wir sind nicht allein

Wenn der Ast die Axt umschlingt …

Die Proteste im Iran wollen den radikalen Bruch

| Mahtab Mahboub

Solidaritätsbekiundungen mit den Prostesten im Iran in Melbourne am 24.08. 2022 - Foto: Marit Hrkac via flickr.com,, CC BY 2.0 - https://flic.kr/p/2nNVrfo

Seit dem Mord an Jina Amini überschlagen sich die Ereignisse im Iran, und die feministisch geprägten Proteste erfassen immer breitere Bevölkerungsschichten – der brutalen staatlichen Repression zum Trotz. Mahtab Mahboub fasst für die Graswurzelrevolution die Ziele der oft jugendlichen Demonstrant*innen und die politischen Hintergründe zusammen und macht das große Potenzial der Revolte deutlich, das Hoffnungen auf grundlegende Veränderungen weckt. (GWR-Red.)

Am 16. September 2022 starb die junge iranische Kurdin Jina (Mahsa) Amini – ermordet durch die „Sittenpolizei“, weil sie ihren Hidschab angeblich nicht korrekt getragen hatte. Am gleichen Tag kam es in der iranischen Hauptstadt Teheran zu ersten Protesten, und seitdem haben die Geschehnisse im Iran, aber auch in der Diaspora und auf internationaler Ebene eine solche Dynamik entwickelt, dass es unmöglich ist, einen Gesamtüberblick zu liefern.
Die Proteste werden mit großer Brutalität unterdrückt. Binnen vier Wochen wurden mindestens 224 Menschen getötet, darunter 23 Kinder. Viele weitere wurden verletzt und verhaftet. Im Angesicht dieser Gewalt entwickeln sich jedoch neue Formen des urbanen Widerstands, der (Gender-)Performativität, der Kunst, Selbstorganisation, Solidarität und Schwesterlichkeit. Wer sind diese Menschen, die auf die Straße gehen und mit bloßen Händen gegen schwerbewaffnete Polizei- und Sicherheitskräfte und gegen die Zivilpolizei kämpfen?

Jahrzehntelange Unterdrückung und Neoliberalisierung

Bekannt ist, dass die Mehrheit der Protestierenden junge Leute unter 25 sind, Angehörige der „Generation Z“, Digital Natives, die das Leben ganz anders erfahren als die vorige Generation.
Nach der „islamischen“ Revolution war der Iran zu einem kapitalistischen Zentralstaat schiitischer Prägung geworden. Immerhin bot er weiten Teilen der Bevölkerung eine gewisse sozialstaatliche Versorgung. So waren Bildung und Gesundheitsdienste weitgehend kostenlos. Um den Kontext verständlich zu machen, in dem die jungen Leute aufgewachsen sind, muss ich kurz die Entwicklungen im Iran nach der Revolution von 1979 skizzieren. Unmittelbar nach der „islamischen“ Revolution lag zunächst noch ihr sozialistisches, antikoloniales, antiimperialistisches Erbe in der Luft – wenngleich meist nur als leere Floskeln. Nachdem sich die Islamische Republik in den folgenden drei Jahren jedoch fest etabliert hatte, wurde dieses Erbe innenpolitisch fast vollständig durch eine radikalislamistische Ideologie überlagert. Die jeweiligen Regierungen behaupteten, den Benachteiligten und Armen zu dienen, beschnitten aber alle demokratischen Freiheiten. Die Repression reichte vom Hidschabzwang bis zum Verbot jeglicher gewerkschaftlicher Organisierung, von der Zensur und Kontrolle aller Veröffentlichungen im Iran bis zur Fatwa, mit der Salman Rushdie wegen angeblicher Blasphemie in seinem Roman „Die satanischen Verse“ zum Tode verurteilt wurde.
Ich gehöre der Generation derer an, die in den frühen Achtzigern geboren sind. Wir erinnern uns, wie wir verheimlichen mussten, dass unsere Eltern zu Hause ganz andere Überzeugungen und Verhaltensweisen an den Tag legten als diejenigen, die uns in der Schule gepredigt wurden. Wir lernten zu verheimlichen, dass Familienangehörige und Freund*innen wegen ihrer politischen Überzeugungen inhaftiert oder gar hingerichtet wurden, oder dass sie ausgepeitscht wurden, weil sie entgegen der „islamischen Vorschriften“ Alkohol getrunken oder auch nur alkoholische Getränke im Haus gehabt hatten.
Zugleich jedoch wurden die Kinder, insbesondere junge Mädchen*, auch im häuslichen Umfeld massiv unterdrückt. Viele Väter bzw. Eltern unterstützten die vom Staat propagierten Disziplinarmaßnahmen gegen die Körper der Frauen* – vom Kopftuchzwang bis hin zu „Ehrenmorden“, die für die Täter, männliche Verwandte des Opfers, keine ernsthaften juristischen Konsequenzen haben.
Seit dem Iran-Irak-Krieg (1980–1988) hat sich die staatliche Politik zunehmend neoliberal entwickelt. Die Privatisierung hat gewaltige Ausmaße angenommen. Auch Bildungs- und Gesundheitswesen sind betroffen. Für Frauen* ist der Arbeitsmarkt geprägt von prekären Arbeitsverhältnissen, aber auch von neuen gesetzlichen Bestimmungen, die ihre Beschäftigungsmöglichkeiten und den Zugang zu bestimmten Berufszweigen beschränken.

