Verschlossene Welt

Ein deutsches Gefängnis im 21. Jahrhundert

| Daniel Korth

Ulfrid Kleinert / Lydia Hartwig (Hg.): Ein deutsches Gefängnis im 21. Jahrhundert. Redakteure der unzensierten Dresdner Gefangenenzeitung „Der Riegel“ berichten. Notschriften Verlag, Radebeul 2021, 2. Aufl., 296 Seiten, 12,90 Euro, ISBN 9783948935146

Das Gefängnis ist für die meisten Menschen ein blinder Fleck in unserer Gesellschaft. Wir wissen wenig über das Leben in einer Strafanstalt, jedoch herrscht eine unbestimmte Furcht vor den Menschen hinter Gittern. Diese wird zum einen durch die Berichterstattung der Massenmedien erzeugt, in denen das Gefängnis nur im Zusammenhang mit schweren Straftaten oder spektakulären Ereignissen wie Geiselnahme oder Flucht erwähnt wird. Zum anderen entsteht sie, weil die Menschen im Gefängnis für uns unhörbar und unsichtbar bleiben. In dieser Hinsicht ist das Buch „Ein deutsches Gefängnis im 21. Jahrhundert“ ein guter Weg, etwas über das Leben straffällig gewordener Menschen zu erfahren. Es versammelt persönliche Schilderungen, Alltagsreportagen und satirisch-poetische Texte, die seit 2001 in der Gefangenenzeitung der Justizvollzugsanstalt (JVA) Dresden – „Der Riegel“ – erschienen sind. Der Riegel wird von Gefangenen und Ehrenamtlichen erstellt und erscheint unzensiert. Weil für diese Arbeit sowohl die Fähigkeit als auch die Lust zum Beobachten, Reflektieren und Schreiben Voraussetzung sind, können die Mitglieder der Redaktion nicht die Gefangenen insgesamt repräsentieren. Sie sind jedoch besonders gut in der Lage, über das Leben im Gefängnis zu berichten. Der Riegel erscheint alle drei Monate und kann über die Webseite des Vereins Hammer Weg e.V. (www.hammerweg.eu) auch außerhalb des Knasts bezogen werden.

Die Themen

Für das Buch „Ein deutsches Gefängnis im 21. Jahrhundert“ haben die Herausgeber*innen, Ulrich Kleinert und Lydia Hartwig, die beide auch ehrenamtlich an der Veröffentlichung des Riegels beteiligt sind, Artikel aus 20 Jahren Riegel so geordnet, dass sie einen authentischen Einblick in die Lebenswelt der Gefangenen vermitteln. Dies ist ihnen ausgezeichnet gelungen.
Häufig wird ein Thema dabei aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. So berichten z. B. eine Sozialarbeiterin, ein Seelsorger und eine ehrenamtliche Mitarbeiterin über ihre Arbeit mit den Gefangenen, und Gefangene schreiben über ihre Sicht auf diese Arbeit, was sie ihnen bedeutet und was es für Probleme gibt. Ebenso sind manche Beiträge, etwa diejenigen über „Angst“ oder „Täter und Opfer“ aus Gesprächsrunden zwischen Insassen der JVA und Besucher*innen entstanden. Hier stehen dann die Perspektiven „drinnen“ und „draußen“ nebeneinander.
Weil alle Mitglieder der Riegel-Redaktion in den letzten zwei Jahrzehnten der Meinung sind, dass geschlossene Gefängnisse gar nicht oder wenig geeignet sind, um ein „Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten“ einzuüben, beginnt das Buch nicht mit dem Alltag im Gefängnis, sondern mit Berichten von außergewöhnlichen Ereignissen, bei denen die Mauer zwischen drinnen und draußen durchbrochen wurde: Ein Konzert im Gefängnis, ein Theaterstück über das Thema Rückkehr, das jährliche Sportfest mit einem Fußballspiel zwischen der Knastmannschaft und einem lokalen Verein und die Vergabe eines Literaturpreises an eine Autorin des Riegels.

