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„Die Istanbul-Konvention rettet Leben!“

Gegen den erklärten Austritt mobilisiert die Frauenbewegung in der Türkei

| Eva Bernard

Internationaler Women's Day Protest in der Türkei, Istanbul, 8. März 2020 - Foto: Flanoz, CC0, via Wikimedia Commons

In der Nacht vom 19. auf den 20. März 2021 hat der türkische Präsident Erdoğan (Premierminister 2003-2014; Präsident seit 2014) seinen bereits seit mehr als einem halben Jahr angedrohten Austritt aus der EU-„Istanbul-Konvention“ durch ein Präsidenten-Dekret umgesetzt. Zahlreiche Frauenorganisationen, Gewerkschaften, Parlamentsabgeordnete und Anwaltskammern betrachten diese Entscheidung als juristisch nichtig, weil sie konträr zu den in der Konvention vorgesehenen Prozeduren sowie auch zur Verfassung der Türkei steht. Trotz der Corona-Maßnahmen organisierte sich die Frauenbewegung in der Türkei, um dieses Instrument für den Kampf gegen Männergewalt zu verteidigen. Sie ruft zu Demonstrationen in der Öffentlichkeit und Protesten in den sozialen Netzwerken auf. Eine große Massenkundgebung in Istanbul ist für den 1. Juli 2021 geplant – den Termin, an dem nach Angaben der türkischen Behörden der Austritt in Kraft treten soll.


Der kollektive Ruf der Frauenbewegung in der Türkei unter dem Hashtag #istanbulsozlemesiyasatir („Die Istanbul-Konvention rettet Leben!“) ist eine klare Willensbekundung angesichts des Ausmaßes der sexuellen Gewalt in der Türkei. Seit ein möglicher Austritt der Türkei im Juli 2020 angekündigt worden war, befeuerten die Diskussionen um die Istanbul-Konvention (1) auf den ersten Blick nur die Verschärfung der politischen Gegensätze: Für die einen ist die Konvention ein Symbol für die Einmischung des Auslands; für die anderen ein Offenbarungseid für die ungenügenden staatlichen Maßnahmen zum Schutz der Frauen vor Gewalt, das heißt faktisch ein Rückzug auf konservative Wertvorstellungen. Die Frauenbewegung in der Türkei scheint sich diese Konvention zu eigen gemacht zu haben und sieht in ihr sowohl einen symbolischen Etappensieg, nämlich ein Mittel, um den Staat mit dessen Verantwortung zu konfrontieren, als auch eine internationale Legitimation für ihre Forderungen. Was jedoch dabei hauptsächlich auf dem Spiel steht, dreht sich wahrscheinlich eher um die Interpretation des Konventionstextes, denn dessen politische Bedeutung kann durch die jeweilige Interpretation auch minimiert werden.

Symbol eines siegreichen Kampfes

Die feministische Bewegung in der Türkei erfuhr als soziale Bewegung einen erneuten Aufschwung Ende der Achtzigerjahre bei den Mobilisierungen zur Gewalt gegen Frauen. Bekannt wurde der „Marsch gegen das Schlagen“ (Dayağa Karşı Yürüyüşü) im Jahr 1987 als Antwort auf die Entscheidung eines Richters, die Gewalt, die eine Frau von ihrem Ehemann erlitten hat, für rechtens zu erklären. In den Achtziger- und Neunzigerjahren fanden außerdem statt: die Petition für die Respektierung der Konvention für die Beendigung aller Diskriminierungsformen gegen Frauen (CEDAW) 1986; die Veröffentlichung der Untersuchung: „Schrei, damit alle dich hören!“ 1988; die „Malven“-Kampagne gegen sexuelle Aggressionen 1989 sowie die Eröffnung eines ersten Frauenhauses 1995.
Mit der Absicht, diese Gewaltformen zu politisieren, entstanden in dieser Zeit verschiedene feministische Strömungen zur Skandalisierung der Ungleichbehandlung und der ungenügenden Schutzbestimmungen im geltenden Recht. Die Gesetzesreformen zu Beginn der 2000er-Jahre wurden deshalb als juristische Errungenschaften der Frauenbewegung (2) gefeiert: 2002 wurde das Zivilrecht reformiert, wobei die Gleichheit in der Ehe und die Abschaffung des Begriffs des Familienoberhaupts festgeschrieben wurden. 2004 wurden die Vergewaltigung in der Ehe kriminalisiert und sexuelle Verbrechen als Anschlag auf die Persönlichkeit und nicht gegen die öffentliche Moral klassifiziert. Die Verfassungsreformen von 2004 und 2010 schrieben die Gleichheit zwischen Frauen und Männern sowie die „positive Diskriminierung“ als Verfassungsprinzip fest. Im Anschluss an die Unterzeichnung der Istanbul-Konvention 2011 wurde das Familienschutzgesetz von 1998 durch ein „Gesetz zum Schutz der Familie und zur Prävention vor Gewalt gegen Frauen“ (Gesetz-Nr. 6284) ersetzt.