Akte der Rebellion und Massenproteste

In den vergangenen elf Jahren hat sich die wirtschaftliche Lage, auch aufgrund der internationalen Sanktionen infolge des Atomstreits, beispiellos verschlechtert. Dies führte 2017 zu Massenprotesten in den Städten. Am Morgen des Tages, an dem die Proteste begannen, stellte sich Vida Movahed inmitten der Menschenmenge auf einen Verteilerkasten an der Enghelab-Straße (Straße der Revolution) in Teheran, nahm ihren Hidschab, ein weißes Kopftuch, ab, band es an einen Stock und schwenkte es wie eine Fahne über den Köpfen der Menschen – ein Akt der Rebellion, der von zahlreichen Frauen* wiederholt wurde. Die meisten dieser Frauen* wurden angegriffen und inhaftiert.
2019 kam es zu einer erneuten Protestwelle gegen die Inflation und die alltägliche Verarmung. Weitere Proteste folgten nach dem Abschuss eines ukrainischen Passagierflugzeugs, mit dem hauptsächlich Iraner*innen von Teheran nach Kanada reisen wollten, durch die Revolutionsgarde im Januar 2020.
Die Revolte des Jahres 2019 wurde vor allem von armen Stadtbewohner*innen getragen, Menschen aus marginalisierten Communities. Die Sicherheitskräfte töteten damals 1.500 Protestierende, zumeist junge Männer. Es wurde angenommen, dass die Mütter der Getöteten sich still und konservativ verhalten würden. Das taten sie jedoch nicht, sondern schlossen sich zusammen, um Gerechtigkeit für ihre Kinder zu fordern, und bildeten die Gruppe „Madaran e Dadkhah“ (Mütter fordern Gerechtigkeit). Zu dieser Gruppe stießen später auch Hinterbliebene der Opfer des Flugzeugabschusses. Es sollte erwähnt werden, dass sie dem Weg der Khavaran-Mütter folgten: Mütter, die Gerechtigkeit für ihre Kinder suchen, die als politische Gefangene im Gefängnis saßen, aber im blutigen Sommer 1988 ohne neue Anklage hingerichtet wurden.

Kinder politisierter Mütter

Diese Generation von Müttern der 2019 Protestierenden, zumeist Frauen* in den Vierzigern oder Fünfzigern, erkennt an, dass ihre Kinder ein Recht auf politisches Aufbegehren haben, verteidigt ihre Protest- und Widerstandshandlungen und fordert die Staatsgewalt offen heraus. Ihre Rituale und ihr Auftreten haben die Mutterschaft stärker politisiert und zu einem Hort des Widerstands gemacht, als dies jemals zuvor im Iran der Fall war. Die Generation, die jetzt auf die Straße geht, junge Menschen, oft noch Schüler*innen, hat all dies in ihrem kollektiven Gedächtnis. Diese Jugendlichen galten bis vor kurzem als „entpolitisierte“ Generation, die sich mit Videospielen und Instagram zudröhnte. Jetzt rufen sie auf der Straße die progressivsten Parolen und geben ihr Leben für „Jin, Jiyan, Azadî“ (1).
Diese Generation wuchs in einer Zeit auf, in der die staatliche Propaganda zunehmend in Frage gestellt wurde. Der Zugang zu globalen Medien gab konkurrierenden Narrativen Auftrieb und verbreitete andere Weltanschauungen und Lebensgewohnheiten. Viele Angehörige der vorigen Generation, also die Eltern der Generation Z, hatten höhere Bildungsabschlüsse, lebten aber trotzdem in prekären Verhältnissen. Sie waren es leid, sich zu verstecken, und unterstützten teilweise ihre Kinder dabei, sich selbst zu entfalten und die hierarchischen Machtstrukturen herauszufordern. Sie standen zu ihren Kindern, wenn diese in der Schule gedemütigt wurden, weil sie sich die Nägel lackiert hatten, oder wenn sie wegen ihres Aufbegehrens verhaftet zu werden drohten.

