Die Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur beenden

Plädoyer für einen Ausstieg aus der Tierindustrie

| Lynn Fuchs und Friedrich Kirsch

Menschenverachtende Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie, Vertreibungen von Kleinbäuer*innen im Globalen Süden, unvorstellbares Tierleid und katastrophale ökologische Auswirkungen: Es gibt mehr als genug Gründe, um das System der Tierindustrie zu beenden. Lynn Fuchs und Friedrich Kirsch gehen in ihrem Artikel für die Graswurzelrevolution auf die zentralen Probleme ein und zeigen Perspektiven für ein ganz anderes Landwirtschafts- und Ernährungsmodell auf. (GWR-Red.)

In den letzten 20 Jahren hat die Tierindustrie mit zahlreichen Skandalen Schlagzeilen gemacht: Angefangen bei Tierseuchen wie BSE oder Schweinepest über Antibiotika- und Lebensmittelskandale bis hin zu unzähligen massiven Verstößen gegen ohnehin unzureichende Umwelt- und Tierschutzstandards. Die öffentliche Empörung und die politische Rhetorik von Veränderung waren jedes Mal groß, die Konsequenzen für die Konzerne dagegen gering.

Erst im Zuge der Corona-Pandemie und der Infektionsskandale bei Tönnies, PHW und Co. im Jahr 2020 wurden die ausbeuterischen Verhältnisse, denen vor allem migrantische Arbeiter*innen ausgesetzt sind, öffentlich breiter und wirksamer kritisiert. Dass daraufhin tatsächlich das Werkvertragssystem gesetzlich verboten wurde, war ein erster wichtiger Schritt für die Rechte und Arbeitskämpfe vieler Lohnabhängiger. Zwei Jahre später lässt sich jedoch eine ernüchternde Bilanz ziehen: Die Situation, vor allem von migrantischen Arbeiter*innen, hat sich kaum verbessert. Die Konzerne haben kreative Wege gefunden, um die gesetzlichen Regelungen maximal auszuhöhlen und ihr Ausbeutungssystem aufrechtzuerhalten.

Abgesehen von diesen Skandalen und den damit einhergehenden kurzfristigen Aufmerksamkeitsepisoden schafft es die Tierindustrie die meiste Zeit, ungestört ihr Geschäftsmodell auszuweiten. Dabei basiert dieses Modell, neben der massiven Ausbeutung von Arbeiter*innen hierzulande, auf der Zerstörung von Ökosystemen und der Ausbeutung von Menschen im Globalen Süden, und es verursacht massives Tierleid. Außerdem hat die Tierindustrie die Entstehung von Zoonosen und extrem hohe Treibhausgasemissionen zu verantworten. Eine ernst gemeinte Wende kann daher nur in den Ausstieg aus der Tierindustrie führen; das ist eine zentrale Botschaft dieses Beitrags.

Klimakiller Tierindustrie

Wir brauchen den Ausstieg aus der Tierindustrie, weil deren Geschäftsmodell untrennbar mit der Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen, Tieren und Umwelt verbunden ist und massive Ungerechtigkeiten verursacht.

Dies zeigt sich sehr drastisch in Bezug auf die Klimakrise und die Zerstörung von Ökosystemen: Die Tierproduktion beansprucht für Tierhaltung und Futtermittelanbau etwa vier Fünftel der global genutzten landwirtschaftlichen Flächen (1). Damit wird die Abholzung von Regenwäldern, die Zerstörung von Mooren und Sümpfen vorangetrieben, die ökologisch von enormer Wichtigkeit für die Bindung von Treibhausgasen sind.

Insgesamt ist die Tierproduktion verantwortlich für circa ein Fünftel der weltweiten Emissionen (2a, 2b), deren Folgen in der Klimakrise schon jetzt spürbar sind. In Europa gehen über 80 % der Emissionen aus der Ernährung auf den Konsum von Fleisch, Milch und Eiern zurück (3). Eine drastische Reduktion der Tierhaltung ist daher längst überfällig und angesichts des drohenden Klimakollapses unerlässlich.

