Seit 2015 unterstützt die No Border Kitchen Lesvos durch Essensverteilungen an der EU-Außengrenze Migrant*innen und kämpft durch politische Aktionen gegen die Festung Europa. Diese Arbeit ist geprägt von ständigen Widersprüchen und erfordert Reflexion. Über Geschichte, Organisation und Herausforderungen der Initiative schreibt ein Teil ihrer Mitglieder für die Graswurzelrevolution. (GWR-Red.)
Der Anfang der No Border Kitchen Lesvos (NBK) geht zurück auf Ende 2015, als sich Kochaktivist*innen mit und ohne europäische Pässe dazu entschieden, eine Strandbesetzung von Migrant*innen (1) mit Essen zu unterstützen. Sowohl diese Besetzung als auch andere wurden irgendwann geräumt oder teilweise aus anderen Gründen aufgegeben, z. B. aufgrund von Gruppenkonflikten. Besetzt wurden gemeinsam mit Migrant*innen Strände oder verlassene Fabrikgebäude am Rand von Mytilini (2). Ab dem Frühling 2016 entschieden sich die Aktivist*innen dazu, eine Garage und später ein Haus zu mieten, um die große Küche mitsamt dem Equipment vor weiteren Räumungen zu sichern. Eine der größten Veränderungen kam mit der Schließung dieser Räume im Sommer 2018.
Die Zeit von Besetzungen und dem Mieten von Häusern hat gezeigt, dass ein fester Ort zu angreifbar durch Polizei, Bürokratie und Faschist*innen ist. Gleichzeitig haben immer mehr Migrant*innen Wohnraum in Mytilini gefunden, und es gab weniger Bedarf an gekochtem Essen. Da auch andere Organisationen Küchen betrieben und die Kosten einer eigenen Küche zu hoch waren, wurde beschlossen, sie zu schließen. Seitdem bezieht NBK Essen von anderen Organisationen und verteilt parallel dazu so genannte food boxes – also Kisten mit Essenszutaten. Dies ist aus politischen und pragmatischen Gründen ein wichtiges Anliegen: Indem Menschen die Zutaten zum Zubereiten von Essen zur Verfügung gestellt bekommen, wird ihnen mehr Selbstbestimmung und Freiheit ermöglicht.
(Nicht nur) Essen unter die Leute bringen
Dennoch verteilt die No Border Kitchen weiterhin täglich gekochtes Essen – teilweise an einem festen Ort in Mytilini, durch Covid-19 dann zeitweise auch im Rahmen kleiner, dezentraler Verteilungen bis hin zum Liefern des Essens nach Hause. Neben dem zusätzlichen Verteilen von food boxes wird in einem wöchentlichen Plenum besprochen, welche weiteren Dinge zu tun sind: Vom Aufräumen des Material- und Spendenlagers über die Verteilung von Kleidung aus diesem Lager bis hin zum
Schreiben und Verbreiten von Texten oder dem Organisieren von politischen Aktionen.
Durch die Orientierung an Bedürfnissen von Migrant*innen wandeln sich diese weiteren Aufgaben wöchentlich oder gar täglich: Auch finanzielle Unterstützung in Notlagen, Rechtsbeistand im Asylverfahren und Prozessbegleitung in Fällen von Repression können auf der Tagesordnung stehen. Die politischen Aktionen umfassen auch das Halten von Vorträgen oder Redebeiträgen auf Demonstrationen außerhalb Griechenlands, um auf die Lage an der EU-Außengrenze aufmerksam zu machen.
Nur eine weitere NGO?
In ihrer Arbeitsweise und ihren politischen Grundsätzen unterscheidet sich NBK stark von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die auf Lesvos aktiv sind. Grundsätzlich wird versucht, Migrant*innen, die durch das europäische Grenzregime in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind, in ihrer Autonomie zu unterstützen. Für die konkrete Arbeit bedeutet dies, dass die Arbeit von NBK primär von Migrant*innen selbst ausgeht und Personen mit europäischen Pässen insbesondere im Fall juristischer Notwendigkeit – also beispielsweise beim Anmieten von Räumen – unterstützen. Darüber hinaus beruht die Arbeit auf den anarchistischen Prinzipien der Selbstorganisierung, der gegenseitigen Hilfe und Solidarität. Der politische Anspruch umfasst die Ablehnung von Grenzregimen jeglicher Art, weshalb grundsätzlich nicht mit staatlichen Institutionen zusammengearbeitet wird.
