Von Gdańsk nach Bremen

Arbeiter*innenkämpfe in den Werften – eine Geschichte proletarischer Solidarität

| Peter Nowak

Sarah Graber Majchrzak: Arbeit – Produktion – Protest. Die Leninwerft in Gdańsk und die AG „Weser“ in Bremen im Vergleich (1968-1983), Böhlau Verlag 2021, 563 Seiten, 65,00 Euro, ISBN 9783412519179

In der Danziger Leninwerft wurde die Gewerkschaft Solidarność gegründet. Ihr wird das Verdienst zugesprochen, zum Untergang des Staatskapitalismus in den osteuropäischen Ländern beigetragen zu haben. So wird ein Mythos über die Werft in Gdańsk kreiert, wonach von dort der Ruf nach Freiheit und Demokratie im Sinne des Kapitalismus ausgegangen sei. Da ist umso erfreulicher, dass sich Sarah Graber Majchrzak in ihrem gründlich recherchierten Buch „Arbeit – Produktion – Protest“ mit den sozialen Ursprungszielen des Protests der Arbeiter*innen auf der Leninwerft beschäftigt und sie mit den Kämpfen auf der Bremer Weser-Werft verglichen hat. Die Autorin zeigt auf, wie die Kämpfe um die Gdańsker Werft einen Teil der Beschäftigten in Bremen zur Besetzung ermutigten. Damit wird deutlich, welche Signale die polnischen Arbeiter*innen an Kolleg*innen in anderen Ländern aussendeten.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

In den ersten Kapiteln widmet sich Graber Majchrzak ausgiebig der Entwicklung des Schiffbaus in Gdańsk und Bremen und benennt Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Während in der BRD die Bedeutung des Schiffbaus nach 1945 kontinuierlich abnahm, erreichte die Branche in Polen in den 1970er-Jahren den höchsten Umsatz. Gemeinsam war dem Markt- wie dem Staatskapitalismus, dass die Arbeiter*innen nicht über ihre Produkte bestimmen konnten. Im Buch wird dargelegt, wie es in der polnischen Werft viele Mitbestimmungsgremien gab, die Entscheidungen aber letztlich bei der von der Kommunistischen Partei bestimmten Nomenklatura lag. Dabei geht die Autorin auch auf zentrale Unterschiede ein. Ganz wichtig war, dass in Polen die Angst vor Entlassung und Arbeitslosigkeit fehlte, was das Selbstbewusstsein der Beschäftigten stärkte. Sie hatten auch in der großen und unübersichtlichen Gdańsker Werft mehr Rückzugsorte als ihre Bremer Kolleg*innen, die in der Fabrik viel unmittelbarer beobachtet und kontrolliert wurden. Ein weiterer Unterschied war der hohe Anteil der Frauen in der Belegschaft in Polen im Vergleich zu Bremen. Dort spielte in den 1960er-Jahren die Ausbeutung migrantischer Arbeit eine wichtige Rolle. In Polen traten die bäuerlichen Arbeiter*innen zeitweilig als betriebliche Reservearmee auf. Auch die Sozialpolitik war in Polen viel weiter ausgebaut als in der BRD. So gab es auf dem Werftgelände wichtige soziale Einrichtungen wie einen Betriebskindergarten oder ein Betriebskrankenhaus.

Viele Fragen bleiben offen

Graber Majchrzak beschreibt gut, warum die Gdańkser und die Bremer Arbeiter*innen im wahrsten Sinne auf die Barrikaden gingen und mit der Werftbesetzung proletarische Geschichte schrieben. Es bleiben natürlich Fragen, warum dieser proletarische Internationalismus über die unterschiedlichen Herrschaftssysteme hinweg heute so wenig bekannt ist und der Kampf in Polen von der kapitalistischen Siegergeschichtsschreibung vereinnahmt wurde. Wer das Buch von Graber 
Majchrzak liest, wird einige Antworten finden. So blieben die Kämpfe in der Bremer Werft sehr parlamentsfixiert. Das zeigte sich schon daran, dass die Besetzung aufgegeben wurde, nachdem bei den Wahlen zum Bremer Landtag am 24. September 1983 die SPD wieder die absolute Mehrheit bekommen hatte. Schließlich waren die Beschäftigten der Werft über Jahrzehnte Anhänger*innen der SPD. Daher war die Enttäuschung groß, als genau diese Partei nun die Schließung als alternativlos darstellte. Erst Ende der 1970er-Jahre gab der Betriebsrat den sozialpartnerschaftlichen Kurs auf und geriet damit in Konflikt mit der IG-Metall-Führung, in der viele SPD-Mandatsträger*innen saßen. Es gab allerdings in der Bremer Werft eine kleine linke Minderheit unter der Belegschaft, die auf unterschiedliche Gruppierungen verteilt war, eigene Zeitungen druckte und darüber durchaus Einfluss auf die Stimmung der Beschäftigten nehmen konnte. Einige der im Buch zitierten Quellen stammen von dort. Nicht erwähnt wird, dass in Bremen während der Proteste gegen die Werftschließung sogar ein ungewöhnliches Personenbündnis, das sich Betrieblich Alternative Liste (BAL) nannte und aus Linken verschiedener Betriebe bestand, zur Wahl für die Bremer Bürgerschaft 1983 kandierte, allerdings nur 1,3 % der Stimmen bekam. Nach der Lektüre des Buches stellt sich natürlich auch die Frage, warum der linke Impuls der Kämpfe so schnell versandete. Man hätte gerne mehr erfahren über die prowestlichen Berater*innen von Solidarność, die nach der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen vor allen im Ausland aktiv wurden. Dabei spielte auch der Vatikan bald eine wichtige Rolle. Hier bleibt in der Arbeit von Graber Majchrzak eine Leerstelle. Ansonsten ist ihr Buch ein Stück Gegengeschichte der Arbeiter*innenkämpfe in Ost wie West, das trotz des hohen Preises nicht nur für Wissenschaftler*innen empfehlenswert ist.

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