Dieselben Behörden, die die Istanbul-Konvention 2011 unterzeichnet haben, meinen heute, dass sie der Türkei kulturelle Einflussnahme aufzwingt.

Die Unterzeichnung der Istanbul-Konvention in 2011 war eine starke Willensbekundung der Türkei, gegen diese Formen der Gewalt vorzugehen und diente der Türkei wie ein Beweis neuer Sicherheiten gegenüber Europa im Hinblick auf die laufenden Verhandlungen für einen EU-Beitritt, die schon 2005 begonnen hatten. Auch diente sie der Beschwichtigung nach der Verurteilung der Türkei in der Affäre „Opuz gegen den türkischen Staat“ im Jahre 2009 durch den Europäischen Gerichtshof, als dieser feststellte, die Türkei biete faktisch keinen Schutz der Frauen vor häuslicher Gewalt. Die nach 2011 skandierten Slogans bei Frauendemonstrationen: „Die Istanbul-Konvention gehört uns!“ sowie „6284 uygula“ („Das Gesetz Nr. 6284 umsetzen!“) reflektieren auch die Mehrheitsposition der Frauenbewegung in der Türkei heute: Die juristischen Errungenschaften werden verteidigt und sollen endlich in die Praxis umgesetzt werden – gleichzeitig sind sie aktuell sogar auf juristischer Ebene bedroht.

Den Staat mit seiner Verantwortung konfrontieren

Die Istanbul-Konvention konfrontiert die Staaten vor allen mit deren Verantwortung, Gewalttaten gegen Frauen vorzubeugen, bedrohte Frauen oder Frauen, die bereits zu Opfern geworden sind, zu schützen, sowie die Täter zu verfolgen und zu bestrafen. Die Konvention bietet einen globalen Ansatz dafür, sowohl gegen die konkreten Formen dieser Gewalt einzuschreiten als auch ihre strukturellen Ursachen anzugehen. Nach der türkischen Verfassung, Artikel 90, haben von der Türkei ratifizierte internationale Verträge Gesetzeskraft und gegenüber inländischen Gesetzen im Falle einer Normenkollision vorrangig Geltung. Das Gesetz Nr. 6284 stützt sich gleichermaßen auf die Konvention, vor allem wenn es um das Recht auf Schutzmöglichkeiten oder um Maßnahmen zur Distanzwahrung eines gewaltsamen Ehemannes sowie um außerordentliche finanzielle Hilfen für Betroffene geht. Seit dem Jahr 2007 veröffentlicht das Ministerium für Arbeit, Familie und Soziales übrigens alle drei Jahre einen „Nationalen Aktionsplan“ in diesem Sinne.
Trotzdem haben die Frauenvereinigungen und –kollektive nie damit aufgehört, die unzulängliche, in manchen Bereichen inexistente Umsetzung dieser Maßnahmen öffentlich zu kritisieren: So fordert die Konvention etwa ein Notruftelefon, das 24 Stunden an allen 7 Wochentagen besetzt sein muss. Das gibt es derzeit in der Türkei nicht. Es existiert lediglich eine App, durch die Notfälle per Handy signalisiert werden können (KADES). Die Feminizid-Fallzahlen steigen in der Türkei jedes Jahr. 2019 wurden mindestens 328 Frauen von ihren Ehemännern, Ex-Ehemännern oder nahen Familienmitgliedern umgebracht – einige von ihnen, als sie Gewalttaten melden wollten, oder sogar in einer Phase, in der für sie bereits Schutzmaßnahmen in Kraft getreten waren. Während das türkische Innenministerium 2019 nur 299 Morde zählte, stammt die genannte höhere Zahl von der Online-Website Bianet.org, die zusätzlich zu den veröffentlichten 328 noch von weiteren 134 sehr wahrscheinlichen Feminizid-Fällen ausging; während die Plattform „Setzen wir dem Feminizid ein Ende!“ sogar 474 Feminizid-Fälle registrierte. Wegen der unzureichenden und irregulären Veröffentlichung offizieller Statistiken üben diese feministischen Online-Informationsplattformen eine Art mediale Kontrollfunktion bei der Zählung von Feminizid-Fällen aus. Die Berichte von Nicht-Regierungs-Organisationen sowie von der Expert*innen-Gruppe „Grevio“, die mit der Bewertung der Umsetzung der Istanbul-Konvention betraut sind, dienen ebenfalls als Informationsquelle zu sexistischer Gewalt in der Türkei.
Aufgrund sozialer Stigmatisierung, der ökonomischen Abhängigkeit von ihren Ehemännern sowie Zögern und Zurückhaltung bei der Vorstellung, vor den Behörden aussagen zu müssen, erheben nur sehr wenige Frauen Anzeige wegen häuslicher Gewalt. Nach einer Studie der Universität Hacettepe (Ankara) in Zusammenarbeit mit dem Sozial- und Familienministerium aus dem Jahr 2014 haben nur 11 % der befragten Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, eine Anzeige bei den Behörden gestellt. Und nur 7 % von ihnen haben sich direkt an die Polizei gewandt. (3) Was die Frauen betrifft, die sich dafür entschieden, Anzeige zu erheben, hat die Expert*innengruppe „Grevio“ darauf hingewiesen, dass 80 % der von ihnen befragten Personen aussagten, sie seien von der Polizei bei ihrem Versuch, Anzeige zu erstatten, abgewiesen worden. (4) Die Frauenvereinigungen kritisieren darüber hinaus bei den stattfindenden Prozessen vor Gericht eine vorteilhafte Rechtsprechung zugunsten der Angeklagten. Im Jahre 2016 haben Männer, die wegen des Mordes einer Frau verurteilt worden sind, von einer Strafminderung aufgrund guter Führung, vorhandenen Schuldbewusstseins oder von Umständen, nach denen der Tat eine Provokation der Frau vorausgegangen sei, profitiert. (5) Auch das Alter der Täter wurde als strafmindernd angeführt. (6)

