Atom- und Polizeistaat Frankreich

Hohe Strafen im Prozess gegen Atomkraftgegner*innen in Bar-le-Duc

| Eichhörnchen

85.000 abgefangene Telefongespräche und Nachrichten (zeitliches Äquivalent von 16 Jahren Telefonüberwachung), Kontaktverbote und Ingewahrsamnahmen von bis zu 60 Stunden für Verhöre, 23 Hausdurchsuchungen, 20.164 Seiten Ermittlungsakte und 180 Seiten Anklageschrift. Das sind die Zahlen der französischen Justiz nach vier Jahren Ermittlungen gegen Gegner*innen des Atommüllendlager-Projekts CIGEO im französischen Bure (1). Der Prozess gegen sieben Atomkraftgegner*innen fand vom 1. bis zum 3. Juni 2021 in Bar-le-Duc statt. Im am 21. September 2021 verkündeten Urteil wurden die Angeklagten vom Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung freigesprochen. Sie wurden jedoch wegen Delikten wie der Organisation einer nicht angemeldeten Demonstration zu Haftstrafen verurteilt. Über dieses Verfahren gigantischen Ausmaßes schreibt für die Graswurzelrevolution Eichhörnchen. (GWR-Red.)

Die Staatsanwaltschaft legte den Angeklagten zur Last, Mitglieder einer kriminellen Vereinigung zu sein. Die Aktivist*innen standen aufgrund dieses schwerwiegenden Vorwurfs mehrere Jahre unter richterlicher Kontrolle: Sie mussten regelmäßig bei der Polizei vorstellig werden, durften sich nicht treffen und bestimmte Orte wie Bure und die Dörfer rund um Bure nicht betreten. (2)
Die Angeklagten sollen eine kriminelle Vereinigung (wörtlich: „eine Vereinigung von Übeltäter*innen“) gebildet haben und an Vereinbarungen zur Vorbereitung einer oder mehrerer Straftaten teilgenommen haben wie Sachbeschädigung, einer nicht angemeldeten Versammlung und Nicht-Entfernung aus dieser nach Auflösung, des Besitzes eines explosiven oder brennbaren Stoffes oder Geräts (Feuerwerkskörper, Knaller) und Landfriedensbruchs.
Im Mittelpunkt der Anklage stand eine Demonstration am 15. August 2017. Diese war angekündigt, jedoch nicht bei der Versammlungsbehörde angezeigt worden. Die Angeklagten sollen die „Rädelsführer*innen“ gewesen sein. Die Polizei hinderte den Demonstrationszug daran, das Dorf Bure zu verlassen. Die Demonstrant*innen versuchten daraufhin, ihr Demoziel, einen archäologischen Fundort, über die Felder zu erreichen. Die Polizei setzte Granaten gegen die Menschen ein, es gab zahlreiche Verletzte, ein Demonstrant verlor fast seinen Fuß (3).

„Wir sind alle Übeltäter*innen“-Demo statt Prozess

Die Angeklagten durften sich vor Verlesung der Anklageschrift äußern. Sie lehnten alle eine Aussage zur Sache ab und erklärten, eine kollektive Verteidigungsstrategie gewählt zu haben. Sie äußerten sich anschließend zu unterschiedlichen Facetten der Umstände des Prozesses.
Angélique las aus einem Artikel von „Reporterre“ zur Pariser Kommune vor: „Die Pariser Kommune war die Matrix der revolutionären Ökologie“ (4).
Kevin, ein weiterer Angeklagter, berichtete Einzelheiten zu seinem polizeilichen Verhör: „Mir wurde gesagt, dass ich, wenn ich gegen die Atomkraft kämpfe, den Rechtsstaat angreife, und das mache mich zu einem Terroristen.“ Er fuhr fort: „Ich erwarte nichts von Ihrem Rechtssystem, ich werde mich unter keinen Umständen Ihren Gesetzen unterwerfen. Ich habe sieben Monate Untersuchungshaft hinter mir, und ich werde nichts weiter sagen.“
Es folgte die Verlesung der Anklageschrift. Diese verlas der Staatsanwalt vor einem leeren Gerichtssaal. Lediglich zwei Anwälte blieben für die Verteidigung im Saal. Die Angeklagten, ihre weiteren Verteidiger*innen und das Publikum schlossen sich einer Solidemonstration in der Stadt an. Über 100 politische Initiativen hatten zur Unterstützung der Angeklagten aufgerufen. Eine Solierklärung gab es auch aus Deutschland (5). „Wir sind alle Übeltäter*innen“ und „Andra, haut ab – Widerstand und Sabotage“, hieß es in Sprechchören auf der Demonstration. Andra, die nationale Agentur für die Entsorgung von Atommüll, ist die Bauherrin von CIGEO. Zahlreiche Demonstrant*innen trugen violette Kleidung als Zeichen der Solidarität mit den Angeklagten, deren kriminelle Vereinigung laut Anklage einen Dresscode in der Farbe Violett gehabt haben soll. Der Staatsanwalt zeigte sich sauer über den Abgang der Angeklagten und sprach von „Geiselhaft“.

