wir sind nicht allein

Anarchistische Inspirationen vom Archipel

Libertäre Traditionen, Öko-Anarchismus und Punk auf den Philippinen

| Andreas Gautsch

Foto: Feral Crust

Auf dem südostasiatischen Archipel namens Philippinen gibt es seit vielen Jahren eine aktive Punk- und Anarch@bewegung. Ein Teil davon ist das „Feral Crust“-Kollektiv, das vor gut einem Jahr auf der südlichen Insel Mindanao ein öko-solidarisches Landprojekt aufzubauen begann. Wie Punk auf die Inseln kam und der Anarchismus bereits dort war, wird in diesem Artikel ebenso geschildert wie die aktuellen Schwierigkeiten und Aktivitäten der anarchistischen Gruppen vor Ort.

Im Dezember 2020 tauchte in den sozialen Netzwerken ein internationaler Solidaritäts- und Spendenaufruf des öko-anarchistischen Kollektivs Feral Crust, das in der philippinischen Metropole Davao aktiv ist, auf. Ihr Ziel ist es, in den Wäldern von Marilog, einige Kilometer nördlich der Stadt, auf einem halben Hektar Land ein Land- und Community-Projekt aufzubauen. Im Kampagnenvideo vom August 2020, das auf radical-guide.com veröffentlicht wurde, erzählt Mhel von ihren weiteren Vorhaben. (1) Angestrebt werden die Schaffung eines stabilen Ökosystems durch Permakultur und die Regeneration von Wildtieren und der Natur. Mit Freund:innen, die ebenfalls in der Gegend leben, wollen sie nachhaltige Landwirtschaft betreiben und ihr Wissen weitergeben.
Da die meisten der Aktivist:innen aus der Stadt kommen, gilt es jedoch zunächst, naturbezogene Fertigkeiten zu erlernen und im subsistenzwirtschaftlichen Leben Erfahrungen zu sammeln. Dafür unabdingbar sind die Zusammenarbeit und der Austausch mit der lokalen und indigenen Bevölkerung. Vieles davon konnte im vergangenen Jahr bereits begonnen werden. Eine erste Hütte wurde gebaut, eine größere ist in Planung, es wurde angepflanzt, geerntet, neue Verbindungen wurden geknüpft, neue (alte) Techniken erlernt und Lebensmittel verteilt.
Ende Dezember 2021 wurde ein neuerlicher Aufruf gestartet. Dieses Mal sind es die verheerenden Verwüstungen, die der Supertaifun Odette (Rai) verursacht hat und die schnelles solidarisches Handeln erfordern. Er richtet sich an die Punk-Community und Freund:innen mit der Bitte um Spenden von Lebensmitteln, Kleidung und medizinischer Versorgung, damit die „Food not Bombs“-Gruppen (FNB) (2) vor Ort ihre Unterstützung und Versorgung der betroffenen Menschen aufnehmen können.

Foto: Feral Crust
Anarchy in the Philippines

Im Buch „Anarchismus Weltweit“ von Sebastian Kalicha und Gabriel Kuhn aus dem Jahr 2010 befindet sich ein Gespräch mit den beiden Anarchisten Jong Pairez und Bas Umali von den Philippinen. In diesem erzählen die beiden, dass sich der Anarchismus aus der Punk-Bewegung der 1980er-Jahre auf dem Archipel entwickelte. Die als „Balikbayan“ bezeichneten Rückkehrer:innen aus Europa und den USA brachten damals diese Musik und Jugendkultur ins Land, die zum Ausdruck der Rebellion gegen die konservative Gesellschaft und die autoritäre Politik wurden. Neben den staatlich kontrollierten Medien agierten kleine und unabhängige Radiostationen; diese nahmen die Punk-Musik ins Repertoire zum Pinoy rock (oder Filipino rock) auf und entwickelten sich zum Vehikel der Gegenkultur. Den ersten Höhepunkt erreichte die Punk-Bewegung während der Militärdiktatur von General Ferdinand Marcos, und nach deren Ende 1986 wurde nach anderen politisch radikaleren Ansätzen gesucht. „Jugendliche entdeckten in Zusammenhang mit Punk DIY-Prinzipien und anarchistische Ideen. Leider gingen viele dieser Momente durch die Kommerzialisierung des Punk wieder verloren. Im philippinischen Fernsehen gibt es heute Punkrock-Wettbewerbe, die von Softdrink-Multis wie Pepsi gesponsert werden.“ (3) Auch Mhel erzählt in dem Video, dass viele ihres Kollektivs aus der Punk-Szene der Städte Manila und Davao kommen und dort in Infoläden oder FNB-Gruppen aktiv waren.