Eine Quelle internationaler Legitimität

Die türkische Regierung stößt sich zum einen am Artikel 14 der Konvention, nämlich der Befürwortung egalitärer Wertvorstellungen sowie dem erklärten Kampf gegen Stereotypen. Aus ebenso diplomatischen wie innenpolitischen Interessenlagen wird zum anderen die Konvention in ihrem Artikel 4 beschuldigt, die Struktur der Familie infrage zu stellen sowie die Homosexualität zu propagieren. Der Artikel 4 fordert, die Konvention müsse ohne Diskriminierungen der Gender-Identität und der sexuellen Orientierung umgesetzt werden. Dieselben Behörden, die die Istanbul-Konvention 2011 unterzeichnet haben, meinen heute, dass sie der Türkei kulturelle Einflussnahme aufzwingt.
Angesichts dieses Rückzugs auf konservative Wertvorstellungen benutzt die Frauenbewegung in der Türkei im Gegensatz dazu die Konvention als eine Quelle der externen Legitimierung. Sie unterstützt damit eine internationale Bewegung des Kampfes gegen Gender-Gewalt – zur selben Zeit, in der etwa in Polen ebenfalls damit gedroht wird, aus der Konvention auszutreten. Ihre aktuelle Mobilisierung erinnert an die CEDAW-Petition aus dem Jahr 1986, einem der Ursprungstexte der feministischen Bewegung in der Türkei. Seit dem August 2020 führen die Feministinnen in der Türkei Sensibilisierungskampagnen für die Konvention in den Medien, in sozialen Netzwerken oder mittels öffentlicher Verteilung von Broschüren durch, begleitet von einer Reihe von Aktionen in den Stadtvierteln.
Nach einer Umfrage des KONDA-Instituts (7), die im August 2020 veröffentlicht wurde, äußerten 84 % der befragten Personen die Meinung, die Konvention zu kennen und einen Austritt der Türkei nicht zu wünschen. Sogar die Vereinigung KADEM, in deren Verwaltungsrat Sümeyye Erdoğan Bayraktar, die Tochter des Präsidenten, sitzt, hat bereits im August 2020 öffentlich erklärt, dass die Istanbul-Konvention ein wirkungsvolles Instrument für den Schutz aller Personen ist, die „Opfer von häuslicher Gewalt“ geworden sind – und dass dies der im Islam geforderten Hilfe für die am stärksten Verletzbaren entspricht.
Zwar ist die Vereinigung KADEM dadurch von einem Bündnis mit den Feministinnen noch weit entfernt, doch diese Erklärung zeigt gleichwohl, wie sehr der Kampf gegen Gewalt an Frauen an Legitimität gewonnen hat – und zwar in allen politischen Spektren. Sie zeigt aber gleichzeitig, wie das Potential einer strukturellen Transformation, das in der Istanbul-Konvention und im Kampf gegen Gender-Gewalt angelegt ist, auf eine konsensuelle Lesart unter äußerst polarisierten politischen Rahmenbedingungen minimiert werden kann.
Ebenso wie die Kämpfe für ein uneingeschränktes Recht auf Schwangerschaftsabbruch, für die Abschaffung von in Naturalien ausgezahlten Renten (nafaka), gegen die Amnestiepläne für sexuelle Täter gegen Minderjährige, sofern die Täter sich verheiraten, wird der Kampf für die Istanbul-Konvention immer wieder aufflammen. Übersehen werden darf dabei nicht, dass die bisherige Umsetzung der Konvention sehr unvollständig blieb. Weniger auf der Ebene der Strafdurchsetzung als vielmehr im Hinblick auf die Verknüpfung zwischen diesen Gewaltformen und der Konstruktion von Gender-Ungleichheiten ist die Istanbul-Konvention eine Hoffnungsträgerin für „die Rettung von Leben“. In der heutigen Türkei ist die Istanbul-Konvention vor allem ein Lebenselixier für die Frauenbewegung – und eine Quelle strömungsübergreifender Mobilisierung (8) in einer sehr pluralistischen Bewegung (9).