Mörderischer Futtermittelanbau in Brasilien

Die Tierhaltung ist auch deswegen ein so großes Problem für die Umwelt und die soziale Gerechtigkeit, weil sie so viel Trinkwasser und Futtermittel verbraucht. Um die Futtermittel zu erzeugen, werden im Globalen Süden Wälder gerodet und Menschen von ihrem Land vertrieben. Immer größere Regenwaldflächen, wertvolle Ökosysteme und Lebensräume müssen insbesondere dem monokulturellen Anbau von Soja-Futtermitteln und Weideflächen für Rinder weichen (4).

Nicht nur für die Umwelt und Wildtiere, auch für die Bevölkerung in den betroffenen Regionen hat das bittere Folgen: In Mato Grosso do Sul (Brasilien), das seinen Namen „Grüne Wüste“ dem intensiven Sojaanbau verdankt, kämpfen Indigene und Kleinbäuer*innen schon seit Jahren um ihr illegal geraubtes Land, das zunehmend in Sojaplantagen umgewandelt und durch massiven Pestizideinsatz vergiftet wird. So bevölkert beispielsweise die größte indigene Gemeinschaft der Guarani-Kaiowá nur noch knapp 1 % ihres ursprünglichen Gebiets in der Region. Auch die Zahl der gewaltsamen und tödlichen Übergriffe gegen Indigene nimmt mit der Ausweitung des Sojaanbaus jährlich zu. 2018 wurden mindestens 38 Menschen allein in dieser Region aufgrund von Landkonflikten ermordet (5).

Die EU als zweitgrößter Importeur von Soja weltweit, und damit allen voran die deutsche Tierindustrie, hat dies mit zu verantworten. Von den etwa 13 Millionen Tonnen Soja allein aus Brasilien landen knapp 90 % in den Futtertrögen von Kühen, Schweinen, Hühnern und Puten (6).

Die Ausbeutung hat System

Und auch hierzulande sind zahlreiche Menschen von der Ausdehnung der Tierindustrie betroffen. Viele migrantische Arbeiter*innen sehen sich aufgrund prekärer Lebensverhältnisse in ihren Herkunftsländern gezwungen, unter schlimmsten Bedingungen in deutschen Schlachthöfen, Mastanlagen oder Fleischzerlegebetrieben zu arbeiten.

Diese Ausbeutungspraktiken machen eine Produktion bei niedrigsten Kosten möglich, was wiederum andernorts lokale Märkte und Arbeitsplätze zerstört. So verteuert die Tierindustrie Grundnahrungsmittel und Zugang zu Land und trägt dazu bei, dass in einer Welt, in der eigentlich genug Nahrungsmittel für alle vorhanden sind, jeder zehnte Mensch an Hunger leidet (7a).

Hinzu kommt, dass immer weniger Konzerne immer größere Teile des Marktes beherrschen und damit den Preisdruck auf kleinere landwirtschaftliche Betriebe erhöhen. Die Folge ist das seit Jahrzehnten zu beobachtende „Höfesterben“. Viele Landwirt*innen können bei der Produktionsgeschwindigkeit und Kosten-Nutzen-Optimierung nicht mehr mithalten und stehen vor Existenzkrisen. Für sie gibt es weder Entschädigungen, noch werden Alternativen angeboten, denn wer in diesem Wettlauf nicht mehr mithalten kann, trägt vermeintlich selbst die Schuld.

Profitmaximierung durch Tierleid

Die Tierproduktion konzentriert sich also zunehmend in großen Betrieben, Mastanlagen und Schlachthöfen. Kühe, Schweine, Hühner oder Puten sind in diesem durchrationalisierten und hochtechnisierten Prozess von Zucht, Mast und Tötung nichts weiter als bloße Produkte, die am Ende der Produktionskette zerstückelt und abgepackt in den Supermarktregalen liegen.

