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Lebensmittelretter*innen vor Gericht

Containerprozess wird zum Desaster für Supermarkt und Justiz

| Salomon Hofstötter

Foto: Salomon Hofstötter

Jeden Tag werfen Supermärkte Unmengen verwendbarer Lebensmittel weg, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum abläuft, Gemüse und Obst nicht mehr ganz frisch aussehen – oder weil schlichtweg Platz für die neue Lieferung gebraucht wird. Wenn Aktivist*innen unverdorbenes Essen aus den Abfallcontainern holen, um aus ihnen leckere Mahlzeiten zuzubereiten, werden sie oft wegen „Mülldiebstahls“ kriminalisiert. Salomon Hofstötter begleitete eine absurde Gerichtsposse gegen Lebensmittelretter*innen in Lahnstein. (GWR-Red.)

Am Morgen des 14. April 2022 ist viel los im Lahnsteiner Amtsgericht. Alte und junge Menschen drängen sich am Einlass, alle wollen zum Gerichtsprozess, doch nach 14 Personen ist Schluss. Mehr Menschen passen nicht in den größten Saal des kleinen Gerichts. Grund für das große Interesse: Die Staatsanwaltschaft hat Anklage gegen zwei junge Menschen erhoben. Ihnen wird vorgeworfen, weggeworfene Lebensmittel aus einem Müllcontainer einer Globus-Filiale gestohlen und damit Hausfriedensbruch begangen zu haben. Später wird die Staatsanwältin die Aufrechterhaltung des Verfahrens mit öffentlichem Interesse begründen. Dem Prozess vorausgegangen sind lange Zeitungs-, Radio- und Fernsehinterviews der Angeklagten Julia und Nils sowie Kundgebungen vor dem Supermarkt, der den Strafantrag gestellt hatte.

„Müll gehört in die Tonne“?

In der Schlange zum Gericht steht eine Lahnsteiner Seniorin, die in der Lokalzeitung von dem Verfahren gelesen hat und vorher nicht einmal wusste, dass es in der kleinen Stadt überhaupt ein Gericht gibt. Sie bekommt jedoch keinen Platz mehr.
Doch auch vor dem Gebäude passiert allerhand. Auf der einen Seite ein Pavillon, Musik und Schilder – eine Kundgebung gegen die Kriminalisierung des Containerns. Auf der anderen Seite eine Kundgebung von drei selbsternannten Lahnsteiner Bürger*innen, die unter dem Motto „Schluss mit lustig! Müll gehört in die Tonne! Containern ist Diebstahl! – Für ein Ende der Öko-Diktatur! Keine Anarchie!“ für die Interessen des Supermarktes Globus demonstrieren. Auf ihren Schildern steht „Öko f**** haut ab“ oder „Containern ist Diebstahl“. Sie skandieren Parolen wie „Müll bleibt Müll“. Dazwischen eine unkoordinierte Ansammlung von Polizist*innen, die nicht recht zu wissen scheinen, was an diesem Tag ihre Aufgabe ist. Ein Kollege von ihnen wird später im Prozess aussagen.

Dieser Prozess ist ein Lehrstück dafür, wie durch einen offensiv geführten Gerichtsprozess Aufmerksamkeit für ein Thema geschaffen werden kann – über eine Aktion hinaus. Wann es weitergeht und wie es ausgeht, ist aktuell unklar, aber eins ist klar: Egal ob die beiden Angeklagten in einer Hauruck-Aktion noch verurteilt werden oder das Verfahren still und heimlich eingestellt wird: Gewonnen haben sie jetzt schon!

Neben Bürger*innen und linker Unterstützung ist auch das mediale Interesse groß. Neben zwei Fernsehkameras sitzen zahlreiche Journalist*innen der Lokalpresse im Gerichtssaal. Direkt zu Beginn des Prozesses beantragt die Angeklagte Julia zwei Laien-Wahlverteidigungen, also Rechtsbeistand von Menschen, die keine juristischen Staatsexamina abgelegt haben, sondern sich das nötige Wissen selbst angeeignet haben. Nils hat eine Anwältin.

