Und falls er putscht…?

Wie gewaltfreie Aktivist*innen in den USA halfen, einem Staatsstreich zu widerstehen

| Stephen Zunes

In den Mainstream-Medien in Deutschland wurde Trumps Anhänger*innen, die im Januar einen Putsch versuchten, viel Aufmerksamkeit gewidmet. Geschwiegen wird jedoch über die Rolle der Zivilbevölkerung und deren Vorbereitung auf aktiven, gewaltlosen Widerstand gegen einen Staatsstreich in den USA. Über die Bedeutung von Graswurzelbewegungen und Zivilgesellschaft bei den letzten Ereignissen schreibt Stephen Zunes. (GWR-Red.)

Seit dem eindeutigen Sieg des neugewählten Präsidenten Joe Biden im November 2020 waren viele Menschen verständlicherweise bestürzt über die Bemühungen von Präsident Trump und seinen Anhänger*innen, die Wahl zu stehlen. Warum aber blieben seine Versuche trotz der jüngsten Gewalt in Washington [6.1.2021 – d. Übers.] erfolglos?

In den Monaten vor den Wahlen am 3. November warnten viele von uns, dass Trump und die Republikaner, selbst angesichts eines klaren Sieges von Biden, einen Putsch versuchen könnten. Wir warnten, dass Trump sich in der Wahlnacht zum Sieger erklären könnte, noch bevor alle Stimmen ausgezählt wurden, dass er und seine Anhänger*innen falsche Anschuldigungen wegen Wahlbetrugs erheben würden und dass er sich weigern würde zuzugeben, dass Biden der Gewinner sei, selbst wenn dies ganz klar wäre. Wir äußerten auch Befürchtungen, dass seine Wahlkampfkampagne einen Rechtsstreit führen würde, um die legitimen Ergebnisse in Frage zu stellen, um die republikanischen Wahlbeamten zu überzeugen, die Ergebnisse nicht zu bestätigen und um die staatlichen Gesetzgeber zu ermutigen, republikanische Wahlmänner unabhängig von der Stimmenzahl im Staat zu ernennen und die von den Republikanern dominierte Bundesjustiz zu überzeugen, diese illegalen Maßnahmen aufrechtzuerhalten.

Genau dies geschah dann auch: Nach den Wahlen telefonierte Trump mit republikanischen Beamten in fünf Swing-Staaten, in denen Biden mit relativ geringem Vorsprung gewonnen hatte, um sie unter Druck zu setzen, die Wahlergebnisse in ihren Bundesländern zu kippen. Er reichte Klagen wegen massiven Wahlbetrugs ein, die auf falschen Anschuldigungen beruhten, versuchte, die Gesetzgeber unter Druck zu setzen, um republikanische Wahlmänner in Staaten zu ernennen, in denen Biden gewonnen hatte und unternahm andere Anstrengungen, um die Wahlergebnisse umzukehren. Wenn ihm dies gelungen wäre, obwohl er bei der nationalen Volksabstimmung 7 Millionen Stimmen weniger hatte als sein Herausforderer, hätte dies Biden bei der Sitzung des Wahlkollegiums am 14. Dezember den Sieg gekostet und Trump auf den Weg gebracht, weitere vier Jahre zu regieren.

Diese Bemühungen scheiterten jedoch, ebenso wie die Versuche einiger Verbündeter, die Stimmen des Wahlkollegiums verschiedener Schlüsselstaaten zu streichen, als der Kongress am 6. Januar zusammentraf, um die Ergebnisse offiziell zu akzeptieren. Der von Trump angestiftete rechte Mob, der an diesem Tag das US-Kapitol stürmte, um die Zertifizierung von Bidens Wahl zu verhindern, erschütterte die Nation, änderte aber nichts an den Ergebnissen.

Viel Aufmerksamkeit richtete sich darauf, wie die Regierungsinstitutionen angesichts solch beispielloser Bedrohungen standhielten und wie sich eine Reihe prominenter Republikaner unter dem enormen Druck Trumps und seiner Anhänger*innen entschlossen, ihre moralische und rechtliche Verantwortung zu erfüllen. Aber selbst wenn die Dinge anders gelaufen wären, ist es unwahrscheinlich, dass Trump die Wahl erfolgreich hätte stehlen können. Der Grund war, dass Millionen von Amerikaner*innen massiven, gewaltfreien Widerstand geleistet hätten, um die Demokratie zu verteidigen. Und dies war wahrscheinlich der entscheidende Faktor.