Systemgemäß werden ihre Bedürfnisse zugunsten steigender Kosten-Nutzen-Optimierung immer weiter zurückgedrängt – ungeachtet aller „Tierwohl“-Maßnahmen. Schweine, die im Boden wühlen, sich suhlen wollen und sehr neugierig sind, verbringen ihr ganzes Leben auf wenigen Quadratmetern vollgekotetem Spaltenboden, wobei noch 13 Millionen pro Jahr schon während der Mast verenden und als „Müll“ in der Kadavertonne landen (7b). Zahlreiche Undercover-Recherchen belegen immer wieder aufs Neue, dass eine Achtung tierlicher Bedürfnisse innerhalb dieses Systems schlichtweg nicht vorgesehen ist und dessen profitorientierten Prinzipien ganz grundlegend widerspricht.

Sind diese gegenwärtigen Zustände nicht bereits mehr als gravierend, so verheißt auch der Blick in die Zukunft, sollte sich die Tierindustrie wie bisher fortentwickeln, nichts Gutes: Immer mehr kleinere landwirtschaftliche Betriebe werden schließen müssen und in größere Marktanteile der Konzerne übergehen. Allein die globale Fleischproduktion wird bis zum Jahr 2029 auf mehr als 360 Millionen Tonnen Fleisch pro Jahr wachsen (8). Auch die gefährlichen Arbeitsprozesse in der Tierindustrie, die gesundheitlichen Folgen von psychischem und physischem Stress für die Arbeitenden werden weiter fortgeschrieben. Bis 2030 werden nach aktuellem Trend außerdem über 55 % des Regenwaldes im Amazonasgebiet zerstört sein, und die akuten Landkonflikte werden sich weiter zuspitzen (9). Insgesamt wären die Folgen für Klima, Menschen und Tiere verheerend, da bereits jetzt die ökologischen und klimatischen Grenzen dieses Planeten überschritten sind und erhebliche Auswirkungen auf die Lebensräume vieler Menschen und Tiere sichtbar sind.

Eine andere Landwirtschaft ist möglich

Angesichts dieses zerstörerischen Systems und der akuten Verteidigungskämpfe gegen die Konzerne kann leicht aus dem Blickfeld geraten, dass ein ganz anderes Landwirtschafts- und Ernährungssystem möglich ist. Eines, in dem die Produktion nicht an Profiten ausgerichtet ist, sondern vielmehr an Bedürfnissen: an den Bedürfnissen der Bäuer*innen, der Arbeiter*innen wie auch der Konsument*innen. Ein System, in dem nicht einige wenige über die Produktion und Verteilung von Lebensmitteln entscheiden, sondern dies kollektiv geschieht. Ein System, in dem die Umwelt nicht als endlose Ressource, sondern als zu schützende Lebensgrundlage verstanden wird; und in dem Tiere nicht als Waren ausgebeutet, sondern als fühlende Individuen geachtet werden.

Ein solches Landwirtschafts- und Ernährungssystem scheint derzeit leider in weiter Ferne zu liegen. Umso wichtiger ist es, dass wir diese Utopie fest im Blick haben, um im Nebel der ermüdenden Realpolitik nicht die zielführende Richtung zu verlieren.

Die Macht der Konzerne und das romantisierte Bild der Tierhaltung

Dass die aktuellen Kräfteverhältnisse weiterhin deutlich zugunsten der Tierindustrie ausschlagen und ihr realpolitisch, wenn überhaupt, lediglich überschaubare Zugeständnisse abgerungen werden, liegt maßgeblich an der Macht der Tierindustrie: an ihren ökonomischen Ressourcen, auf die es angesichts der allgegenwärtigen Wirkmacht des Kapitalismus so sehr ankommt, wie auch an ihren Beziehungen in die Parlamente, Regierungen und Behörden.