Lebensmittelproduktion für die Tonne

Nach der Verlesung der Anklageschrift lassen sich beide ein. Ohne sich zu den vorgeworfenen Straftaten zu äußern, verlesen sie Erklärungen. Darin geht es um den drohenden Klimakollaps und den absurden kapitalistischen Umgang mit Lebensmitteln, wie dass etwa ein Drittel der Lebensmittel weltweit direkt für die Tonne produziert wird.
Nach den beiden Erklärungen schlägt die Richterin vor, das Verfahren einzustellen, und begründet dies mit den politischen Motiven, die daraus hervorgehen. Auf der Anklagebank ist man nur mit einer Einstellung auf Staatskosten einverstanden, was die Staatsanwältin ablehnt, also geht es weiter.

Bananen, Tomaten und Erinnerungslücken

In der Befragung des ersten Zeugen, des Einsatzleiters der Polizei, der die Angeklagten erwischt haben will, finden sich schnell Widersprüche und Unklarheiten. Anfangs beschreibt er in kurzen Sätzen das, was auch schon in der Anklageschrift verlesen wurde, doch nachdem die Befragung durch die Angeklagten und deren Verteidigung beginnt, kommt er ins Schwitzen. So gibt er an, eine Lebensmittelübergabe gesehen zu haben, als er mit seiner Streife am Supermarkt ankam. Zudem hatten die Angeklagten einen Fahrradanhänger voller Lebensmittel dabei. Der Beamte und seine Kolleg*innen beschlagnahmten kurzerhand alle Lebensmittel und durchsuchten die Angeklagten sogar noch am Körper nach weiteren. Wie er darauf käme, dass das Essen im Anhänger auch containert sei? Der Beamte rechtfertigt dies mit kriminalistischer Erfahrung. Nun ist klar: Es geht nicht mehr um einen Fahrradanhänger voller Lebensmittel, sondern um eine Handvoll, doch was es genau gewesen sein könnte, wird immer unklarer. Ließ sich der Zeuge eingangs noch auf ein Bund Bananen und ein Bund Tomaten festnageln, kann er kurz danach auch das nicht mehr sicher sagen.
Eine weitere Erinnerungslücke des Beamten ist der Zaun. Er kann sich nicht erinnern, wie dieser aussah und wie hoch dieser war – und vor allem: wie die Lebensmittel über den Zaun kamen. Wurden sie herübergegeben, durch den Zaun hindurchgereicht oder doch vielleicht geworfen? Der Beamte hält alles für möglich und kann sich auf nichts festlegen.

Foto: Salomon Hofstötter
Ein Zaun, eine Mauer und weitere Seltsamkeiten

Danach die zweite Zeugin: Eine Rentnerin, die an einem Sonntagnachmittag aus dem Fenster schaute und beobachtete, wie zwei Menschen „auf dem Dach“ der Globus-Filiale herumkletterten. Sie hatte die Polizei gerufen. Gleich zu Beginn betont sie, ein schlechtes Gedächtnis zu haben, doch woran sie sich erinnert, widerspricht der Aussage des Polizisten. Hatte dieser von einem Zaun mit Sichtschutz (durch den er die Angeklagte erkannt haben wollte) gesprochen, ist es in der Schilderung der Zeugin definitiv eine Mauer. Außerdem ist eine Person noch auf ein weiteres Dach, vielleicht das eines LKWs, geklettert. Das war „die Frau“. Woran sie die erkenne? An den langen Haaren. Beide Angeklagte haben lange Haare.
Nach beiden Aussagen ist klar: Nichts ist klar. Doch die Staatsanwältin will keine Einstellung auf Staatskosten und will, falls der Hausfriedensbruch fallengelassen wird, den Diebstahl wieder anzeigen; also einen Diebstahl von vielleicht einem Bund Bananen und vielleicht einem Bund Tomaten – aus dem Müll. Bedeutet: Es wird einen weiteren Verhandlungstag geben. Schon im Vorfeld hatte es Mahnwachen vor dem Supermarkt und eine mediale Öffentlichkeitsarbeit gegeben, auch diese gehen nun weiter bis zum zweiten Prozesstag.