(1) Die „Konvention des Europarates zur Vorbeugung und für den Kampf gegen die an Frauen ausgeübte Gewalt sowie häusliche Gewalt“ wurde in Istanbul 2011 angenommen und ist in der Türkei am 1. August 2014 in Kraft getreten. Die Türkei war damals der erste Staat, der die Konvention unterzeichnet hat.
(2) Vgl.: Gözdasoglu Küçükalioglu E.: „Framing Gender-Based Violence in Turkey“, in: Les Cahiers du CEDREF, Nr. 22/2018, S. 128-157.
(3) Universität Ankara & Sozial- und Familienministerium der Türkei, Bericht: „Untersuchung über Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt in der Türkei“, 2014, S. 26.
(4) Vgl. Bericht der Expert*innengruppe „Grevio“ für den Europarat, 15.10.2018, § 32.
(5) Die Gerichte übernehmen hierbei die Argumentation der Verteidigung, nach welcher der Angeklagte zur Tat aufgrund einer Haltung des Opfers gedrängt worden sei, die nicht dem entspreche, was sie ausgesagt habe, sondern dem, was der Angeklagte ausgesagt habe.
(6) F. Salman: „Statistiken zu den Urteilen über männliche Gewalt in 2015 und 2016“, siehe: Bianet.org, 12.7.2017, online: https://bianet.org/1/20187301-istatistiklerle-2015-2016 .
(7) KONDA: „Istanbul Sözlesmesi“, September 2020, S. 3, siehe: https://konda.com.tr/tr/rapor/istanbul-sozlesmesi/ .
(8) Vgl. F. Eralp: „Haklarımızdan vazgeçmiyoruz, Istanbul sözleşmesi uygula“, in: Mor Bülten, Nr. 36/2020, 28. 10. 2020.
(9) Genaueres zu den unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Frauenbewegung in der Türkei vgl. S. Cosar, F. Gencoglu Onbasi: „Women’s Movement in Turkey at a Crossroads: From Women’s Rights Advocacy to Feminism“, in: South European Society & Politics, Jahrgang 13, Nr. 3/2008, S. 325-344.

 

Der Artikel wurde in französischer Sprache bereits im Dezember 2020 auf der Webseite von AYAK veröffentlicht, einem Kollektiv frankophoner Doktorand*innen, die zur Türkei arbeiten – und von der Autorin durch einen aktuellen Eingangsabschnitt im Mai 2021 ergänzt.
Übersetzung des Artikels sowie des Eingangsabschnitts aus dem Französischen: LoMa.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.