„Freie Geister“

Oder die individuelle Freiheit als Garantin für den notwendigen unaufhörlichen Prozess innerhalb einer anarchistischen Gesellschaft

| Wolfgang Haug

Ursula K. Le Guin: Freie Geister. Eine zwiespältige Utopie, aus dem Amerikanischen übersetzt von Karen Nölle, Fischer Tor 2017, Frankfurt/M., 432 Seiten, 14,99 Euro, ISBN 978-3-596-03535-9

In der GWR 461 hat Daniel Korth Ursula K. Le Guins Science-Fiction-Roman „Planet der Habenichtse“ ausführlich vorgestellt und ist dabei auch auf die Konflikte innerhalb des anarchistischen Planeten Anarres eingegangen. Dennoch lohnt es sich nach meiner Auffassung, auf den Hauptkonflikt, der die Autorin so stark bewegte, das Verhältnis zwischen „individueller Freiheit und Gesellschaft“, noch ausführlicher einzugehen. Le Guin hat das spezielle Problem der Verkrustung der Anarchie aufgegriffen und im Verlauf ihrer Erzählung verdeutlicht, dass eine anarchistische Gesellschaft im „Prozess“ bleiben muss und dass dies durch das Wechselspiel mit der individuellen Freiheit gelingen kann.

Ethik der leeren Hände

Ursula K. Le Guin wurde 1929 in Berkeley/Kalifornien als Tochter der Schriftstellerin Theodora Kroeber und des Anthropologen Alfred Kroeber (daher das K. in ihrem Namen) geboren. Sie studierte Geschichte, beschäftigte sich mit Karl Marx, William Godwin, Emma Goldman, Paul Goodman und intensiv mit Peter Kropotkin und der Tochter von Mary Wollstonecraft und William Godwin: Mary Shelley. Anfang der sechziger Jahre begann sie mit dem Schreiben ihrer SF- und Fantasy-Erzählungen. Das vorgestellte Buch „Planet der Habenichtse“ stammt aus dem Jahr 1974 und liegt seit 2017 in einer neuen, sehr stimmigen Übersetzung von Karen Nölle vor. 2018 erschien bereits die zweite Auflage im Fischer Verlag unter dem neuen Titel „Freie Geister“. Nölle schrieb dazu: „Man begreift im Lauf der Lektüre nach und nach, dass der englische Titel The Dispossessed noch anderes anspricht als das, was den Anarresen genommen ist: Sie sind ‚Die von der Besessenheit mit Besitz Befreiten‘ und damit viel mehr als nur ‚Habenichtse‘… ‚Freie Geister‘ eben. Sheveks Ethik der leeren Hände, die Freiheit, nichts ‚haben‘ zu müssen, konnte dort gedeihen, wo alles, was da ist, für alle da ist.“
Das Neue Deutschland feierte die Neuübersetzung, denn „diese interpretatorische Neuerung von Le Guins literarisch hochwertigem Gedankenexperiment […] lädt ein, unter den Schlagwörtern Freiheit, Anerkennung und Gleichheit die Systemfrage im 21. Jahrhundert abermals zu stellen.“ (1) Man könnte sich wundern, denn Nölle hat die Instanz, die jede individuelle Freiheit als Gefahr für die etablierte anarchistische Gesellschaft sehen wollte, umbenannt, bei ihr heißt diese Instanz nicht mehr PDK, sondern deutscher: KPD.
Diese Signalbuchstaben könnten uns dazu verleiten, dass damit eine nachrevolutionäre Bürokratisierung vergleichbar den Bolschewiki beschrieben würde, die ihre Partei mit dem Staat vereinten. Aber das wäre zu kurz gegriffen, wir können uns nicht beruhigt zurücklehnen, weil das ja im autoritären Sozialismus nicht anders zu erwarten war. Wer so denkt, bekommt von Le Guin schnell den Spiegel vorgehalten: Es geht ihr nicht nur um den Verlust des Revolutionären, der sich in einer Konsolidierungsphase nach der Revolution einstellen könnte, sondern um die schleichende Bürokratisierung der Anarchie.

Weshalb sieht sie die Gefahr? Es wurde doch, Daniel Korth hat es zusammengefasst, darauf geachtet, dass in der KPD nur Freiwillige, die durch das Los bestimmt wurden, Aufgaben wie die Arbeitseinteilung der Anarres*innen in der anarchistischen Gesellschaft übernahmen. Zudem wurde ihr Mandat begrenzt: Ein Jahr für die Ausbildung, vier Jahre für die Durchführung. Am System lag es also nicht. Den Begründer*innen waren die Gefahren, die in solcher Tätigkeit für eine neue Machtstellung liegen, durchaus bewusst.

