht dem Wohl der Menschen, sondern der Mehrung des Profits dient.

Wir wünschen unseren Leser*innen viel Vergnügen nicht frei von kritischem Denken!

GWR-Redaktion

https://www.deutschlandfunkkultur.de/lange-nacht-ueber-anarchismus-kein-gott-kein-staat-kein.1024.de.html?dram%3Aarticle_id=475678