Die Tierwirtschaft (10) nimmt in der Landwirtschaft hierzulande eine dominierende Rolle ein: Etwa 65 % der Verkaufserlöse der Landwirtschaft entfallen auf tierische Erzeugnisse – 2019 waren das gut 28,4 Milliarden Euro (11). Dabei ist in der Tierwirtschaft wiederum ein großer Teil der Macht auf einige wenige Player konzentriert: In der Schweinebranche entfallen auf die vier größten Unternehmen Tönnies, Westfleisch, Vion und Danish Crown 64 % aller Schlachtungen, auf die zehn größten 80 %; bei den Rinderschlachtungen sind es 56 % bei den vier Branchenriesen Vion, Tönnies, Westfleisch und Müller beziehungsweise 79 % bei den zehn größten; bei Geflügelschlachtungen sind es 75 % bei den vier dominierenden Konzernen (12).

Der drohende Klimakollaps, die fortschreitende Zerstörung von Lebensräumen und die maßlose Ausbeutung von Menschen und Tieren drängen auf radikalere Lösungen und eine gemeinsame Stoßrichtung gegen die Tierindustrie

Und der Staat setzt alles daran, dass die Tierwirtschaft auf Kurs bleibt: So zeigt eine Studie, die das Bündnis Gemeinsam gegen die Tierindustrie im März 2021 veröffentlicht hat, dass jährlich öffentliche Gelder in Höhe von über 13 Milliarden Euro in die Tierwirtschaft fließen (13). Mit Investitionen in Stallbauten und anderen Subventionen zementiert der Staat damit das von der Tierwirtschaft dominierte Landwirtschaftssystem.

Gleichzeitig stößt eine Abschaffung der Tierindustrie noch nicht auf breite Zustimmung in der Gesellschaft. Auch wenn eine überwältigende Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen in Umfragen immer wieder mitteilt (14), mit der gegenwärtigen Ausbeutung von Tieren nicht einverstanden zu sein, dulden es die meisten doch sehenden Auges. Der Anteil der Menschen, die den Konsum von Tierprodukten in der Praxis beenden, ist sehr überschaubar (15). Auch wenn viele Menschen um die enormen Klima- und Umweltschäden wissen, so schlägt es sich nur in langsam abnehmendem Konsum von Tierprodukten nieder (und gleichzeitig zu diesem Trend hält das Wachstum des Exports von Tierprodukten weiterhin an). Viele Menschen kultivieren trotz aller Intensivierung und Globalisierung weiterhin ein sehr romantisiertes Bild der Tierhaltung.

Die Versäumnisse der Linken

Dass die Tierindustrie weiterhin so selbstbewusst agieren kann, liegt freilich an der gegenwärtigen konzernfreundlichen und neoliberalen Politik. Aber auch die Linke hat daran ihren Anteil: Sie hat derzeit keine Konzepte, um dem etwas entgegenzusetzen. Schlagkräftige Bündnisse, die die Tierindustrie entmachten könnten, fehlen.

Viele Akteur*innen konzentrieren sich auf ihre jeweiligen Teilbereichskämpfe. Bei Tierschutzorganisationen etwa scheint die Lösung für die meisten erdenklichen Probleme in Tierwohl-Maßnahmen zu liegen, und auch radikalere Tierrechtsgruppen haben selten ein Programm, das über die Forderung nach der Schließung aller Schlachthäuser und einer bio-veganen Ernährung aller hinausgeht. Gewerkschaften und Arbeitsrechtsinitiativen wiederum bleiben regelmäßig bei Forderungen stehen, die für sich genommen an den Auswirkungen der Tierindustrie auf Tiere und die Umwelt wenig bis nichts ändern würden, etwa die Erhöhung der Löhne oder die Wiedereinrichtung von kommunalen und regionalen Schlachthöfen. Bei Landwirtschaftsverbänden hingegen fehlt häufig eine Kritik an der Profitorientierung des Agrarsystems. Anstelle expliziter Forderungen nach einer Reduktion der Tierbestände finden sich vor allem Forderungen nach Erhalt der kleinbäuerlichen Tierhaltung – als ob das automatisch zu einem Abbau der Tierbestände führen würde.