Die Frau* ohne Hidschab als neue Normalität

Die junge Generation brach mit den Versprechungen und Idealen der Vergangenheit und der Zukunft, indem sie das Leben hier und jetzt einforderte und die Frau* als Kristallisationspunkt aller Diskriminierung hervorhob. Sie wollen Freiheit, denn sie wollen nicht mehr als Heuchler*innen leben: Sie wollen sie selbst sein. Durch diesen Kampf handeln sie den Gesellschaftsvertrag neu aus. Sie fordern alle im Gesellschaftsgefüge dominanten Positionen heraus: Väter, Lehrer*innen, Politiker*innen. Sie wollen über ihren Körper und ihre Individualität selbst bestimmen können, sie wollen Autonomie. Und kurzfristig etablieren sie zumindest eine neue Normalität: das Bild einer Frau* ohne Hidschab im öffentlichen Raum.
Der Staat diffamiert diese jungen Leute mal als aufgekratzte Teenager ohne politische Orientierung und politisches Bewusstsein, mal als bloße Randalierer*innen oder zufällige Mitläufer*innen, mal als psychisch Kranke mit Selbsttötungsabsichten. Die online zu findenden Selbstzeugnisse der ermordeten Jugendlichen widerlegen jedoch diese Unterstellungen. In einem Instagram-Video sagte die sechzehnjährige Sarina Esmaeilzadeh, kurz bevor sie von den Sicherheitskräften auf einer Straße in Teheran erschlagen wurde: „Was dürfen Menschen von ihrem Land erwarten? Wohlergehen, Wohlergehen, Wohlergehen! Es ist nicht mehr so wie vor zwanzig Jahren – damals kannten iranische Jugendliche nur ihresgleichen im Iran. Jetzt aber sehen wir, dass die Menschen in Äthiopien hungern und dass sich in L.A. die Kinder der Reichen vergnügen. Wir wissen von beiden Welten. Und da Menschen immer nach Vollkommenheit streben, vergleichen sie sich mit denjenigen, denen es besser geht. (…) Wir stecken in einer Zwangslage. Wir sind nur damit beschäftigt, den Grundbedarf an Essen, Kleidung und Wohnraum zu sichern. Deshalb fehlt uns die geistige Freiheit, über diese Grundbedürfnisse hinauszudenken.“ In ihrer Instagram-Bio steht nur ein Wort: Freiheit!

Unfassbare Brutalität

Nika Shakarami, ein siebzehnjähriges Mädchen, verschwand während der Proteste am 20. September. Zehn Tage später wurde ihre Leiche an die Familie übergeben. Es heißt, sie sei acht Tage lang immer wieder vergewaltigt und gefoltert worden – Praktiken, die in den Gefängnissen des Regimes an der Tagesordnung sind. Die Sicherheitskräfte nahmen der Familie den Leichnam wieder weg. Auf die Trauergemeinde, die sich zum Begräbnis versammelt hatte, wurde geschossen. Nikas Tante und Onkel wurden gefoltert, um ihnen das „Geständnis“ abzupressen, Nika habe sich umbringen wollen. Nikas Mutter ergriff dennoch die Initiative und berichtete öffentlich, wie entstellt der Leichnam ihrer Tochter gewesen war – die Nase völlig zertrümmert, der Schädel durch Knüppelschläge mehrfach gebrochen. Sie machte auch öffentlich, wie sie bedroht worden war.
Videos von Nika, in denen sie fröhlich mit ihren Freundinnen singt, zirkulieren in den Sozialen Medien; ebenso Videos, in denen zu sehen ist, wie sie inmitten der Protestierenden auf einer Mülltonne steht, Parolen ruft und ihr Kopftuch anzündet – nur wenige Minuten, bevor sie geschlagen und entführt wurde. Wie viel Angst muss die Diktatur vor den zarten Körpern verspielter Jugendlicher haben? Körpern voller Lebenshunger und Freiheitsdurst, Körpern, denen nicht einmal der Tod die Entschlossenheit rauben konnte, die Würde und Freiheit zu erkämpfen, die ihnen zustehen.

Das Unvorstellbare denken

Und wie stehe ich zu diesen Körpern? Wie sind wir verbunden? Wo begegnen wir uns? Mein Freund in Teheran sagte neulich: „Mit ihrem Blut haben sie uns unsere Ehre zurückgegeben. Die Axt (dieses Regimes) hat uns die ganze Zeit geschlagen, aber diese Generation hat sich darum geschlungen!“ Denn wir alle haben das Recht auf ein lebenswertes Leben.
Die jungen Kämpfer*innen in diesem Krieg, auf diesem Schlachtfeld, werden in unserer Erinnerung weiterleben und sie für immer verändern. Sie haben uns schon jetzt unumkehrbar verändert. Wir werden nie mehr dieselben Menschen sein, nachdem wir die Blutlachen gesehen haben, egal wie schnell sie weggewischt werden. Iranische Frauen*, auch ich selbst, werden überall auf der Welt auf die Straße gehen – mit einem Selbstbewusstsein und einem Stolz, die bis zum 16. September unvorstellbar waren.
Die Kämpfe dieser jungen Menschen, dieser jungen Frauen* haben im Angesicht der brutalsten Staatsgewalt der iranischen Gesellschaft den messianischen Augenblick beschert, den historischen Bruch, der es uns über alle Staatsgrenzen hinweg ermöglicht hat, das Unvorstellbare zu denken: den Umsturz der Hierarchien und eine radikale, egalitäre Politik, die ein Leben in Würde und Freiheit garantiert. Durch diesen Bruch in der Zeit und mit ihrem reinen Licht rufen sie uns auf, die Seite des Lebens zu wählen. Die Entscheidung liegt nun bei uns.

(1) dt. „Frau*, Leben, Freiheit!“ – Parole der kurdischen Freiheitsbewegung (Anm. d. Ü.).

Übersetzung: Tanja Unger

 

Dies ist ein Beitaus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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