Von den alten Barangays und neuen Strukturen

Es gibt aber auch noch andere, tiefer liegende Verbindungen zum Anarchismus. Bas Umali, der sich mit der kolonialen und antikolonialen Geschichte des Archipels beschäftigt, stellt in diesem Gespräch fest, dass es Verbindungen zwischen der anarchistischen Idee und traditionellen Organisationsformen der philippinischen Gesellschaft gibt. „Meiner Meinung nach ist der Anarchismus schon seit jeher in den Philippinen präsent. Indigene Gesellschaften von den Küstengebieten bis zum Hochland beruhten auf autonomen und dezentralen Strukturen, die ein hohes Maß an kultureller Vielfalt zuließen.“ (4)

Neben den staatlichen und internationalen Hilfslieferungen versuchen auch Basisinitiativen, vor Ort zu unterstützen. Anfang Januar 2022 wurden vom Kollektiv Feral Crust erste Bilder ihres Lebensmittel-Hilfstransportes für die Provinz Southern Leyte in den sozialen Netzwerken veröffentlicht. Sie zeigen die Praxis der gegenseitigen Hilfe.

Diese unabhängigen Dorfstrukturen werden als Barangay bezeichnet und waren vor der Kolonialisierung durch die Spanier:innen, die im 16. Jahrhundert begann, auf dem Archipel weit verbreitet. Einer Auffassung, dass diese autonomen und voneinander abhängigen Barangays den Organisationsmustern der Kolonialmacht unterlegen waren, entgegnet Bas, dass dies nur stimme, „wenn man die Überlegenheit an der Eroberung misst. Die kolonialen Muster sind darauf ausgelegt zu kolonisieren, während die primitiven Strukturen durch Kooperation gekennzeichnet sind, sich durch Vielfalt und das Fehlen von Privateigentum auszeichnen.“ (5) Mit dem Verweis auf traditionelle Formen propagiert Bas die Gründung dezentraler, föderativer und autonomer Strukturen auf allen gesellschaftlichen Ebenen, denn das „System der repräsentativen Demokratie ist nicht darauf ausgelegt, dass sich die Menschen an der Macht beteiligen, und deshalb muss es durch eine direkte Demokratie ersetzt werden.“ (6) Die aktuelle politische und soziale Realität sieht jedoch anders aus. Ein autoritärer Staatspräsident bekämpft weite Teile der Bevölkerung, Ungleichheit und Korruption gedeihen, jedoch allgemeiner Zuspruch und große Beliebtheit sind ihm trotz allem sicher. (7)

Dutertes Krieg gegen die Bevölkerung

Seit 2016 ist Präsident Rodrigo Duterte von der Demokratischen Partei der Philippinen, die dem linken Lager zuzurechnen ist, an der Macht und wird es bis zu den nächsten Wahlen im Mai 2022 bleiben. Im Westen ist der Präsident vor allem durch seinen äußerst brutal geführten Anti-Drogen-Krieg, der bereits 30.000 Menschen, hauptsächlich Kleindealer:innen, Drogenkonsument:innen und Unbeteiligte, das Leben kostete, bekannt. (8) Krieg geführt wird auch gegen die freie Presse und unabhängige Fernsehsender und – im Kampf gegen das Coronavirus – gegen die Bevölkerung. Duterte verordnete 2020 einen der „härtesten Lockdowns der Welt“, (9) der von März bis Ende Mai dauerte, und in einer seiner berüchtigten Fernsehansprachen forderte er die Sicherheitskräfte auf, Menschen, die gegen die Quarantäne-Maßnahmen verstoßen, zu erschießen. Dies in einem Land, in dem tausende Menschen in informellen Siedlungen leben, kaum Zugang zur Gesundheitsversorgung haben, da 65 % der Krankenhäuser privatisiert sind und es auf 33.000 Einwohner:innen nur eine Ärztin bzw. einen Arzt gibt. Die Pandemie führt auch in diesem Land zu einer Verschärfung der sozialen Ungleichheit und trifft vor allem Kinder, Frauen, Indigene und bereits von Armut betroffene Menschen.