Weil die Tierindustrie so vielschichtige und sich gegenseitig verstärkende Probleme und Ungerechtigkeiten verursacht, reichen einseitige Forderungen nicht aus. Weder würde ein massenhafter Umbau von Ställen für mehr „Tierwohl“ die Abholzung der Regenwälder für Futtermittel stoppen. Noch würde eine Regionalisierung von Schlachthöfen zu weniger Tierleid führen. Ebenso wenig lassen sich die Klimafolgen der Tierindustrie verringern, indem der Ausbeutung von Arbeiter*innen ein Riegel vorgeschoben wird.

Stattdessen drängt sich die Frage auf, ob bloße Reformen desselben Systems nicht lediglich Symptombehandlungen darstellen. Solange Menschen, Tiere und Umwelt dem Zweck der Profitmaximierung untergeordnet werden und sich diese systematische Ausbeutung lohnt, werden Tönnies, PHW und Co. immer neue Wege finden, die bestehenden Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten.

Ausstieg aus der Tierindustrie – aber wie?

Der drohende Klimakollaps, die fortschreitende Zerstörung von Lebensräumen und die maßlose Ausbeutung von Menschen und Tieren drängen auf radikalere Lösungen und eine gemeinsame Stoßrichtung gegen die Tierindustrie.

Wenn wir es ernst meinen mit dem Anspruch, das System Tönnies und Co. zu beenden, braucht es einen grundlegenden Systemwandel – eine umfassende Agrar- und Ernährungswende. Und das bedeutet: die drastische Reduktion der Tierbestände und den Ausbau solidarisch betriebenen ökologischen Pflanzenbaus.

Aber um wie viel müssen wir die Tierbestände reduzieren, um den genannten Problemen gerecht zu werden, und wie schnell kann das gelingen, wenn es sozial gerecht stattfinden soll? Wir sind überzeugt: Ein Abbau von mindestens 80 % der aktuellen Bestände bis 2030 kann auf sozial gerechte Weise erreicht werden. Das entspricht einem Abbau von etwa 10 % pro Jahr. Um das umzusetzen, braucht es eine Reihe von Sofortmaßnahmen: Erweiterungen und Neubauten von Ställen müssen sofort verboten und Futtermittelimporte gestoppt werden.

Anstatt diese enormen Tierbestände weiterhin mit Milliarden zu stützen, müssen Gelder für Ausstiegsprogramme für Tierhalter*innen und Arbeiter*innen sowie für Förderprogramme für den ökologischen Anbau von Getreide, Gemüse, Obst, Hülsenfrüchten und Nüssen bereitgestellt werden. Auch müssen die Großkonzerne vergesellschaftet werden. Das Vermögen, das Tönnies, PHW und die anderen Profiteur*innen des Systems über Jahrzehnte angehäuft haben, kann umfassende solidarische Transformationsprogramme für stark von der Tierindustrie dominierte Regionen finanzieren.

Für die bestehenden Anlagen und Betriebe braucht es Konversionspläne. Ebenso ist eine umfassende Bodenreform nötig, sodass die Landflächen, die bisher für die Tierindustrie genutzt werden, für sozial gerechte und ökologische Anbauprojekte verfügbar gemacht werden.

Der Ausstieg aus der Tierindustrie erfordert für seine effektive Umsetzung, dass sich zugleich die Konsummuster drastisch verändern: Um den Konsum von Tierprodukten zu minimieren und gleichzeitig mehr soziale Gerechtigkeit zu erreichen, sind gesellschaftliche Entscheidungsräume jenseits der individuellen Geldbeutel nötig. Gute Lebensmittel sind ein Grundbedürfnis und sollten von demokratisch kontrollierten Betrieben anstelle von profitorientierten Konzernen produziert werden – es braucht also eine sukzessive Demokratisierung und Entkommerzialisierung der Nahrungsmittelverteilung.. Das Angebot öffentlicher Einrichtungen muss partizipativ, das heißt unter Einbeziehung ihrer Nutzer*innen, umgestaltet werden. Gleichzeitig sind umfassende Bildungskampagnen insbesondere über die Folgen der Tierindustrie nötig; Maßnahmen, die der Agrar- und Ernährungswende entgegenlaufen, wie Werbekampagnen für Tierprodukte, müssen eingestellt werden.