Also liegt es daran, dass die Menschen ihre Ideale nicht mit ihrer neuen Rolle in Einklang bringen können? Eine Antwort, die als Teilantwort angedeutet wird: Alle empfinden sich als Anarchist*innen, sie erleben sich nicht im Widerspruch zu ihrer anarchistischen Gesellschaft, umso schwerer fällt es ihnen, Gefahren zu erkennen. Für diejenigen, die eine Gefahr sehen, ist der Problempunkt mit dem Hinweis auf die KPD und die dort Tätigen, die als Produktions- und Distributionsverwaltung dienen, scheinbar ausgemacht. Es wird unterstellt, dass dort die Ideale verloren gehen und sich eine Funktionshaltung durchsetzt. In erster Linie muss eine Arbeit getan, eine drohende Hungersnot abgewendet werden etc. Viele gute Gründe können aber auch schnell zu einer Begründung für neue Verbote, Be- und Verhinderungen, unausgesprochene Benachteiligungen werden, die wiederum eine Möglichkeit eröffnen, auch eine lästige zukünftige Konkurrenz kleinzuhalten, ihm*ihr Zugänge zu anderen Arbeiten zu verwehren. Die Suche nach Anerkennung bleibt den Einzelnen und beinhaltet Gefahren.

Probleme der Machtstellung

Aber Le Guin geht weiter, sie sieht das Problem nicht nur im Konflikt zwischen Ideal und Rolle: „Es sind nicht die einzelnen Mitglieder der KPD. Die meisten sind wie wir. Allzu sehr wie wir. Gutwillig, naiv. Und es ist nicht nur die KPD. Es ist auf ganz Anarres so. In den Lernzentren, Instituten, Bergwerken, Spinnereien, Fischereien, Konservenfabriken, landwirtschaftlichen Forschungs- und Entwicklungszentren, Manufakturen, Ein-Produkt-Gemeinden – überall, wo Fachkenntnisse und eine stabile Institution gebraucht werden, damit die Dinge laufen. Denn diese Stabilität schafft Raum für den autoritären Impuls.“ (S. 187) Damit sind zwei Probleme, die in Richtung einer neuen Machtstellung sich entwickeln können, benannt: Fachkenntnisse und Stabilität.

Fachkenntnisse sind notwendig, doch ihren Träger*innen wächst Macht zu, je mehr diese Fachkenntnisse benötigt werden, desto häufiger wird diese Macht bestätigt und wächst zur informellen Macht heran. Im Roman von Le Guin hatten Menschen mit Fachkenntnissen keine Stellung in der KPD inne, sondern dienten nur als Berater*innen. Das schien von den Gründer*innen gut gelöst. Aber gerade dadurch waren die Fachleute ausgenommen von Überprüfung, Absetzung und Kontrolle. Sie wurden nicht abgewählt oder nur zeitlich begrenzt befragt, sondern behielten ihren Status jahrelang, konnten wie Profs an den heutigen Unis Zulassungen zu Jobs befördern oder verhindern. Auf Anarres konnten sie auch Veröffentlichungen „als unanarchistisch“ verhindern oder nur abgeändert zulassen. Fachkenntnisse begründen – wie wir es manchmal nennen – „eine natürliche Autorität“, was zunächst nichts Schlechtes ist, aber unkontrolliert werden Machtstrukturen daraus. Es dauert nicht lange, dann entwickeln sich informelle Hierarchien, die nur schwer angreifbar sind.

Das Bedürfnis nach Stabilität verhinderte im Roman Innovationen, die nicht bereits erfolgversprechend ausprobiert wurden oder die auf den ersten Blick nicht direkt gesellschaftlich verwertbar sind. Ein solches Verhalten lässt sich in der Theorie leicht kritisieren und abstellen. Aber wenn es mit lebensbedrohlichen Begründungen wie Nahrungsmangel, drohender Hungernot oder Ähnlichem begründet wird, wird neuen Ideen keine Gelegenheit gegeben, in eine Praxisphase zu kommen. Solange dies zeitlich begrenzt bliebe, könnte es verstanden und akzeptiert werden, wenn es aber immer wiederkehrt, dass die „wichtigeren“ Gründe Neues verhindern, wird der notwendige Prozess der Anarchie der Stabilität, dem erreichten Status Quo, geopfert.

