Brasilien: Territorien des Widerstands

| Interview: Mareen Butter

... Fortsetzung aus der GWR 454

Mareen Butter (GWR): Ihr habt als Kollektiv Roça! von 2012 bis 2019 in geringem Maße Gelder bekommen von einem kleinen Verein aus Tübingen, Desierto Florido. War in dem Fall eure Autonomie in Gefahr?

Timo Bartholl: Es geht nicht darum, dass man nicht solidarisch von außen unterstützt werden kann. Was man dazu braucht sind interne Kriterien, wie man mit externem Geld umgeht. Zum einen ist es schwierig, wenn externes Geld fortlaufende Personalkosten deckt, denn dann schaffst du eine konkrete Abhängigkeit. Wir haben mit dem Geld unseren Laden renoviert, also Geld in die Infrastruktur gesteckt. Wenn ich über zwei, drei Jahre von außen Geld bekomme, dann muss es so funktionieren, dass ich danach sagen kann, wir sind gestärkt gegenüber dem Moment, bevor wir dieses Geld bekommen haben.

Ich selbst habe einen Mittelschichtsjob. Ich kann mittlerweile selber auch mit dem Geld, das ich bekomme, einige von unseren Strukturen unterstützen, wenn es notwendig ist. Da ist es eigentlich egal, ob das Geld von jemandem ist, der mitmacht oder von einem Externen. Es darf sich halt keine fortlaufende Abhängigkeit ergeben in Bezug zur Aktivität der Gruppe. In unserem Fall sind wir ökonomisch aktiv als Kneipenkollektiv, können dadurch auch einen Stadtteilladen finanzieren und machen eben auch Freiwilligenarbeit.

Meiner Meinung nach passiert es oft, dass versucht wird, mit Geld viel zu bewegen. In NGOs gibt es oft Überfluss an Equipment und Mitteln. Doch die personelle Dynamik, also die Menschen dazu, fehlen dann irgendwie. Aus Sicht einer sozialen Basisbewegung muss es andersherum sein, indem wir uns zuerst menschlich organisieren. Wenn wir dann noch eine Finanzspritze bekommen, können wir vielleicht auf ein anderes Level kommen, mit dem was wir machen.  Dann geht es noch um die Verhältnismässigkeit. Wenn vier Leute hundert Tausend Euro bekommen, dann kann ich dir sagen, das ist unverhältnismäßig und es wird schwierig, dass sich das gesund weiterentwickelt.

Auch wenn man versucht, sich unabhängig zu machen von dem Geld, das vom globalen Norden in die Favela fließt, bestehen doch immer Machtverhältnisse in dieser Beziehung. Wie geht man damit um?

Dieser Nord-Süd-Aspekt ist interessant aus verschiedenen Gründen. Einerseits ist es für Leute, die sich in der Favela engagieren, nicht so ein großer Unterschied, ob Geld aus der brasilianischen Mittel- und Oberschicht kommt oder aus der Mittel- und Oberschicht des Nordens. Es ist erst mal Geld, das von außen kommt. Das basiert auf Machtverhältnissen, weil es von privilegierten Bevölkerungsgruppen an nicht privilegierte Bevölkerungsgruppen umgeleitet wird. Das ist ein Aspekt.

Wenn Geld aus dem Norden kommt, gibt das teilweise den Gruppen mehr Freiheiten, mit dem Geld zu machen, was sie wirklich machen wollen. Weil die Geber aus dem globalen Norden viel weiter weg sind und weniger drin stecken, in dem was da so passiert, teilweise aber auch politisch sagen: „Macht“. Und anders vielleicht vertrauen.