Gemeinsam aus der Defensive: Schulterschluss gegen die Tierindustrie

Klar ist: Die nötigen Veränderungen können nicht alleine durch eine veränderte Agrarpolitik im gegenwärtigen kapitalistischen System erreicht werden. Vielmehr sind die aufgeführten Maßnahmen zu verstehen als Einstieg in eine sozial gerechte und ökologische Agrar- und Ernährungswende, die Teil eines umfassenden Systemwandels hin zu einer solidarischen und ökologischen Produktions- und Organisationsweise ist.

Um diesen Einstieg zu schaffen, ist es dringend an der Zeit, aus der Defensive zu kommen. Dass wir hierbei mit „single-issue“-Ansätzen und punktuellen Forderungen nicht weit kommen, dürften die Entwicklungen und Rückschläge der letzten Jahre gezeigt haben. Stattdessen braucht es mehr Willen zwischen den Bewegungen, die sich gegen die Tierindustrie einsetzen, aufeinander zuzugehen und Vorbehalte zu überwinden. Es müssen Forderungen, die eine gemeinsame Richtung aufzeigen, und schlagkräftige Bündnisse entwickelt werden, die den Druck auf Politik und Konzerne erhöhen können.

Makabere Kunst-Installation, GogBot-Festival Enschede – Foto: Horst Blume

In den letzten Jahren gab es bereits vielversprechende Ansätze in diese Richtung: Anlässlich der Corona-Skandale in den Fleischbetrieben 2020 kam es zu Solidaritätsbekundungen mit den Arbeiter*innen aus unterschiedlichsten linken Kreisen sowie Demonstrationen mit gemeinsamen Forderungen von Tierrechts-, Arbeitsrechts- und Klimabewegten (16). Außerdem gibt es bereits Ansätze, die Kräfte gegen die Tierindustrie langfristiger zu bündeln, wie z. B. im bewegungsübergreifenden Bündnis Gemeinsam gegen die Tierindustrie (17); 2021 organisierte das Bündnis ein Camp im Oldenburger Münsterland, dem Hotspot der deutschen Tierindustrie, zum Austausch, zur Vernetzung und zum gemeinsamen Aktivwerden. Solche kurzfristigen oder langfristigen Zusammenschlüsse können vom „Know-how“ der verschiedenen Bewegungen profitieren und eine breitere gesellschaftliche Basis für die Forderungen schaffen.

Wir müssen uns jetzt dagegen einsetzen, dass die Tierindustrie weiter stabilisiert und verstetigt wird. Es gibt zahlreiche Angriffsflächen: Der Strukturwandel auf Kosten der Kleinbäuer*innen, die Schweine- und Geflügelpest, die Arbeitskämpfe und die zunehmende öffentliche Empörung über Tierleid und Umweltschäden. Es gilt, den Zeitpunkt zu nutzen, um deutlich zu machen: Diese Probleme sind systematisch, sie gehören zusammen, daher brauchen wir keine punktuellen Reformen, sondern den Ausstieg aus der Tierindustrie. Und zwar jetzt!

(1) Chemnitz, Christine et al. (2018): Fleischatlas. Rezepte für eine bessere Tierhaltung, https://www.boell.de/de/fleischatlas-2018-rezepte-fuer-eine-bessere-tierhaltung

(2a) Food and Agriculture Organization of the United Nations (2006): Livestock‘s Long Shadow, https://www.fao.org/3/a0701e/a0701e00.htm

(2b) Xu, Xiaoming, et al. „Global greenhouse gas emissions from animal-based foods are twice those of plant-based foods“, Nature Food 2.9 (2021): S. 724-732

(3) Ritchie, Hannah/Roser, Max: „Environmental impacts of food production“, in: Our World in Data (2020), https://ourworldindata.org/environmental-impacts-of-food

