Ökosozialistische Perspektiven mit Leerstellen

Verbrauch von Rohstoffen und Energie drastisch senken!

| Elisabeth Voß

Bruno Kern: Das Märchen vom grünen Wachstum. Plädoyer für eine solidarische und nachhaltige Gesellschaft. Rotpunktverlag, Zürich 2019 (2. Aufl. 2020), 240 Seiten, 15,00 Euro, ISBN 978-3-85869-847-6

Der Ökosozialist und Theologe Bruno Kern legt in seinem Buch „Das Märchen vom grünen Wachstum“ schonungslos dar, warum alle Versuche, trotz Klimakatastrophe das gewohnte Wohlstandsmodell aufrechtzuerhalten, zum Scheitern verurteilt sind. Schon in seiner Einleitung unter dem Titel „Kollektive Vernunft wider die Logik des Selbstmords“ plädiert er für eine sozialistische Planwirtschaft, denn: „Erst wenn die ökonomische Basis nicht mehr den Sachzwängen der Kapitalkonkurrenz und der Profiterwirtschaftung um jeden Preis folgen muss, kann der Anspruch der Demokratie überhaupt eingelöst werden“ (S. 11).

Abschied von Raubbau und Scheinwohlstand

Gemeinsam mit dem Publizisten Saral Sarkar, dem das Buch gewidmet ist, gründete der Autor 2004 die Initiative Ökosozialismus, deren Auffassungen er hier darlegt. Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass im Unterschied zu bisherigen Krisen die Menschheit nun an einem Punkt angekommen ist, wo sie sich selbst auslöschen könnte. Daher sei die dringlichste soziale Frage weltweit heute die ökologische Frage, denn die „imperiale Lebensweise“ (Ulrich Brand) vernichte die natürlichen Lebensgrundlagen und schließe immer mehr Menschen von den ökonomischen und sozialen Lebensvoraussetzungen aus (S. 23).
Den Vorstellungen einer Entkoppelung des Rohstoff- und Energieverbrauchs vom Wachstum, wie sie in Konzepten eines „Green New Deal“ und mit technologischen Lösungen wie beispielsweise Elektromobilität oder Geo-Engineering propagiert werden, erteilt Bruno Kern eine kenntnisreiche Absage. Es gehe stattdessen darum, sich „vom parasitären Charakter unseres Scheinwohlstands“ zu verabschieden (S. 89). Ökosteuern und Zertifikatehandel seien keine geeigneten Mittel zur Beschränkung des Raubbaus.
Auch alternative Ansätze wie Öko-Keynesianismus, Bedingungsloses Grundeinkommen und Gemeinwohlökonomie sind für ihn keine Lösung. Solidarische Ökonomie – die er allerdings auf die Ideen von Elmar Altvater beschränkt – kritisiert er für ihre Illusionen über die Nutzung regenerativer Energien, gesteht den lokalen Initiativen jedoch eine „exemplarische Funktion“ zu (S. 146). Am nächsten steht er wohl der Postwachstumsökonomie nach Niko Paech, jedoch kritisiert er sie auch scharf, unter anderem wegen ihrer Verschleierung kapitalistischen Profitstrebens und der Orientierung auf individuelles Konsumverhalten.

Industrieller Rückbau und soziale Gerechtigkeit

Aus ökosozialistischer Perspektive umreißt Bruno Kern eine grundlegend industrialismuskritische Position. Es führe kein Weg daran vorbei, dass die Versorgung auf einem deutlich niedrigeren Level durch eine weitgehend dezentral und demokratisch organisierte Planung und solidarökonomische Selbstorganisation sichergestellt werden müsse.
Das Buch ist stark in der Dekonstruktion grüner Wachstumsmärchen, was ja auch sein Hauptanliegen ist. Nur grob umrissen ist die Richtung der Wege in eine ökosozialistische Zukunft. Der Autor betont, dass seine Initiative sich nicht an marxistischen Ideen orientiert. Ein notwendig sinkender Lebensstandard soll mit Gerechtigkeit durch die Abschöpfung privaten Reichtums und mit materieller Grundabsicherung einhergehen. Industrieller Rückbau bedeute vor allem, die fossilen Industriezweige herunterzufahren und die Rüstungsproduktion zu beenden. Eine kleinbäuerliche Landwirtschaft müsse an die Stelle der Agrarindustrie treten, und Bautätigkeiten müssten eingeschränkt werden. Diese und viele weitere Vorschläge sind richtig, notwendig und nicht neu. Nur – wer soll sie durchsetzen?
Der Autor sieht einerseits die Gewerkschaften als wichtigen Faktor einer Transformation. Jedoch würden diese die „imperiale Lebensweise“ verteidigen. So stünde ein Großteil der organisierten Arbeitnehmerschaft „faktisch auf der anderen Seite“ (S. 20). Auch wenn mit dem industriellen Rückbau manche Produktionsprozesse arbeitsintensiver würden und der Care-Bereich ausgebaut werde, rechnet der Autor mit Arbeitszeitverkürzungen. Diese sollten jedoch nicht mit vollem, sondern gestaffeltem Lohnausgleich einhergehen.

Ein wichtiges Diskussionsangebot

Es fällt auf, dass sich Bruno Kern fast ausschließlich auf Autoren (männlich) bezieht, als hätten Frauen zu dem Thema nichts beizutragen. Den Begriff „Anarchie“ verwendet er als Negativbezeichnung, wenn er von der „Anarchie einzelner Profitinteressen“ (S. 11) schreibt und warnt: „Die Welt könne in Anarchie versinken“ (S. 41). Dabei weiß er auch um „anarchistische Selbstorganisation“ als „ermutigende historische Beispiele“ (S. 132). Für die Umsetzung radikaler ökosozialistischer Ansätze im Prozess der Transformation hin zum menschlichen Maß, das der Autor mehrfach als Maßstab benennt, wären sowohl ökofeministische und Care-Perspektiven als auch aktuelle libertäre Ideen und Praxen wichtig, in denen auch freudvolle Vorstellungen eines ganz anderen Lebens und Arbeitens aufscheinen. Denn eine breite gesellschaftliche Zustimmung zum radikalen Herunterfahren von industrieller Produktion, Rohstoff- und Energieverbrauch wird sich nicht allein durch rationale Einsicht bewirken lassen, sondern braucht ebenso lebbare Beispiele und konkrete Angebote für eine bessere Lebensweise.
Der Autor thematisiert das „herrschende Tabu“ des weltweiten Bevölkerungswachstums, grenzt sich jedoch von menschenverachtenden Selektionsideen ab. Aufgrund ihres Verbrauchs seien „gerade die reichen Industrienationen ‚überbevölkert‘“. Was er meint, wenn er vorschlägt, das Bevölkerungswachstum „auf nichtrepressive Weise“ einzudämmen (S. 38), bleibt offen. Dass er am Schluss eine politische Konsumverweigerungskampagne vorschlägt, die sich zunächst auf Flugverkehr und Fleischkonsum fokussieren sollte, wirkt etwas bemüht und wird der Radikalität des zuvor Geschriebenen nicht gerecht.
Es bleibt viel zu diskutieren und vor allem umzusetzen. Zu den notwendigen inhaltlichen und strategischen Auseinandersetzungen hat Bruno Kern einen Kontroversen provozierenden, insgesamt jedoch sehr bedenkenswerten Beitrag geleistet. Das Buch sei allen empfohlen, die es ernst meinen mit Degrowth und die mehr darunter verstehen als einen gefälligen Slogan.