Die 1990er Jahre waren geprägt davon, dass sich Menschen in Favelas zusammengetan haben, gesagt haben, wir wollen hier was verändern zum Positiven, wir brauchen aber auch Geld, um das zu machen. Da haben sie sich dann die Organisationsform NGO gegeben und darüber den Zugang zu Mitteln bekommen. Die Firmen waren damals noch nicht so aufgestellt, um zu sagen, welche Themen zum Beispiel bearbeitet werden müssen. Da konntest du als Favela sagen, wir haben hier einen Uni-Vorbereitungskurs, der läuft gut, aber wir brauchen Geld. Wir wollen kein Geld damit verdienen, wir brauchen Lehrmaterialien, wir müssen die Räume renovieren, die wir uns hart erarbeitet haben. Dann schwang das immer mehr um. Es ging irgendwann nicht mehr darum, wir hatten die Idee und brauchen Geld dafür, sondern dann haben die Firmen gesagt, wir haben diese Idee und dafür geben wir euch Geld. Das heißt also, die NGO in der Favela kann nicht mehr sagen, ich würde gerne einen Kurs machen und das halt über 20, 30 Jahre hinweg, weil es eben fortwährend sinnvolle Arbeit ist, sondern die muss die ganze Zeit neu gucken, was gibt es gerade für Ausschreibungen und was muss ich machen, damit ich Geld bekomme.

Die Logik der Firmen und die Logik der Philanthropie, nach dem Motto, wir brauchen schöne Fotos, weil wir das gegenüber unserem Kunden gut verkaufen müssen, die hat sich immer stärker durchgesetzt. Da ist es toll, wenn du drei Monate mit Kindern einen Theaterkurs machst und am Ende gute Fotos hast und alles in einer Hochglanzbroschüre aufarbeiten kannst. Und die Kinder? Ja okay, die haben halt drei Monate einen Theaterkurs gemacht. Ob man danach weiterhin mit denen zusammenarbeitet, ist in dem Moment nicht so wichtig.

Beim Thema Nord-Süd muss man stark unterscheiden, es gibt ja auch eine politisch basierte Nord-Süd-Unterstützung. Zum Beispiel die Sozialbewegung Movimento das Comunidades Populares (MCP) hat über Jahrzehnte von einer Organisation aus Luxemburg aus dem Bereich linker Befreiungstheologie Unterstützung bekommen. Die haben dem MCP gesagt, hier ist Geld, macht damit, was ihr machen müsst. Dieser MCP hat nie mit dem Geld so gearbeitet, dass daraus klassische NGO-Strukturen hätten werden können. Sie haben damit ein Grundstück gekauft oder sich ein Gemeindezentrum aufgebaut. Da sind Gelder geflossen, die im Sinne derjenigen, die es bekommen haben, verwendet wurden.

Machtverhältnisse gibt es sowieso. Ab dem Moment, wo jemand jemandem hilft, ist das ja schon Ausdruck eines Machtverhältnisses. Wie geht man damit politisch um? Es muss klar sein, wer wer ist. Transparent ist politisch. Sich nicht komplett rausnehmen, sondern sagen, ich bin politisch so drauf, ich finde das wichtig und interessant, ich glaube, das was du da machst, ist was, das wir unterstützen, ohne dass wir dir in die Details reinreden wollen. Sprich, nimm mal 10.000 Euro und sag uns einfach im Dezember, was ihr damit gemacht habt. Das gibt es auch.

Ich habe eine wissenschaftliche Arbeit von Wendy Sinek gelesen, die sich mit NGO-Arbeit in Favelas beschäftigt. Sinek analysiert verschiedene Formen von NGOs. Unter anderem spricht sie von „Diamond Civil Society 
Organisation“ und meint da-
mit eine Form der NGO, die relativ unabhängig von Geldgeber*innen agiert, da sie viele verschiedene Arten und Quellen von Ressourcen nutzt, wie auch Networking, Volunteering und so weiter. Die Mission dieser NGO ist es, die Sozialpolitik über den Nutzen von Favelas zu informieren. Diese NGOs verbinden oft wissenschaftliche Arbeit mit Aktivismus. Es geht also nicht darum, für jemanden zu arbeiten oder Sozialprojekte zu finanzieren, sondern zum Beispiel um Nachforschung und Veröffentlichungen über Arbeit in Favelas, es geht um Organisation von Foren und Arbeitsgruppen, darum, politische Maßnahmen in Favelas zu bewerten, Politiken zu kritisieren, die sie als schädlich für die Favelas empfinden. Und es geht auch darum, lokale Organisationen zu beraten und zu schulen. Diese NGOs setzen sich laut Sinek für kleinere Organisationen ein und arbeiten zusammen mit denen, ohne dabei ihre Arbeit zu ersetzen oder paternalistisch zu arbeiten.

