Do No Harm – Richte keinen Schaden an

Jenseits von Waffenlieferungen und Sanktionen

| Daniel Korth

Wie ließe sich eine Außen- und Handelspolitik gegenüber autoritären Regimen gestalten, bei der Frieden, Demokratie und Menschenrechte Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen hätten? Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine stellt Daniel Korth das Konzept „Do No Harm“ vor. (GWR-Red.)

„Do No Harm“ (Richte keinen Schaden an) ist ein Konzept aus der Entwicklungszusammenarbeit. Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe finden oft im Kontext von gewaltsamen Konflikten statt. In solchen Situationen stellt sich die Frage, wie Hilfe geleistet werden kann, so dass sie nicht zum Krieg, sondern zum Frieden beiträgt. Lieferungen von Lebensmitteln oder Medikamenten können z. B. gestohlen und auf dem Schwarzmarkt verkauft werden, um für den Erlös neue Waffen zu kaufen. Die Hilfe für eine unterdrückte und benachteiligte Minderheit kann den Hass der Mehrheit auf diese Minderheit schüren. So bewarfen die serbischen Einwohner:innen der Republik Srpska jeden Konvoi mit Steinen, der nach dem Bürger:innenkrieg in Bosnien und Herzegowina Hilfsgüter durch ihr Gebiet in die bosnische Stadt Goražde lieferte, obwohl sie selbst keine Hilfe brauchten.

Connectoren and Divider

Um solche unbeabsichtigten Wirkungen zu analysieren und zu vermeiden, unterscheidet Do No Harm zwischen „Connectoren“ (Verbindern) und „Dividern“ (Trennern) in einer Gesellschaft. Die Idee ist, dass es in jeder Gesellschaft und zu jeder Zeit Dinge gibt, die Menschen verbinden, und Dinge, die sie trennen. Erstere sind „Capacities for Peace“ (Potenziale für Frieden), letztere „Capacities for War“ (Potenziale für Krieg).
Capacities for Peace existieren selbst in der heißen Phase eines Krieges. Hierzu zwei Beispiele: Während des Krieges in Bosnien und Herzegowina gab es auf beiden Seiten Lastwagenfahrer:innen, die 
die gefährliche Aufgabe hatten, Güter durch das Kriegsgebiet zu ihren Gemeinschaften zu transportieren. Zwischen den Fahrer:innen der gegnerischen Seiten entwickelte sich eine gewisse Solidarität. Sie tauschten über Funk Informationen aus, welche Straße sicher sei, wo gekämpft wurde etc. Obwohl sie zu verschiedenen Gruppen im Bürger:innenkrieg gehörten, schufen die gemeinsame Erfahrung und die Hilfe, die sie einander gaben, eine Verbindung zwischen ihnen.
Während des Bürger:innenkrieges im Libanon waren in Beirut alle Schulen geschlossen, und die Familien verbrachten Stunden in Kellern und Notunterkünften, um sich vor den Bomben zu schützen. Um etwas gegen die monatelange Unterbrechung der Schulbildung und den psychologischen Stress der Kinder in dieser Lage zu unternehmen, erstellte das Kinderhilfswerk UNICEF unter dem Titel „SAWA“ (arabisch für „zusammen“) ein Lehrheft mit Kurzgeschichten sowie Aufgaben aus Mathematik, Geographie und Geschichte. In diesem Heft waren einige Seiten leer, und die Kinder wurden aufgefordert, eine Geschichte oder ein Gedicht zu schreiben oder ein Bild zu malen, um es mit anderen Kindern zu teilen. Diese Geschichten oder Bilder wurden in spätere Hefte integriert und erreichten so Kinder und Familien auf allen Seiten des Bürger:innenkriegs. Darauf aufbauend organisierte UNICEF gemeinsame Sommercamps, zu denen Eltern aus allen Bürgerkriegslagern ihre Kinder schickten. Der Connector war in diesem Fall das gemeinsame Interesse der Eltern am Wohlergehen ihrer Kinder. Die Hilfe wurde so gestaltet, dass sie zu einem Austausch über die Feindesgrenzen hinweg beitrug.
Ebenso gibt es zu jeder Zeit Dinge, die Menschen trennen oder spalten. Diese sind die Capacities for War. Aus ihnen können Spannungen, Konflikte und Gewalt entstehen, oder sie können diese verschärfen.