Dennoch besteht ein schmaler Grat und stetiger Aushandlungsprozess zwischen politischen und pragmatischen Entscheidungen. Während aus politischen Erwägungen heraus beispielsweise weiterhin das Besetzen von Gebäuden gewünscht wäre, so würde dies aus pragmatischer Perspektive die Essensverteilung in Gefahr bringen. In ihren zwei Extremformen sind beide Entscheidungspole problematisch: Ausschließlich politische Erwägungen würden Lähmung bedeuten, während ausschließlich pragmatische Entscheidungen bedeuten würden, mit NGOs und staatlichen Akteur*innen zusammenzuarbeiten und sich letztlich für die Situation von Migrant*innen mitverantwortlich zu machen.
Einen stetigen Reflexionsprozess erfordert außerdem die Zusammenarbeit von Personen, die die Insel verlassen können, und solchen, die dies nicht können. Erstere können sich freiwillig für die Arbeit entscheiden, Letztere vielleicht nicht immer. Auch gegenüber lokalen anarchistischen Strukturen stellt sich regelmäßig die Frage nach Aktionsformen und darauffolgender Repression, die eher lokale Strukturen als internationale Freiwillige trifft.
Selbstorganisierung, Spontaneität und Solidarität
Insbesondere in ungewohnten Situationen und in Notfällen hat Selbstorganisierung einen großen Vorteil: Nachdem beispielsweise Moria abgebrannt war und ca. 10.000 Menschen auf der Straße standen, waren es ausschließlich NBK und Einzelpersonen, die die Migrant*innen mit Essen unterstützt haben. Große NGOs, die von Direktiven ihrer Geldgeber*innen, dem Staat oder anderweitigen Hierarchien abhängig sind, konnten wiederum nicht auf diese spontane Änderung der Situation reagieren und taten zunächst nichts. In den mehr als fünf Jahren von NBK gab es keinen Tag, an dem kein Essen verteilt wurde.
Diese Essensverteilungen hatten eine hochgradig politische Dimension: Die Weigerung der Migrant*innen, nach dem Brand von Moria in das sofort errichtete gefängnisartige Camp zu ziehen, muss als Befreiungskampf der Migrant*innen gegen das europäische Grenzregime und die Lagerstruktur verstanden werden. Der griechische Staat versuchte, durch ein Verbot von Essensverteilungen die Menschen auf der Straße gefügig zu machen, um sie schließlich in das neu erbaute Lager zu bringen. Die Essensverteilung war somit der Versuch, diesen Kampf für Bewegungsfreiheit zu unterstützen. Ebenfalls war es ausschließlich NBK, die imstande war, in diesen großen Menschenmengen nach dem Feuer Essen zu verteilen. Der politische Anspruch, solidarisch und auf Augenhöhe den unterstützten Menschen gegenüberzutreten, hat sich hier in der Praxis als Vorteil erwiesen.
Internationale und antinationale Solidarität
So variabel die Arbeit von NBK ist, so schwierig lässt sich die Frage nach Möglichkeiten der Unterstützung beantworten. Da sich die Arbeit ausschließlich durch Spenden von Genoss*innen und solidarischen Gruppen finanziert, sind Spenden stets von Bedeutung. Darüber hinaus werden immer wieder Menschen benötigt, die vor Ort Essen verteilen und an anderen Projekten teilnehmen. Und für den übergeordneten Kampf gegen Grenzregime und die Festung Europa ist internationale Aufmerksamkeit notwendig. Seien es Vorträge oder direkte Aktionen – jede*r kann auf die Situation an der EU-Außengrenze aufmerksam machen und etwas im Kampf gegen sie beitragen.
(1) Es wird versucht, ausschließlich von Migrant*innen zu sprechen, um etwaige Unterscheidungen in legitime (Bürger-)Kriegsgeflüchtete und vermeintlich illegitime Migrant*innen aus ökonomischen oder anderen Ursachen zu umgehen.
(2) Die größte Stadt auf Lesvos sowie Hauptstadt von Lesvos und den Nordägäischen Inseln.