Ziviler Ungehorsam zur Verteidigung der Demokratie

Auf den Philippinen im Jahr 1985, in Serbien im Jahr 2000, in der Ukraine 2004 und in Gambia 2016 gelang es durch gewaltfreie Aktionen in großem Maßstab (1), die Anerkennung der Wahlergebnisse zu erzwingen, als die amtierenden Regime versuchten, die Wahlen zu stehlen. Konventionellere Putschversuche in Deutschland (1920), Frankreich (1961), Bolivien (1978), Argentinien (1987), der Sowjetunion (1991) und Burkina Faso (2015) wurden auf ähnliche Weise rückgängig gemacht, und zwar infolge des zivilen Widerstands der Bevölkerung, durch schnelle Mobilisierung, massive Nichtzusammenarbeit, Aufbau breiter Bündnisse demokratischer Kräfte und Aufrechterhaltung gewaltfreier Disziplin.

Auf Grund dieses Wissens begann eine Reihe von Gruppen im Sommer 2020, für einen massiven, gewaltfreien Widerstands gegen gestohlene Wahlen in den Vereinigten Staaten zu organisieren und zu trainieren. Eine dieser Gruppen war Choose Democracy (https://choosedemocracy.us), gegründet von George Lakey und anderen erfahrenen gewaltfreien Aktivisten. Teil ihrer Kampagne war die Selbstverpflichtung, das Land, falls nötig, zu einem völligen Lockdown zu bringen, um die Demokratie zu beschützen. 40.000 Menschen, darunter Wirtschafts- und Gewerkschaftsführer, die ihre Mitglieder auf die Teilnahme an solch massivem Widerstand vorbereiteten, unterzeichneten dieses Versprechen (2). Die Gruppe führte 17 Trainings mit mehr als 10.000 Teilnehmer*innen durch. Die Trainingskoordinatorin, Eileen Flanagan, bemerkte: „Wir konnten die Forschung über gewaltfreien Putsch-Widerstand in praktische Lektionen übersetzen, die jeder anwenden konnte. Dies hat dazu beigetragen, dass sich die Menschen angesichts einer ungewohnten Bedrohung gestärkt fühlen – eines unserer Ziele, da wir wissen, dass Menschen, die sich ihrer Stärke bewusst sind, mit größerer Wahrscheinlichkeit effektiv handeln.“
Parallel dazu stellten vier gewaltfreie Organisatoren eine 55-seitige Broschüre mit dem Titel „Hold the Line: Ein Leitfaden zur Verteidigung der Demokratie“ (3) [Hold the Line = 
„dran bleiben“, oder: bei der Sache bleiben, d. Übers.] zusammen. Darin wurden Aktionen untersucht, die Menschen vor den Wahlen am 3. November ergreifen könnten, ein vierstufiger Plan zur Gründung eigener Wahlschutzgruppen angeboten, Hintergrundinformationen zu möglichen Szenarien nach den Wahlen geliefert und Erkenntnisse auf die Vereinigten Staaten angewandt, „wie gewaltfreie zivile Widerstandsbewegungen Demokratie und Rechenschaftspflicht gegenüber autoritären Herrschern in anderen Teilen der Welt vorangebracht haben“.

Der Leitfaden wurde mehr als 75.000-mal heruntergeladen oder angesehen, und die zugehörigen Social-Media-Konten gewannen über 14.000 Follower. Aufgrund seiner Beliebtheit begannen die Co-Autoren des Leitfadens, Online-Schulungen zu organisieren, die fast 1.000 Personen erreichten. Es bildeten sich Hold the Line-Teams in verschiedenen Teilen des Landes. Ich sprach mit dem Co-Autor Hardy Merriman, der in seiner privaten Zeit an diesem Projekt arbeitete. Er sagte mir, dass Hold the Line darauf abziele, ansprechbar und öffentlich zugänglich zu sein und alle, denen Demokratie wichtig sei, zu einem Organisationsprozess einzuladen.

„Hold the Line konzentriert sich darauf, wie Einzelpersonen und Gemeinschaften etwas aus eigener Kraft aufbauen und mächtige, auf die örtlichen Gegebenheiten bezogene gewaltfreie Aktionen organisieren können.“, sagte er. „Es wurde entwickelt, um sowohl für ganz neue als auch für erfahrene Aktivist*innen nützlich zu sein. Wir wollten die Menschen mit Werkzeugen ausstatten, um die sich entwickelnde politische Situation in der Nation und in ihrem Bundesstaat zu analysieren, einen Rahmen anbieten, um zu verstehen, wie die Demokratie geschützt werden kann und eine Struktur, die es ihnen ermöglicht, starke Aktionen auf der Grundlage ihrer besonderen Umstände durchzuführen.“

Wie bei den vorherigen Fällen erfolgreich verhinderter Putschversuche in anderen Ländern mussten Linke mit Erfahrung in gewaltfreien direkten Aktionen und dem Organisieren auf Graswurzelebene bereit sein, mit etablierten politischen Persönlichkeiten und Institutionen zusammenzuarbeiten. Dies bot eine wertvolle Gelegenheit, Verbindungen zwischen dieser Aktivistenbasis und etablierten Institutionen bzw. Journalist*innen herzustellen. Choose Democracy‘s Trainingskoordinatorin, Eileen Flanagan, dazu: „Viele erfahrene Aktivist*innen gewannen neue Kompetenzen dadurch, dass sie lernten, sich auf Menschen im politischen Zentrum einzustellen.“ Während es unter gewaltfreien Aktivist*innen lange Zeit große Enttäuschung über die militaristische außenpolitische Agenda und die neoliberale Wirtschaftspolitik von Joe Biden gab, bestand doch eine Art Einverständnis, dass es in dieser Auseinandersetzung letztendlich nicht darum ging, den Kandidaten der Demokratischen Partei zu unterstützen, sondern die Demokratie zu verteidigen.