Arten von Connectoren und Dividern

Gemeinsame oder unterschiedliche Werte, Interessen, Symbole oder Erfahrungen können als Connector oder Divider in einer Gesellschaft wirken. Ebenso können Institutionen oder Rechtssysteme in einem Land die Bevölkerung spalten, indem sie eine Gruppe bevorzugen bzw. eine andere benachteiligen. Sie können jedoch auch eine Chance für Frieden bieten. Dies gilt z. B. für lokale Märkte, auf denen Menschen aus unterschiedlichen Konfliktparteien zusammenkommen und miteinander handeln.
Auch in zwischenstaatlichen Konflikten gibt es solche Institutionen. Zum Beispiel setzten Indien und Pakistan trotz und während dreier Kriege ihre Zusammenarbeit bei der Regulierung eines Grenzflusses zwischen beiden Ländern fort, weil sich diese Aufgabe nur gemeinsam lösen lässt. Auch die Haltungen und Aktionen einzelner Menschen, die jenseits des Freund-Feind-Denkens handeln, sind ein Potenzial für Frieden, wenn sie z. B. Verwundete der anderen Seite pflegen, verwaiste Kinder der Gegenseite aufnehmen oder ganz banal ihre Kontakte über die Grenzen hinweg aufrechterhalten, wenn sie also normal, d. h. menschlich handeln.

Anpassen eines Projekts

Bei einer „Do No Harm“-Analyse werden im ersten Schritt Connector und Divider identifiziert. Im zweiten Schritt werden die Projekte so konzipiert oder angepasst, dass sie die Connectoren stärken und die Divider schwächen. In der Regel entscheiden geringfügige Änderungen über die Wirkung eines Projekts.
Im Fall der Hilfsgüter, die durch serbisches Gebiet in die bosnische Stadt Goražde transportiert werden sollten (s. o.), vereinbarte die verantwortliche Nichtregierungsorganisation z. B. mit den Bewohner:innen der serbischen Dörfer, den Teil der Hilfsgüter, die diese selbst herstellen konnten, von ihnen zu kaufen. Als die Konvois begannen, lokale Güter zu transportieren, hörte nicht nur der Widerstand auf, sondern der Handel zwischen den vom Krieg getrennten Gruppen kam wieder in Gang.
Im Südsudan war eine europäische Organisation dabei, ein neues Programm zur Ausbildung im Gesundheitswesen zu starten, als die südsudanesische Bewegung sich in zwei Lager spaltete. Daraufhin teilte die Hilfsorganisation das Projekt und richtete je ein Ausbildungszentrum auf dem Gebiet der gegnerischen Gruppen ein. In gewisser Weise wurde hierdurch die Spaltung belohnt. Statt eines Ausbildungszentrums wurden zwei gebaut. Je eines für die streitenden Gruppen.
Später wurde das Projekt neu gestaltet. Da das Gesundheitswesen ein Bereich war, in dem internationale Organisationen grenzüberschreitend tätig sein konnten, konzentrierte sich das eine Zentrum auf die Ausbildung von Krankenpfleger:innen im öffentlichen Gesundheitswesen, das andere auf die Ausbildung von Rettungssanitäter:innen in ländlichen Gebieten. Die Mitar-beiter:innen bzw. Auszubildenden wurden aus beiden Gruppen angeworben. Die Zentren wurden so ein Ort, an dem Menschen von beiden Seiten sich treffen und zusammenarbeiten konnten.

Jenseits von Waffenlieferungen und Sanktionen

Welche Relevanz hat Do No Harm nun vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine?
Zum einen hilft die Erkenntnis, dass es auch mitten in diesem Krieg Potenziale für Frieden gibt, der medialen Übermacht des Krieges zu widerstehen. Angesichts des menschlichen Leides in der Ukraine und eines Diskurses, der von denjenigen dominiert wird, denen als einzige Antwort auf die russische Aggression Aufrüstung, Waffenlieferungen und härtere Sanktionen einfallen und für die Kriegsgräuel und Kriegsverbrechen der Beweis sind, dass Verhandlungen, Deeskalation oder Konflikttransformation und erst recht gewaltfreier Widerstand von vorneherein zum Scheitern verurteilt sind, tut es gut, sich klarzumachen, dass es sowohl zwischen Russland und der Ukraine als auch zwischen Russland und den NATO-Staaten Capacities for Peace gibt. Zurzeit sind diese Potenziale für Frieden sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in der Realität verschüttet. Sie bilden jedoch das Fundament, auf dem Frieden wachsen kann.