In dem Zusammenhang nennt Sinek als Beispiel eine große NGO, die ich selbst kenne durch ein Praktikum dort: Catalytic Communities, CatComm, eine NGO in Rio, die insbesondere bekannt wurde durch ihre Berichterstattung über staatliche Räumungen der Favelas, bevor die olympischen Spiele in Brasilien stattfanden. CatComm organisiert auch Veranstaltungen zur Vernetzung von lokalen Organisationen. Ich war vor zwei Jahren anwesend bei so einer Veranstaltung, wo wirklich viele Vertreter*innen von kleineren Organisationen aus Rios Favelas sich getroffen und debattiert haben. Sie waren dankbar für diese Möglichkeit des Austausches. Da habe ich gemerkt, die Leute, die anwesend waren, denen hat vor allem diese Vernetzungsmöglichkeit geholfen. Diese Veranstaltung und die Aktivität von CatComm kann aber nur stattfinden dank der internationalen Gelder, die CatComm bezieht, unter anderem von der Heinrich-Böll-Stiftung. Da stelle ich mir die Frage, was haben auch große NGOs, die in Partnerschaften mit dem globalen Norden stehen, für Auswirkungen auf Widerstandsmöglichkeiten der Menschen in den Favelas.

Das sind Sachen, die ich mir überlege im Rahmen meiner eigenen theoretischen und praktischen Arbeit. Ich finde auch noch entscheidend zu unterscheiden zwischen NGOs, die territorial verankert sind und NGOs, die eher sektoral oder thematisch aktiv sind. Amnesty international beispielsweise arbeitet thematisch. Hier in der Maré haben wir eine NGO, für die ist die Favela Maré zur Marke geworden. Da muss immer in allem, was die machen, Maré drin sein. Im agrarökologischen Bereich kenne ich hier noch eine NGO, die unterstützt städtische Kleinbauern. Damit ernsthafte NGOs überhaupt sinnvolle, unterstützende Arbeit machen können, muss es soziale Basisbewegungen geben. Den bringen sie nicht selber. Sie brauchen kollektive Notwendigkeiten, Kampf und jemanden, der was macht. Als Anarchist würde ich es so formulieren: Radikaler sozialer Wandel ist aus meiner Sicht möglich durch soziale Bewegung, die aus Dominanzverhältnissen entsteht. Aus Dominanzverhältnissen heraus haben Menschen die Notwendigkeit, sich zu organisieren. Sie versuchen, Möglichkeiten zu schaffen, ihre Lebensverhältnisse zu verbessern. NGOs sind Strukturen, die auf jeden Fall Teil der dominanten Herrschaftslogik der Gesellschaft sind. Sie basieren auf der Idee, dass man sich hierarchisch organisieren muss. Es ist klar, die Form NGO ist keine wünschenswerte Form für eine mögliche Art und Weise, sich in Gesellschaft zu organisieren.

Und wenn man jetzt sagt, wir sind eine soziale Bewegung, aber wir brauchen ab und zu mal Kohle, um ein paar Sachen machen zu können, lass uns auch nochmal zusätzlich die Form einer NGO annehmen, dann ist das nochmal was ganz anderes. Das könnte aber wiederum auch Richtung Bürokratisierung einer sozialen Bewegung gehen. Das geschieht, wenn die Struktur Überhand nimmt und letztlich der Zweck wird, die Struktur zu erhalten. Man verliert dann immer mehr aus den Augen, wozu die Struktur geschaffen wurde. Also, wenn ich eine NGO gründe gegen Kinderarbeit, dann arbeite ich ja eigentlich von der Vorstellung her so lange, bis es keine Kinderarbeit mehr gibt. Der komische Widerspruch ist, ich brauche Kinderarbeit, damit ich als NGO bestehen kann. Wenn ich eine NGO bin, habe ich auch Arbeitsplätze, hänge finanziell davon ab. Was mache ich denn dann, wenn keine Kinderarbeit mehr existiert?