Zeug*innenvernehmungen

Der zweite Verhandlungstag war der Vernehmung von Zeug*innen gewidmet. Die französische Strafprozessordnung ermöglicht die Ladung von Zeug*innen und Sachverständigen durch die Verteidigung. In deutschen Strafprozessen kommt es meist nur dazu, wenn Beweisanträgen nachgegangen wird. Auf Initiative der Verteidigung geladene Zeug*innen muss das Gericht nicht vernehmen und lehnt dies regelmäßig als nicht zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ab.
Der Ermittlungsrichter Kevin Le Fur musste sich den Fragen der Verteidigung zu seiner Ermittlungsarbeit stellen. Er wurde zu den Kosten des Ermittlungsverfahrens befragt, wusste jedoch keine Antwort. Journalist*innen haben diese Kosten ermittelt, das Online-Magazin „Reporterre“ berichtete darüber (6). Eine Million Euro gab der Staat für die Verfolgung der Atomkraftgegner*innen aus. „Ist eine Frau, die mit Kindern an einer Protestaktion teilnimmt, Teil eines Babyblocks?“, fragte eine Anwältin der Verteidigung. Sie nahm Bezug auf die Verfolgung von Rechtsanwalt Etienne Ambroselli, der zusammen mit seiner Frau und einem Kinderwagen an der Demonstration vom 15. August 2017 teilgenommen hatte und deshalb verdächtigt wurde, Teil der kriminellen Vereinigung zu sein. Die Anwaltsvereine protestierten, die Durchsuchung seiner Kanzlei wurde später für illegal erklärt und das Verfahren gegen den Anwalt eingestellt. Ambroselli war Teil des Verteidigungsteams in Bar-Le-Duc. Eine weitere Anwältin fragte Le Fur, ob es nicht verfahrensrechtlich problematisch sei, vertrauliche Gespräche zwischen Anwält*innen und ihren Mandant*innen, wie vorliegend geschehen, in die Ermittlungsakte aufzunehmen. Der Ermittlungsrichter verneinte.
Der zweite Zeuge war der Nuklearphysiker Bernard Laponche. Als Ingenieur in der Atomenergiebehörde CEA war er an der Entwicklung der ersten französischen Atomkraftwerke beteiligt. Heute ist er Projektgegner. Er äußerte sich zu den Gefahren des geplanten Atommülllagers. Er halte die Demonstration vom 15. August angesichts dessen, wie das Endlager durchgesetzt werde und dass es keine Lösung für das Atommüllproblem darstelle, für legitim. Insbesondere die Rückholbarkeit sei bei dem Projekt nicht gesichert. Er zog einen Vergleich mit dem Stocamine-Skandal in Wittelsheim im Elsaß: 42.000 Tonnen toxischer Müll wurden dort tief eingelagert und drohen nun das Grundwasser zu verseuchen, weil die versprochene Rückholbarkeit nicht gegeben ist (7).
Die Politologin Vanessa Codaccioni erschien ebenfalls im Zeug*innenstand. Sie forscht zum Thema Überwachungsstaat und beschäftigt sich mit großen politischen Prozessen der Geschichte. „Historiker*innen werden später auch diesen Prozess untersuchen“, erklärte sie. Das Verfahren sei charakteristisch für die „Kriminalisierung der Opposition“. Eine Kriminalisierung, die „immer präventiver“ werde, weil der Staat sich vor Protest schützen wolle.