Unklare Zuständigkeiten

Am zweiten Prozesstag scheint das Amtsgericht Lahnstein unvorbereiteter denn je. Für den Prozess ist eine Stunde angesetzt. So lange hatte jedoch letztes Mal allein eine Zeug*innenbefragung gedauert.
Der Mitarbeiter des Globus, der den Strafantrag gestellt hat, sagt aus. Dieser möchte anfangs immer wieder Fragen nicht beantworten, wird jedoch schnell von Publikum und Verteidigung über seine Position als Zeuge aufgeklärt. Was wann an Lebensmitteln weggeschmissen wird? Liegt im Ermessen der Mitarbeiter*innen, und es gibt Vorgaben. Welche? Kann er nicht sagen. Wonach er entscheide, was er wegschmeiße? Nur wenn Schimmelsporen oder Fäulnis erkennbar seien. Wie viel weggeworfen wird? Weiß er nicht. Wie viel er wegwirft? Kann er auch nicht sagen, außer dass es zu viel für einen Einkaufswagen wäre.
Dann die Fragen nach seiner Zuständigkeit. Da Hausfriedensbruch ein Antragsdelikt ist, muss die richtige Person die Anzeige stellen, im Fall von Globus entweder der Geschäftsleiter der Filiale oder der Geschäftsführer. Allem Anschein nach also definitiv nicht der geladene Zeuge und „Chef vom Dienst“. Der Zeuge ist genauso ratlos wie Richterin und Staatsanwältin. Denn obwohl die Anwältin schon am ersten Gerichtstag eine Ausführung zur fehlenden Formrichtigkeit der Strafantragsstellung gehalten hatte, scheinen Richterin und Staatsanwältin noch nie davon gehört zu haben. Es wird viel in Akten und Gesetzestexten geblättert, und das schärfste Argument von beiden ist jeweils: „Ich meine, dass das möglich ist“.
Vorsorglich möchte die Staatsanwältin aber schon mal wieder den Diebstahl mit in die Anklage aufnehmen, was durch die Richterin gebilligt wird. Immer wieder gibt es 15-minütige Pausen. Nachdem die Richterin von der Anwältin für befangen erklärt wird, kündigt sie eine weitere 15-minütige Pause an.

Völliges Chaos bei der Justiz

Nach 80 Minuten kommt sie zurück, und die Stimmung im Gerichtsaal ist nun endgültig aufgeheizt. Nach einem Statement der Angeklagten über dieses respektlose Verhalten gibt es Applaus. Das Publikum ist nun aktiver Teil des Verfahrens. Selbst ein Journalist der Lokalpresse stellt irgendwann laut eine Frage: Er befinde sich in der prekären Situation, über das Geschehene berichten zu müssen, und bitte um eine Erklärung. Nachdem sich weitere Mängel im Ablauf des Verfahrens zeigen (es wurde z. B. noch ein Zeuge geladen, der der Verteidigung nicht angekündigt wurde), sagt die Anwältin, sie glaube langsam, die Vorsitzende Richterin besitze eine andere Version der Strafprozessordnung. Das Verfahren kommt auch an diesem Tag zu keinem Ende und ist nun endgültig zum Desaster für Globus, Staatsanwaltschaft und Gericht geworden.
Kein Desaster jedoch war der Prozess für Lebensmittelretter*innen und andere von Repression Betroffene. Denn dieser Prozess ist ein Lehrstück dafür, wie durch einen offensiv geführten Gerichtsprozess Aufmerksamkeit für ein Thema geschaffen werden kann – über eine Aktion hinaus. Wann es weitergeht und wie es ausgeht, ist aktuell unklar, aber eins ist klar: Egal ob die beiden Angeklagten in einer Hauruck-Aktion noch verurteilt werden oder das Verfahren still und heimlich eingestellt wird: Gewonnen haben sie jetzt schon!

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.