Der Knastalltag

In den folgenden Kapiteln wird dann der Alltag im Knast beschrieben. Die Themen sind u. a. Entlassung, Einschluss, Arbeit, Zeit, Schule, Konflikte, Nachtruhe, das Personal der JVA, Weihnachten, Menschenwürde, Drogen, Bücher … Den einzelnen Kapiteln und Thematiken haben die Herausgeber:innen kurze Erläuterungen vorangestellt, welche die folgenden Beiträge in einen Kontext einordnen. Hierbei geht es z. B. um den Anlass eines Artikels oder die Bedeutung eines bestimmten Themas für das Leben in der Strafanstalt.
Mich haben am meisten die Texte berührt, in denen Gefangene über die Verbindung zu ihrer Familie, ihrer Frau oder ihrem Mann und ihren Kindern berichten. Der eine schreibt über den ersten Besuch seines fünfjährigen Kindes in einem der kargen Besuchsräume der JVA. Ein Vater, der sich sorgt, wie die Besucherzelle auf sein Kind wirkt, entspricht nicht dem Bild des hartgesottenen Verbrechers. Der andere erzählt von einem zweitägigen Gruppenausflug in die Sächsische Schweiz, den die JVA für Gefangene mit Familien organisierte: „Der nächste Morgen: Keine Schließgeräusche, kein Lärm. Statt dessen ein leises: ,Papa, wir müssen aufstehen!‘ und ,Papa, wir wollen viel spielen!‘, einfach wunderschön.“
Mir wurde durch diese Texte klar, dass das Gefängnis nicht nur den Straftäter, sondern auch seine Angehörigen bestraft. Wie erklärt eine Mutter ihrem Kind, dass der Papa in diesem Haus ist und nicht raus darf und warum er dort ist? Wie pflegt man eine Beziehung über Knastmauern hinweg? Und was muss es für einen Gefangenen bedeuten, zwei Tage mit der Partnerin und dem Kind zusammen sein zu können und etwas Schönes zu erleben!

Etwas, das besser ist als Strafvollzug

An die Schilderung des Lebens hinter Gittern schließt sich das vorletzte Kapitel des Buches an, welches die Idee aufgreift, dass die geschlossene Institution Gefängnis für eine Wiedereingliederung von Straffälligen in die Gesellschaft nicht hilfreich, sondern eher schädlich ist.

Resozialisierung – paradox
    • Man sperrt mich ein, um mich auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten.
    • Man nimmt mir alles, um mich zu lehren, mit Dingen verantwortungsbewusst umzugehen.
    • Man reglementiert mich permanent, um mir zur Selbstständigkeit zu verhelfen.
    • Man entfremdet mich Menschen, um mich ihnen näher zu bringen.
    • Man bricht mir das Rückgrat, um mir den Rücken zu stärken.
    • Man programmiert mich auf Anpassung, damit ich lerne, kritisch zu leben.
    • Man bringt mir Misstrauen entgegen, damit ich lerne zu vertrauen.
    • Man bricht vor meinen Augen die Gesetze, damit ich lerne, diese zu achten.
    • Man sagt: „Zeige deine Gefühle“, damit man mit ihnen spielen kann.
    • Man sagt: „Du bist resozialisiert“, wenn ich zu allem nur noch nicke.
      (Unbekannter Autor, S. 176 des besprochenen Buches)

Gegenüber einem Strafvollzug, in dem Rechtsverletzer in Gefängnisse weggesperrt und von überlasteten Mitarbeiter:innen mehr bewacht als betreut werden, wird für einen Justizvollzug in freien Formen plädiert, bei dem die Gesellschaft die durch Rechtsverletzer signalisierten Problemlagen an Ort und Stelle in der Region, in der sie auftreten, bearbeitet.
Ein großer Teil der Inhaftierten gehört nicht zu den als gefährlich geltenden Gefangenen, die die Schlagzeilen der Medien und der öffentlichen Meinung bestimmen, sondern ist nur kurzfristig für wenige Wochen oder Monate in Haft. In Sachsen z. B. haben über 40 Prozent der Inhaftierten eine Freiheitsstrafe unter einem Jahr. Manche dieser Menschen sitzen eine Ersatzfreiheitsstrafe ab, weil sie aus unterschiedlichen Gründen eine Geldstrafe nicht zahlen konnten. Andere wurden wegen Delikten wie andauerndem Schwarzfahren verurteilt. 70 Prozent haben eine Freiheitsstrafe von unter zwei Jahren. Für die Resozialisierung dieser Gruppe eignet sich die geschlossene Anstalt nicht. Stattdessen besteht durch den Kontakt mit längerfristigen Gefangenen und einer Subkultur von Gewalt und Drogen die Gefahr einer stärkeren Kriminalisierung.
Eine freie Form des Justizvollzugs sind z. B. Projekte von zehn oder zwölf Gefangenen, die an einem Ort in der Region gemeinsam einer gemeinnützigen Arbeit nachgehen und dabei Erfolg und Anerkennung erleben. Persönliches Fehlverhalten und Schwächen werden aufgearbeitet. Auseinandersetzung mit der Straftat und Täter-Opfer-Ausgleich finden statt. Oft genug entstehen hieraus ein Berufsabschluss und der Übergang in ein reguläres Arbeitsverhältnis. Das letzte Kapitel schließlich enthält Gedichte und Satiren aus dem Gefängnis.

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