fluchtwege

Riace – ein ganz besonderes Dorf in Kalabrien

Wie mit Mitteln der Justiz versucht wird, Solidarität zu verhindern

| Elisabeth Voß

In der letzten Ausgabe der Graswurzelrevolution hat Elisabeth Voß „Das Dorf des Willkommens“ von „Mimmo“ Lucano, dem ehemaligen Bürgermeister des süditalienischen Ortes Riace, rezensiert. In ihrem jetzigen Beitrag für die GWR beschreibt sie die jahrelange solidarische Praxis und die vielfältige Unterstützung für Geflüchtete in Riace sowie die staatliche Repression dagegen. (GWR-Red.)

Das kalabrische Bergdorf Riace wurde weltweit bekannt für seine Willkommenskultur. Wie viele Orte der ländlichen Region litt es schon lange unter Abwanderung. Als 1998 ein Segelschiff mit fast 200 kurdischen Geflüchteten dort ankam, kümmerten sich die Einheimischen, allen voran der Lehrer Domenico Lucano, um die Schutzsuchenden und organisierten Wohnraum in den verlassenen Häusern. Schon im Jahr zuvor hatte das benachbarte Dorf Badolato Hunderte Geflüchtete aufgenommen. Auch dort hatte die Bevölkerung mit großer Hilfsbereitschaft reagiert. Domenico Lucano unterstützte den damaligen Bürgermeister von Badolato, Gerardo Mannello, bei der Aufnahme. Solidarische Hilfe kam auch von der Europäischen Kooperative Longo maï, die sich ebenfalls in Riace engagiert.
In Badolato wurden Projekte gegründet – ein kurdisches Restaurant, eine Tischlerei, eine Keramikwerkstatt und ein Dritte-Welt-Laden –, in denen Einheimische und Geflüchtete bezahlte Arbeit fanden. So entstand kein Neid, das war wichtig. Als Gerardo Manello 2002 nicht mehr wiedergewählt wurde, gingen auch die Projekte in Badolato ein. Die Erfahrungen von dort waren hilfreich für Domenico Lucano, genannt Mimmo, der nun auch in Riace solche Projekte aufbaute. 2004 wurde er zum Bürgermeister von Riace gewählt.

Ein aussterbendes Bergdorf wird neu belebt

Die Kurd*innen zogen irgendwann weiter, aber es kamen immer wieder neue Geflüchtete in das kleine Dorf. Es gab Fördermittel für die Aufnahme, mit denen, neben Arbeitsplätzen in der Beratung und Begleitung der Schutzsuchenden, auch Arbeitsplätze in Werkstätten für altes kalabrisches Handwerk wie Weberei, Töpferei und Stickerei, Glas- und Holzverarbeitung geschaffen wurden. Verkauft wurden die Produkte in kleinen Läden im Zentrum des Bergdorfs, dem „Villaggio Globale“ (dt. „Globales Dorf“). Zeitweilig gab es auch ein Restaurant und eine eigene Olivenölproduktion.
Viele Zugereiste hatten Kinder, so konnten Kita und Schule in Riace wieder öffnen, und viele der meist älteren Einheimischen freuten sich, dass mit den neuen Nachbar*innen Leben ins Dorf kam. Wim Wenders drehte 2010 den halbstündigen Film „Il Volo“ (Der Flug) über Riace. Bei einer Veranstaltung zum 20. Jahrestag des Mauerfalls sagte er, nicht dieser sei eine „wahre Utopie“, sondern das, was in Riace geschehe.
2016 war ich zum ersten Mal in Riace, auf einer Bildungsreise der „Rosa Luxemburg Stiftung“ in Kooperation mit dem Verein „Courage gegen Fremdenhass“, und fuhr im Frühjahr und im Herbst 2019 noch mal dorthin. Riace Marina – der Ortsteil unten am Meer – hat einen weitläufigen Sandstrand mit türkisblauem Meer. Etwa sieben Kilometer entfernt in den Bergen liegt Riace Superiore. Mich interessierte, wie es gelingen kann, Schutzsuchenden ein neues Zuhause zu ermöglichen und gleichzeitig aussterbende Regionen wiederzubeleben. Die Frage stellt sich ja auch hierzulande immer wieder.

Foto: Elisabeth Voß

Aber wollen Geflüchtete überhaupt aufs Land? Gerardo Manello, der von 2016 bis 2021 wieder Bürgermeister von Badolato war, erzählte gerne, die Schutzsuchenden hätten zweimal geweint, einmal bei der Ankunft voller Entsetzen, in welch abgelegener Gegend sie gelandet seien, und dann bei der Abreise, wenn sie den Ort, an dem sie heimisch geworden waren, wieder verlassen mussten. Das ist meines Erachtens ein entscheidender Punkt, dass diejenigen, die es trotz Festung Europa hierher geschafft haben, nicht frei entscheiden dürfen, wo sie leben möchten, sondern zugewiesen werden und auch keine Bleibeperspektive bekommen. Das ist in Deutschland ebenso.