Plädoyers

Die Plädoyers fingen mit dem Vortrag der Staatsanwaltschaft an. Diese forderte Gefängnisstrafen von bis zu zwölf Monaten. Staatsanwalt Sofian Saboulard legte Wert darauf zu betonen, er sei nicht der bewaffnete Arm der Andra. Im „Widerstandshaus“ des Vereins „Bure Zone Libre“ (BZL; dt. „Freies Gebiet Bure“) in Bure sah er das Hauptquartier der kriminellen Vereinigung. Das Haus gehört dem Verein und wurde mit dem Ziel, die Öffentlichkeit über Alternativen zur Atomkraft zu informieren und Argumente gegen die tiefe Einlagerung von Atommüll zu verbreiten, gegründet. (8) Es gibt dort Seminare und Workshops. Die Arbeit erfolgt auf ehrenamtlicher Basis. Eine Person erhält Aufwandsentschädigung als „Permanent.e“, als Hausmeister*in und Ansprechperson vor Ort. Sie wechselt jedes Jahr. Einige der Angeklagten sind früher als „Permanent.es“ tätig gewesen.
Die Verteidigung ging in ihren Plädoyers auf die überzogene Repression und Überwachung ein. Die umfangreiche Akte habe die Andra als Zivilpartei erhalten – auch wenn sie inzwischen nicht mehr Zivilpartei sei –, und sie wisse somit sehr viel über ihre Gegner*innen, um diese zu bekämpfen. Das dürfte kein Zufall sein, so der Anwalt. Aktuell befinde sich das Endlagerprojekt im Planfeststellungsverfahren.
Höhepunkt der Plädoyers der Verteidigung bildete der Vortrag von Rechtsanwalt Ambroselli. „Ich stehe heute in Robe vor diesem Gericht, obwohl ich drei Jahre lang damit rechnen musste, mit meinen Freund*innen auf der Anklagebank mitverurteilt zu werden. […] Das alles, die Durchsuchung meiner Küchenschränke, unter meinem Bett, in der Kunstsammlung meiner Malerin-Mutter, diese Nacht im Gewahrsam … Alles umsonst? Keine Entschuldigung, nichts! […] Der Unterschied zwischen mir und meinen Kamerad*innen ist die Klassenjustiz. Denn es ist schwieriger, einen Anwalt zu belangen, als eine so genannte autonome Anarcho-Bande. […] Wir werden weitermachen, ob Sie uns einsperren oder nicht. Das wird nichts daran ändern, und das ermöglicht uns sogar aufzuzeigen, mit welchen antidemokratischen Mitteln der Atomstaat die Justiz missbraucht, um dieses Riesen-Verfahren zu rechtfertigen.“

Gefängnisstrafen für die Organisation einer Demonstration

Das Urteil wurde am 21. September 2021 verkündet – in Abwesenheit der Angeklagten, die sich vor dem Gebäude des Berufungsgerichtes in Nancy trafen, um zu signalisieren, dass sie das Urteil nicht akzeptieren würden. Die sieben Angeklagten wurden vom Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung freigesprochen. Sie wurden aber wegen der Demonstration vom 15. August 2017 und anderen Delikten wie des Besitzes von Sprengstoff zu Gefängnisstrafen verurteilt. Nämlich zu einmal zwölf Monaten Gefängnis ohne Bewährung, einmal neun Monaten ohne Bewährung, dreimal neun Monaten auf Bewährung und einmal sechs Monaten auf Bewährung. Eine Person wurde freigesprochen.

„Die dreijährigen Ermittlungen haben es der Staatsanwaltschaft und dem Ermittlungsrichter des Gerichts von Bar-le-Duc ermöglicht, die rechtlichen Möglichkeiten im Zusammenhang mit dem Vorwurf der kriminellen Vereinigung zur Unterdrückung der Anti-Atom-Bewegung gegen das geplante Endlager für radioaktive Abfälle in der Nähe des Dorfes Bure in Meuse (Frankreich) zu nutzen. Heute hat das Strafgericht von Bar-le-Duc die Angeklagten vom Vorwurf der bandenmäßigen kriminellen Vereinigung freigesprochen. Diese Anklage lieferte den Grund für die Abhöraktionen, Überwachungsmaßnahmen, Hausdurchsuchungen und Aufenthaltsverbote für die Departements Meuse und Haute-Marne“, erklärte die Verteidigung in einer Presserklärung. „Einige der Angeklagten wurden vor allem wegen politischer Straftaten verurteilt: Organisation einer nicht bei der zuständigen Versammlungsbehörde (Präfektur) angemeldeten Demonstration am 15. August 2017 und Teilnahme an einer aufgelösten Versammlung. Die Höchststrafe für diese Straftaten liegt bei einem Jahr bzw. sechs Monaten Gefängnis. Das Gesetz verbietet es Staatsanwält*innen und Ermittlungs-richter*innen, Abhörmaßnahmen für die Untersuchung dieser Delikte zu veranlassen. Genau das ist jedoch geschehen unter dem Vorwand, es werde wegen des Vorwurfs der kriminellen Vereinigung ermittelt, aber diese Vereinigung existierte nur in den Köpfen des Staatsanwalts und des Ermittlungsrichters.“ (9)
Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Angeklagten haben Berufung eingelegt. Die Geschichte geht also weiter – vor dem Berufungsgericht. Der Protest auf der Straße gegen das Atomklo geht auch weiter. Das Planfeststellungsverfahren ist in vollem Gange.