Ich glaube also, die NGO an sich muss sich so ein bisschen außen vor stellen, weil sie als Struktur selber kein Modell ist, sondern eher ein Anti-Modell, das versucht, als Anti-Modell sinnvolles zu tun. Da würde ich sagen, das ist möglich. Ich würde nie sagen, Partnerschaften soll man nicht eingehen und sich nicht gegenseitig unterstützen. Wenn aber gleichzeitig alle Menschen, die linke NGO-Arbeit machen, auf einmal sozialrevolutionäre Graswurzelarbeit machten, wenn Leute sagen würden, lass uns Kollektive organisieren, lass uns uns horizontal vernetzen, lass uns unsere eigenen ökonomischen Strukturen aufbauen, lass uns unsere eigenen Fördermodelle aufbauen und uns eigens untereinander solidarisch organisieren,– wenn das auf einmal Hunderttausende machen würden, das würde langfristig ein ganz anderes Potential freigeben, weil man längerfristig aus Widersprüchen heraus kommt.

Natürlich bleibt man immer in Widersprüchen drinnen, solange es Kapitalismus gibt. Wenn wir in Teilen was verändern wollen, dann müssen wir eigentlich alles verändern, weil eben alles miteinander zusammenhängt. Ich glaube, das ist der entscheidende Unterschied aus libertär-emanzipatorischer Sicht zwischen NGO-Arbeit und einer sozialen Basisbewegungsarbeit: Als soziale Basisbewegung sagt man, wir versuchen den größtmöglichen Teil an Widersprüchen im Hier und Jetzt schon aufzulösen. Andere Menschen arbeiten erst mal in den Strukturen, die es jetzt gibt, um dann auf eine freie Gesellschaft ohne Hierarchien in der Zukunft zu hoffen.

Dann ist da noch ein anderer Teil, über den wir überhaupt nicht gesprochen haben, was die Arbeitsverhältnisse angeht. Die beuten ja ganz oft ihre Leute aus, über prekäre Arbeitsverhältnisse, weil sie das Element der freiwilligen Zusatzarbeit haben. Das ist ja eigentlich etwas politisch Sinnvolles, was sie machen. Das Problem haben wir als Kollektiv auch, wir sind prekarisiert. Aber das haben wir ziemlich bewusst für uns und wir versuchen, dass es weniger prekär wird. Wir machen auch immer wieder Abstriche, weil wir sagen, das ist wiederum nur ein Zusatzeinkommen und nicht das Haupteinkommen. Aber es gibt viele NGOs, die haben Prozesse am Laufen vor Arbeitsgerichten, weil die Leute ihre Arbeitsrechte nicht wahrnehmen konnten. Da ist die NGO eben in erster Linie einfach nur Teil einer liberal gedachten, gelebten Gegenwart.

Und wenn du dir im Nord-Süd-Kontext überlegst, woher kommt NGO-Arbeit, und warum wird die so stark unterstützt, da ist oft ein Argument, der ganze Staatsapparat ist zu träge, zu korrupt und da bewegt sich nichts, das heißt, wir arbeiten lieber mit NGOs zusammen, dann wird das schneller erledigt. Sprich, es geht darum, außerhalb des Staates, also Non-Government, die Sachen anzugehen, aber nicht Non-Government im Sinne von gegen Government, sondern im Grunde genommen eben liberal, mit einem Slim-State-Non-Government, einem reduzierten Staat.

Tatsächlich könnte man ja im ersten Augenblick meinen, NGO, also Non-Government-Organization, wäre eine komplett anarchistische Überzeugung, weil der Staat außen vor ist.

Ja genau, nur da fehlt eben der kritische Antimoment. Die NGO will nicht Regierung sein, aber sie will auch auf keinen Fall gegen Regierung sein. Die NGO an sich muss ja ständig oben auf der Mauer drauf sein, sie kann nie wirklich auf eine Seite kommen. Sie muss immer ihr Türchen offen halten, dieser Stakeholder Dialogue, dieses Ding, alle an einen Tisch zu holen. Aus einer radikalen Graswurzelbewegungssicht, sind Stakeholder Dialogues einfach nur Legitimierungsmechanismen für das Fortdauern der etablierten Machtverhältnisse.

Interview: Mareen Butter