Vergleichen wir es mit dem, wie unser Gehirn lernt: Wir wissen, dass Lernen eigentlich ein Prozess ist, der nie aufhört; aber gleichzeitig ist eine Form des Lernens „anti-prozesshaft“: Einmal positiv gewonnene Erfahrungen werden wiederholt, durch das häufige Wiederholen machen wir uns das Gelernte immer wieder neu nutzbar. Es verfestigt sich; im Gehirn wachsen die Synapsen, wenn über die Nervenzellen immer wieder dieselben Impulse an den zuständigen Gehirnzellen ankommen, so dass der Austausch zwischen Gehirnzellen und Körperzellen immer schneller und reibungsloser funktioniert. Das System funktioniert auf immer wiederkehrende Impulse immer besser. Bleibt man dabei, verhindern die Wiederholungen den weiteren Prozess. Die „Stabilität“ stoppt, dass wir Neues lernen, dass wir Nichtgetestetes ausprobieren. Einmal entstandene Verbindungen werden benutzt, weil sie schneller und leichter funktionieren. Ein ausgetretener Weg durch den Schnee wird lieber benutzt als ein direkterer Weg von A nach B durch hohen Schnee. Diese Problematik menschlichen Denkens findet sich bei Le Guin im Hinblick auf die entstandene anarchistische Gesellschaft und fordert zum Nachdenken auf. Wenn eine anarchistische Gesellschaft vollkommen von sich überzeugt ist und von der Tatsache, dass alles nach den theoretischen Vorstellungen funktioniert, werden innovative Menschen im funktionierenden System ignoriert, und wenn diese dann auf ihrem Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit bestehen, können sie zum Störfaktor werden. Die Hauptfigur Shevek beschäftigt sich mit Temporalphysik, für die Zeitgenoss*innen ist eine Beschäftigung mit der Zeit nicht funktional, für die existierenden Probleme scheint sie nicht verwertbar.
Es muss also gar nicht wie im Kapitalismus um die fehlende Gewinnmaximierung einer Idee gehen, damit sie abgelehnt wird, sondern es geht in der Anarchie um die Sinnhaftigkeit einer Idee für die Gemeinschaft. Ist eine Idee nicht als sinnhaft, sinnvoll oder als positiv für die Gemeinschaft erkennbar, hat sie verloren.

Ob und wie

In „Freie Geister“ wird die Arbeit zu dieser Idee nicht veröffentlicht, nicht weiter verfolgt und damit unterdrückt. Setzen sich die Ideenentwickler*innen vehement dafür ein, gründen ein eigenes Syndikat und veröffentlichen die Idee in Eigenregie, werden sie als Egoist*innen an den Pranger gestellt, von Gemeinschaftsaktivitäten ausgeschlossen und bekommen die Ablehnung persönlich zu spüren. Sogar die Kinder und Partner*innen können in Sippenhaftung geraten. Auch in der Anarchie „spricht es sich herum“, wer als wertvoll und wer als unzuverlässig eingestuft wird. Die ersten, die es bemerken, dass die Freiheit schneller enden kann als vermutet, sind die Künstler*innen, deren Kunst von der großen Mehrheit nicht verstanden wird. Wissenschaftler*innen kann es ähnlich ergehen, aber es schließt keinen Lebens- und Arbeitsbereich aus.
An dieser Stelle wird der Roman bitter. Die Anarchie verträgt keine Anarchist*innen mehr, die selbst denken, die verändern wollen. Während Anarchist*innen im Kapitalismus, in Diktaturen und im Staatskommunismus häufig wegen ihrer Ideen und Verhaltensweisen psychiatrisiert wurden und werden, werden sie in der Anarchie nun wirklich psychisch krank, weil sie sich nicht mehr in die Gemeinschaft integrieren und sich gleichzeitig nicht von der von ihren mitgetragenen vorherrschenden Gesellschaft distanzieren können. Sie verlieren die Zugehörigkeit, die Gegenseitige Hilfe oder ganz einfach das „Berühren“ der Mit-genoss*innen. In diesem Zusammenhang wäre es auch wichtig, darüber nachzudenken, wie die Forderung nach Konsensentscheidungen in der anarchistischen Praxis mit individuellen Freiheitsräumen in Einklang zu bringen ist?
Um dies zu vermeiden, müsste die Utopie einer anarchistischen Gesellschaft sich immer wieder neu auf die Fragestellungen hin überprüfen, ob der Prozess noch weiter läuft und wie er noch weiter funktionieren kann, ob genügend Freiheitsräume für Einzelne auch dann gewährleistet werden, wenn die Verhältnisse schwierig werden. In diesem Sinne könnte die individuelle Freiheit das zentrale Korrektiv sein, um die gesellschaftliche Freiheit immer wieder gegen die ebenfalls notwendige gesellschaftliche Stabilität in Schutz zu nehmen.

(1) Philip Dingeldey, Neues Deutschland, 31.7.2017.

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