Der Umgang mit autoritären Staaten

Zum anderen gibt Do No Harm eine Antwort auf die Frage, wie sich eine Gesellschaft, der Frieden, Menschenrechte und Demokratie wichtiger sind als der eigene Wohlstand, gegenüber autoritären Regimen verhalten soll, die Krieg führen, Menschenrechte verletzen und ihre Bevölkerung unterdrücken.
Natürlich kann man zweifeln, ob Deutschland oder die anderen westlichen Staaten solche Gesellschaften sind. Letztendlich ist uns das Hemd stets näher als die Jacke. So standen im deutschen Verhältnis zu Russland in den letzten Jahren wohl kaum die Stärkung der Demokratie oder die Förderung friedlicher Beziehungen zwischen Russland und seinen Nachbarn, sondern wirtschaftliche Interessen im Vordergrund. Ein Detail, das gerne unterschlagen wird, indem man die deutsche Osteuropapolitik seit dem Ende des Kalten Krieges als zu „weich“ und „nachgiebig“ kritisiert und stattdessen „Härte“ und „Konfrontation“ fordert.
Auch nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wird das Primat der Wirtschaft in den deutschen Beziehungen zu Unrechtsregimen nicht in Frage gestellt. Um Deutschland von russischen Energieimporten unabhängig zu machen, reist Wirtschaftsminister Robert Habeck nach Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate und führt dort Gespräche über die Lieferung von Flüssiggas und „grünem“ Wasserstoff. Zwei autoritäre Regime, von denen das eine Teil einer Koalition ist, die seit März 2015 im Jemen einen Krieg gegen die vom Iran unterstützten Houthi-Rebell:innen führt, der nicht weniger brutal und schrecklich ist als der Überfall Russlands auf die Ukraine (1)
Aber auch wenn die Rede vom „Wandel durch Handel“ oft nur eine Ausrede für lukrative Geschäfte mit Unrechtsstaaten ist, so ist der Abbruch wirtschaftlicher Beziehungen gleichermaßen problematisch. Zum einen sind die Leidtragenden von Wirtschaftssanktionen nicht nur diejenigen, die ein Unrecht zu verantworten haben, sondern auch diejenigen, die keine Schuld trifft. So führen der russische Krieg gegen die Ukraine und die Sanktionspolitik des Westens zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise und verheerenden Auswirkungen in den Armutsregionen dieser Welt. Zum anderen beraubt man sich durch den Abbruch von Beziehungen zu autoritären Staaten zugleich der eigenen Einflussmöglichkeiten. Selbst wenn Wirtschaftsbeziehungen egoistischen Interessen folgen, schaffen sie doch Kontakte und Kanäle, die für diplomatische Lösungen hilfreich sein können.

Nord Stream 2

Do No Harm ist ein Mittelweg, den eine wertegeleitete Außen- und Handelspolitik beschreiten könnte, bei der nicht der eigene wirtschaftliche Vorteil, sondern die Stärkung von Demokratie, Frieden und Menschenrechten im Vordergrund stünden. Dies würde bedeuten, wirtschaftliche Projekte – ebenso wie Projekte in der Entwicklungszusammenarbeit – unter diesem Gesichtspunkt zu analysieren und entsprechend auszurichten. Mit Blick auf Nord Stream 2 hätte man sich z. B. die Frage stellen müssen: Wie lassen sich Gaslieferungen aus Russland nach Deutschland so organisieren, dass sie die Beziehung zwischen Russland und der Ukraine verbessern?

Zivilgesellschaft

Schließlich ist dieser Ansatz nicht auf Politik und Wirtschaft begrenzt, sondern kann auch von der Zivilgesellschaft angewendet werden. Wir sind nicht in der Lage, diesen Krieg zu stoppen. Unser Einfluss auf die Politik ist gering. Die Entscheidung, wie lange gekämpft wird und wann man sich zu Verhandlungen zusammensetzt, liegt in den Händen einiger hundert Politiker:innen, deren Fähigkeit im Umgang mit Konflikten bestenfalls Durchschnitt ist. Wir können aber analysieren, wie unser eigenes Handeln sich auf Connectoren und Divider in unserer Gesellschaft auswirkt, und es so ausrichten, dass erstere gestärkt und letztere geschwächt werden.

(1) Die Vereinten Nationen nennen die Lage im Jemen die „größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit“. Nach UN-Angaben wurden bisher rund 380.000 Jemenit:innen getötet. Insgesamt 17,4 Millionen Jemenit:innen leiden unter Hunger, fünf Millionen sind unmittelbar vom Hungertod bedroht, zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren sind unterernährt und 10.000 Kinder bisher dem Krieg zum Opfer gefallen (Stand März 2022).

Literatur:
Anderson, Mary B., Do No Harm: How Aid Can Support Peace – Or War. Boulder, CO: Lynne Rienner Publishers, 1999.

Website:
www.cdacollaborative.org