(4) So wurden laut dem brasilianischen Institut INPE allein im Amazonasbecken zwischen August 2020 und Juli 2021 knapp 13.235 qkm Wald gerodet. Das entspricht einem Anstieg von 21 % im Vergleich zum Jahr davor (Ministério de Ciência, Tecnologia e Inovações (2021): Estimativa de desmatamento por corte raso na Amazônia Legal para 2021 é de 13.235 km2, https://www.gov.br/inpe/pt-br). Rund 20 % des ursprünglichen Amazonas sind bereits unwiederbringlich zerstört, der Kipp-Punkt könnte bereits bei ungefähr 25 % zerstörter Waldfläche erreicht sein (WWF (2020): Abholzung im Amazonas steuert auf neues Zehnjahreshoch zu, https://www.wwf.de/2020/juni/alarm-in-amazonien/).

(5) Franzen, Niklas: „Landkonflikt in Brasilien. Soja? So nein!“, in: taz (4.7.2020), https://taz.de/Landkonflikt-in-Brasilien/!5693741

(6) Chemnitz, Christine, et. al. (2020): Fleischatlas. Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel, https://www.boell.de/de/fleischatlas

(7a) 2021 waren etwa 768 Millionen Menschen, und damit etwa jeder zehnte Mensch, von Hunger betroffen. FAO: The state of food security and nutrition in the world 2022, https://www.fao.org/3/cc0639en/cc0639en.pdf

(7b) Liebrich, Silvia: „Tierhaltung in Deutschland: 13 Millionen Schweine landen jährlich im Müll“, in: Süddeutsche Zeitung (22.3.2018), https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/tierhaltung-13-millionen-schweine-landen-im-muell-1.3917126

(8) Chemnitz, Christine et al. (2020), a. a. O.

(9) Nepstadt, Daniel C. (2007): Der Teufelskreis am Amazonas, https://www.wwf.de/fileadmin/user_upload/Teufelskreis_am_Amazonas_-_Klimawandel_und_Waelder.pdf

(10) Die Gesamtheit aller Bereiche, die mit der Haltung von Tieren zur Erzeugung von Fleisch, Milch und Eiern, mit der Verarbeitung und dem Vertrieb von Tierprodukten sowie der Erzeugung von Futtermitteln zusammenhängen

(11) Dannenberg, Alexandra et al. (2021): Milliarden für die Tierindustrie. Wie der Staat öffentliche Gelder in eine zerstörerische Branche leitet, https://gemeinsam-gegen-die-tierindustrie.org/wp-content/uploads/2021/03/Studie-Milliarden-Tierindustrie-GgdT-2021.pdf

(12) Bauer, Franz: „Deutschlands Tötungsbetriebe“, in: Magazin Tierbefreiung (März 2021)

(13) Dannenberg, Alexandra et al. (2021), a. a. O.

(14) Zühlsdorf, Anke et al. (2016): Wie wichtig ist Verbrauchern das Thema Tierschutz? Präferenzen, Verantwortlichkeiten, Handlungskompetenzen und Politikoptionen, https://www.vzbv.de/sites/default/files/downloads/Tierschutz-Umfrage-Ergebnisbericht-vzbv-2016-01.pdf

(15) Pawlik, V. (2021): Personen in Deutschland, die sich selbst als Veganer einordnen oder als Leute, die weitgehend auf tierische Produkte verzichten, in den Jahren 2015 bis 2020, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/445155/umfrage/umfrage-in-deutschland-zur-anzahl-der-veganer/

(16) Aktion gegen Arbeitsunrecht (2020): Demo-Aufruf: System Tönnies stoppen! 11. September Düsseldorf, https://arbeitsunrecht.de/demo-aufruf-system-toennies-stoppen/

(17) Als bewegungsübergreifender und überregionaler Zusammenschluss versucht das Bündnis, jenseits unterschiedlicher Beweggründe eine gemeinsame Stoßrichtung gegen die Tierindustrie zu entwickeln.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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