Klare Signale gegen Rassismus und Mafia

In Riace war die Willkommenskultur überall deutlich sichtbar: Wandbilder erzählten von Flucht und Migration, ergänzt durch Kunstwerke wie beispielsweise La Speranza am Eingang des Bergdorfs, die Figur einer Schwarzen Frau mit hoffnungsvoll erhobenem Arm und Blick in die Ferne (mittlerweile durch Witterungseinflüsse zerstört), ein Segelschiff im Villaggio Globale und überall kleine Schiffe mit den Namen der Herkunftsländer der Zugereisten. Die Nationalfahnen dieser Länder umgaben auf Ortsschildern einen regenbogenfarbenen Kreis mit dem Schriftzug „Riace“. Mich irritierten anfangs nicht nur die Nationalfahnen, sondern ebenso die vielen öffentlichen Willkommensbekundungen, die mir zuerst etwas dick aufgetragen erschienen.
Nach und nach verstand ich, dass das nicht der Selbstdarstellung diente, sondern dass es eine wichtige Botschaft war. Mit klaren Ansagen wurde eine Stimmung geschaffen und unmissverständlich klargemacht, dass Geflüchtete willkommen sind und dass Rassismus unerwünscht ist. Ein klares Signal, nicht nur aus der Bevölkerung, sondern auch vom Bürgermeister. Denn nicht alle in Riace waren einverstanden damit, dass so viele Migrant
*innen kamen. Es gab keinen offenen Hass und keine Pogrome, aber schon auch verletzendes Verhalten, wie mir Geflüchtete berichteten. Auch die Ablehnung der Mafia wurde vielfältig öffentlich bekundet, zum Beispiel mit dem Antimafiasymbol der offenen Hand. Die Willkommens
projekte zahlten keine Schutzgelder an die ’Ndrangheta, die als eine der mächtigsten Mafia-Organisationen der Welt gilt. Mimmos Hunde wurden vergiftet, und Schüsse durchschlugen die Glastür des Restaurants im Villaggio Globale.
Die Regionalregierung schickte immer mehr Geflüchtete nach Riace, denn der Bürgermeister sagte nie nein. Manchmal lebten viele Hunderte von ihnen gleichzeitig im Dorf. Seit Beginn der Aufnahme sind wahrscheinlich ein paar Tausend Schutzsuchende zeitweilig in Riace gewesen, denn die meisten blieben nicht lange. Die Fördermittel für die Aufnahme brachten bescheidenen Wohlstand, aber sie wurden nur für die Dauer des Asylverfahrens gezahlt. Manchmal ließ sich das auf einen längeren Zeitraum als die ursprünglich vorgesehenen sechs Monate strecken. Aber mit der Entscheidung endete die Finanzierung. Wenn der Asylantrag abgelehnt wurde, drohte die Abschiebung, und die Betroffenen wurden in die Illegalität gezwungen. Aber auch mit der Anerkennung als Flüchtling gab es keine Sicherheit, denn es gibt keine Arbeitsplätze in der Region, Migrant*innen werden in der Landwirtschaft ausgebeutet. So blieben nur wenige auf Dauer, die meisten gingen nach Norden, in der Hoffnung, dort – in Norditalien, in der Schweiz oder in Deutschland – Arbeit zu finden, oder auch in Übersee. Ebenso wie die ausgewanderten Einheimischen.

Aufatmen und ankommen nach der Flucht

Immerhin konnten unzählige Schutzsuchende nach den Strapazen der Flucht in einem Umfeld ankommen, das sie willkommen hieß. Bei meinem letzten Besuch habe ich Mimmo interviewt, unterstützt vor Ort durch Valentina Malli von Longo maï – denn ich kann kein Italienisch. Später hat Carla Kirsten Müller-von der Heyden mit Betty Pusceddu das Interview ins Deutsche übersetzt. Mimmo betonte, wie wichtig die Arbeit in den Werkstätten gerade für die geflüchteten Frauen sei: „Denn die Menschen, die ankommen, bringen diesen Rucksack mit sich, voller Leid und Traumata. Es sind Menschen, die auf der Flucht vor Kriegen und Opfer von Folter sind, Frauen, die auf der Straße sind … Und so waren die Werkstätten auch eine Möglichkeit, diesen menschlichen Kontakt herzustellen, um das Vertrauen in andere Menschen wiederzugewinnen.“ Die Werkstätten hätten „eine sehr rehabilitative Funktion für die Menschen und deren soziale Integration“ gehabt. Außerdem konnten sie von ihrem Verdienst Angehörige unterstützen und ihnen Geld überweisen, so wie es umgekehrt auch die ausgewanderten Riacesi getan hätten.