Die am breitesten angelegten Anstrengungen zur Organisierung von eventuellen massiven Aktionen zivilen Ungehorsams gingen von der Koalition „Protect the Results“ [Schützt die Wahlergebnisse] aus. Diese Koalition besteht aus fast 200 fortschrittlichen Organisationen, Gewerkschaften und Gruppen für Frieden, Umwelt, Feminismus, Antirassismus und soziale Gerechtigkeit, die als Reaktion auf jeden ernsthaften Versuch, die Wahl zu stehlen, bereit waren, Millionen von Amerikaner*innen zu Massenprotesten zu mobilisieren. Gewerkschaftsverbände in Seattle, Rochester, New York und im Bundesstaat Massachusetts forderten einen Generalstreik (4) im Falle eines versuchten Wahldiebstahls – eine Idee, die vom AFL-CIO-Präsidenten Richard Trumka gebilligt wurde. (5) Zahlreiche andere bereits bestehende lokale und bundesweite Gruppen haben ihre eigenen Anstrengungen unternommen, um das Bewusstsein für die Bedrohung zu schärfen, potenzielle Reaktionen zu mobilisieren und gewaltfreie Schulungen durchzuführen.

Auswirkung der Mobilisierung

Umfangreiche Berichterstattung über diese Bemühungen in den Mainstream-Medien hat zum ersten Mal die Idee der gewaltlosen Revolution in den Vereinigten Staaten zu Millionen von Amerikanern gebracht – durch Artikel u.a. in folgenden Medien: The New Yorker, The Atlantic, The Guardian, Newsweek, Mother Jones, CNN, The Boston Globe und die Washington Post. Es ist kaum vorstellbar, dass die Aussichten auf solch massiven Widerstand keine abschreckende Wirkung auf republikanische Gesetzgeber, Richter und andere hatten, die sonst versucht gewesen wären, Bidens Sieg aufzuheben. Ganz ähnlich; auch wenn mächtige Unternehmensinteressen Steuersenkungen und andere Unterstützung, die sie von der Trump-Administration erhalten haben, begrüßt haben mögen, werden sie auch erkannt haben, dass die weit verbreitete Instabilität und Störung, die unvermeidlich aus einem Diebstahl der Wahl – und das für Monate – resultieren würden, schlecht wäre fürs Geschäft.

Das Ergebnis all dessen war, dass Trump und seine Verbündeten auf widersprüchlichen und amateurhaften Eingaben vor Gerichten, die von letzteren wiederholt zurückgewiesen wurden, auf weitgehend oberflächlicher Unterstützung durch republikanische Politiker*innen und relativ kleinen Pro-Trump-Kundgebungen, die von der äußersten Rechten dominiert wurden, sitzen blieben. Noch vor dem Sturm auf das Kapitol war Trump ein zunehmend isolierter und verzweifelter „Lahme-Ente“-Präsident geworden.

Obwohl sich die Umsetzung massiver ziviler Widerstandsstrategien zur Wahrung der Demokratie als unnötig erwiesen hat, wurden Zehntausende Amerikaner zum ersten Mal in gewaltfreien direkten Aktionen geschult. Millionen haben die Möglichkeit einer Teilnahme an einer solchen Bewegung in Betracht gezogen. Dies erhöht die Aussichten auf eine beispiellose Mobilisierung der Bevölkerung für künftige potenzielle Krisen, einschließlich der Bedrohung durch den Klimawandel.

Die Vorbereitung durch Aktivist*innen im ganzen Land unterstrich auch die weit verbreitete Bereitschaft, die demokratische repräsentative Regierung in den Vereinigten Staaten zu bewahren, wie schwerwiegend ihre Widersprüche und Grenzen auch sind. Während die Bedrohung durch antidemokratische, rechte Elemente des Terrorismus und andere Gewaltakte real ist und weiterhin besteht, ist das Risiko eines erfolgreichen Staatsstreichs gering, insbesondere wenn das amerikanische Volk bereit ist, gewaltfrei für die Wahrung unserer Freiheiten zu kämpfen.

Stephen Zunes
20. Januar 2021
Übersetzung: Helga Weber

Stephen Zunes forscht zur Nahostpolitik der USA und zu strategisch-gewaltfreiem Handeln.

Der Artikel erschien im YES! Magazine:
https://www.yesmagazine.org/democracy/2021/01/20/trump-coup-nonviolent-activists/

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