Feral Crust und das weltweite Netz

Auch das Kollektiv Feral Crust nennt die restriktiven und autoritären Coronabestimmungen als Grund, warum sie nicht mehr in der Stadt Davao leben können. Mitte August schrieb Mhel in einer E-Mail: „Es ist an der Zeit, wieder auf das Land zurückzukehren, sich mit den Genoss:innen zu organisieren und grundlegende Lebensfertigkeiten und Lektionen von der Natur zu lernen.“

Foto: Feral Crust

Anlass waren die Einführung strenger Abriegelungsmaßnahmen (ECQ – Enhanced Community Quarantine), um die Bewegung der Bevölkerung zu kontrollieren. Da für eine Erweiterung des ökoanarchistischen Projekts Baumaterialien und Werkzeuge fehlten und die finanziellen Mittel knapp waren, wurde ein erneuter Spendenaufruf veröffentlicht. Der Taifun Odette hat die Situation nun nochmals verschärft.
Selbst Präsident Duterte verkündete nach der Katastrophe zunächst, dass die Staatskassen wegen der Pandemiebekämpfung leer seien, und rief den Notstand aus. Neben den staatlichen und internationalen Hilfslieferungen versuchen auch Basisinitiativen, vor Ort zu unterstützen. Anfang Januar 2022 wurden vom Kollektiv Feral Crust erste Bilder ihres Lebensmittel-Hilfstransportes für die Provinz Southern Leyte in den sozialen Netzwerken veröffentlicht. Sie zeigen die Praxis der gegenseitigen Hilfe. Das weltweite Netz hat viele Knoten, und wer das „Feral Crust“-Kollektiv finanziell unterstützen möchte, findet die Daten auf ihrer Homepage (feralcrustproject.wordpress.com/donate). Im eingangs erwähnten Video spricht Mhel über die Inspiration, die er von den Zapatistas, den Kurd:innen in Rojava und den anarchistischen Bewegungen in Europa erhielt. Es scheint, als geben die Anarchist:innen auf dem Archipel namens Philippinen die Inspiration weiter.

(1) https://www.radical-guide.com/feral-crust-land-project-update/
(2) Food not Bombs (FNB) ist eine internationale Bewegung, die Lebensmittel sammelt, um (meist vegetarisches oder veganes) Essen zu verteilen; zur Geschichte von FNB vgl. Keith McHenry „Food not Bombs. Eine Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA“, GWR 462 (Okt. 2021)
(3) Sebastian Kalicha und Gabriel Kuhn: Von Jakarta bis Johannesburg. Anarchismus weltweit. Münster: Unrast Verlag, 2010, S. 251
(4) ebd. S. 249
(5) Bas Umali: Pangayaw and Decolonizing Resistance. In: Pangayaw and Decolonizing Resistance: Anarchism in the Philippines, Edited by Gabriel Kuhn, PM Press, 2020, S. 54 (Übersetzung Gautsch)
(6) vgl. ebd. S. 58 (Übersetzung Gautsch)
(7) https://www.reuters.com/world/asia-pacific/satisfaction-with-philippines-duterte-fell-21-pct-nov-june-despite-strong-2021-09-24/
(8) Maria Stöhr: „‚Wenn ihr irgendwelche Abhängigen kennt, tötet sie‘ – wer und was folgt auf Duterte?“, in: https://www.spiegel.de/ausland/philippinen-rodrigo-duterte-tritt-ab-wer-und-was-folgt-auf-ihn-a-f262d303-4b15-4bd1-912b-322355ae3a37
(9) vgl. Anne Krahnstöver und Mirjam Overhoff: Macht und soziale Ungleichheit?! Der Umgang mit der Corona-Pandemie in den Philippinen, https://www.asienhaus.de/uploads/tx_news/SAH_Blickwechsel_20-11_Philippinen-Corona_Final_01.pdf

Infos und Kontakt zum „Feral Crust“-Kollektiv:
https://www.facebook.com/
feralcrustinfoshop
feralcrustproject.wordpress.com/
https://www.radical-guide.com/feral-crust-land-project-update/

 

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.