Mit klaren Ansagen wurde eine Stimmung geschaffen und unmissverständlich klargemacht, dass Geflüchtete willkommen sind und dass Rassismus unerwünscht ist.

Es ist jedoch nicht gelungen, eine nachhaltig tragfähige solidarische Ökonomie in Riace aufzubauen – was ja angesichts von Abwanderung und Mafia ohnehin schon sehr herausfordernd ist. Hinzu kamen behördliche Schikanen, die mit einem Wechsel in der Regionalregierung 2016 begannen. Die Finanzpolizei überwachte den Bürgermeister, zeichnete alle seine Telefonate auf, als sei er ein Schwerverbrecher. Im Juni 2018 wurde Matteo Salvini von der rechten Partei Lega Innenminister, im Oktober 2018 wurde Domenico Lucano verhaftet, seines Postens als Bürgermeister enthoben und dann aus Riace verbannt, durfte also sein Dorf nicht mehr betreten. Die Willkommensprojekte wurden geschlossen – Fördergelder waren schon länger nicht mehr bezahlt worden –, und die meisten Geflüchteten mussten Riace verlassen. Domenico Lucano wurde Beihilfe zur illegalen Einwanderung und die Förderung von Scheinehen vorgeworfen, die nicht ordnungsgemäße Verwendung der Fördermittel für die Geflüchteten, und dass er die Müllabfuhr des Bergdorfs an zwei kleine Genossenschaften vergeben hatte, die mit Eseln arbeiteten, statt sie auszuschreiben.

Zwischen Hoffnung und Repression

Obwohl die Vorwürfe – bis auf die Scheinehen – im Frühjahr 2019 vom Kassationsgericht zurückgewiesen wurden, fand das Gerichtsverfahren vor dem kalabrischen Regionalgericht in Locri im Juni 2019 unter Hochsicherheitsbedingungen statt, als wäre es ein Mafia-Prozess. Mimmo Lucano bekannte sich dazu, eine nigerianische Zwangsprostituierte bei der Eheschließung unterstützt zu haben. Dies war seine Konsequenz aus dem Tod der 26-jährigen Nigerianerin Becky Moses, die in Riace gelebt hatte und nach der Ablehnung ihres Asylantrags am 26. Januar 2018 nachts in einem Zelt im Lager San Ferdinando (bei Rosarno) verbrannte.
Einen Tag nachdem Salvini nicht mehr Innenminister war, am 5. September 2019, wurde die Verbannung aufgehoben, und Mimmo durfte zurück nach Riace. Sogleich brachte er die solidarökonomischen Projekte wieder ins Laufen. Einige Geflüchtete waren geblieben, die Werkstätten und Läden öffneten langsam wieder. Die Ölmühle, die jahrelang aufgrund strenger gewordener Vorschriften nicht mehr genutzt werden konnte, wurde mit der finanziellen Unterstützung einer Stiftung hergerichtet und ging endlich wieder in Betrieb. Wenigstens in der Saison gab es bezahlte Arbeit für Einheimische und Zugereiste. Bei meinem Besuch im Oktober 2019 war gerade Olivenernte, und ich konnte etwas von dem wohlschmeckenden Olivenöl mit nach Hause nehmen.

Foto: Elisabeth Voß

Die Gerichtsprozesse gingen weiter, neben Mimmo waren 26 weitere Riacesi angeklagt. Am 30. September 2021 wurde Domenico Lucano in Locri zu 13 Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt – die Staatsanwaltschaft hatte sieben Jahre und elf Monate gefordert. Auch andere bekamen teils langjährige Haftstrafen. Diese offensichtlich politischen Urteile werden hoffentlich im Berufungsverfahren kassiert werden, aber das kann sich lange hinziehen. Bis dahin müssen die Haftstrafen wohl nicht angetreten werden, aber die Bedingungen, um weiterhin in Riace solidarische Perspektiven aufzubauen, sind dadurch deutlich erschwert.
Im Interview 2019 hatte Mimmo die Hoffnung geäußert, Riace könne sich von Zuwendungen unabhängig machen: „Ich glaube, dass ein solidarischer Tourismus das Wichtigste dabei sein kann, ein Motor. Denn wir haben hier ein günstiges Klima, das von April bis November anhält. Wir haben bereits Ende Oktober, und die Leute gehen an den Strand. Dann ist dieser Landstrich hier schön, sogar die Landschaft des Dorfes, auch mit gesunder Luft, und auch das Essen ist naturbelassen.“ Es wäre schön, wenn das trotz allem Wirklichkeit werden könnte!

Mehr Infos:

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.