wir sind nicht allein

„Dies ist kein Protest. Dies ist eine Revolution!“

Die Demonstrationen im Iran trotzen dem staatlichen Terror

| O. G.

Foto von einer Solidaritätskundgebung in Melbourne - Foto: Matt Hrkac from Geelong / Melbourne, Australia, CC BY 2.0 , via Wikimedia Commons

Am 16. September 2022 wurde die iranische Kurdin Mahsa Jina Amini im Gewahrsam der Sittenpolizei ermordet, und auch zwei Monate später halten die Proteste im Iran ungebremst an und gewinnen weiter an Vielfalt und Dynamik. Die Revolte hat das gesamte Land erfasst und lässt sich auch von brutaler Polizeigewalt, Massenverhaftungen und Morden an Demonstrant*innen nicht einschüchtern. Die Hintergründe und aktuellen Entwicklungen schildert O. G. für die Graswurzelrevolution. (GWR-Red.)

Das hat es in der Geschichte der iranischen Bewegungen noch nicht gegeben. Als am 22. Oktober 2022 80.000 Menschen aus ganz Europa in Berlin demonstrieren, ist dies nicht nur ein Lebenszeichen der iranischen Diaspora. Es ist ein Signal der Einigkeit zwischen den Menschen hier und denen, die zeitgleich im Iran auf der Straße sind.
Der Samstag ist im Persischen der Beginn der Woche. „Es hieß immer: Kein guter Tag zum Demonstrieren. Das ist jetzt vorbei“, posten die Aktivist*innen in den Sozialen Netzwerken. Seit inzwischen 55 Tagen setzt sich diese Bewegung ununterbrochen fort. 900 Demonstrationen in 138 Städten zählte die Menschenrechtsorganisation HRANA. 137 Universitäten sind involviert, davon 33 Unis alleine in Teheran.

Jahrelange Proteste gegen das Regime

In Berlin spricht auch Hamed Esmailion, Aktivist aus Kanada. Seine Frau und Kind starben beim Abschuss des Fluges 752 Ukraine Airlines durch Flugabwehrraketen des iranischen Militärs am 8. Januar 2020. Die aktuellen Proteste im Iran haben eine Vorgeschichte. Ausgelöst durch Benzinpreiserhöhungen kam es 2019 zu den wohl größten landesweiten Erhebungen in der Geschichte der Islamischen Republik. Protestierende auch aus ärmeren Schichten eroberten die Straßen. Sie zündeten Polizei- und Regierungsgebäude an. Das Regime tötete geschätzt 1.500 Menschen. Die Tage sind heute als „Blutiger November“ bekannt. Man fand gefolterte und ermordete Menschen in Abwasserkanälen und Stauseen. Im Januar 2020 sah es nicht danach aus, dass die Lage sich beruhigen würde. Erst mit dem heftigen Einbruch der Corona-Pandemie änderte sich die Situation im Land.
Das Missmanagement und die Unwilligkeit des islamischen Regimes führen jedoch von einer Krise in die nächste. Nach der schlimmsten Phase der Pandemie folgten im Sommer 2021 die Wasserproteste in Chuzestan. Von der mehrheitlich arabischen Bevölkerung in Chuzestan breiteten sie sich schnell nach Isfahan und darüber hinaus aus.
Im Mai 2022 stürzte – nicht zum ersten Mal – ein Hochhaus ein, diesmal in Abadan. Was, wenn erst das erwartete „große Beben“ kommt? Der Teheraner Bürgermeister ließ jüngst verlauten, dass er die Liste der akut einsturzgefährdeten Gebäude nicht veröffentlichen könne, so schlimm sei die Lage.
Lehrkräfte und Ingenieur*innen werden oft monatelang nicht bezahlt und müssen streiken, um Geld zu bekommen. Gleichzeitig erhöht das Parlament inmitten der Proteste die Gehälter der Sicherheitskräfte um 20 Prozent. Während im Land der Frauenanteil in naturwissenschaftlichen Fächern über 50 Prozent liegt, weit höher als in westlichen Industrieländern, predigen alte Mullahs im staatlichen Fernsehen, dass der Platz einer Frau hinter den Türen ihres Heimes sei und nichts anderes.

Funke im Pulverfass

Es fehlte nur ein Funke. Mahsa Jina Amini wurde im Polizeigewahrsam getötet. Sie war mit dem Vorwurf festgenommen worden, den für Frauen vorgeschriebenen Hidschab nicht korrekt getragen zu haben. Aus den Protesten an Jina Aminis Grab in der Provinz Kurdistan erwuchsen schnell landesweite Kundgebungen, und mit der Ablegung des Kopftuches bei ihrer Beerdigung wurde der kurdische Ruf „Jin, Jiyan, Azadî“ (dt. „Frau, Leben, Freiheit“) ins Persische übertragen und zur Parole der Bewegung.
Über die Bedeutung der iranischen Frauenbewegung und die Unterdrückungserfahrungen der Iranerinnen mit der Sittenpolizei „Gascht-e Erschad“ wurde bereits viel geschrieben. Ich möchte den Blick auf einen wichtigen Punkt werfen.
Das Ablegen des Kopftuches als ein Akt der Selbstermächtigung: Nicht nur symbolisch auf Demonstrationen wird das Kopftuch angezündet. In diesen Tagen sehen wir immer mehr Frauen, die in Alltagssituationen ohne Kopftuch unterwegs sind. Als im November die großen Demonstrationen zunehmend unter Druck stehen, verstärken die Frauen solche Aktionen noch einmal. Schülerinnen landesweit legen nicht nur den Hidschab ab, sondern entfernen die Abbildungen des Religionsführers Ali Chamenei von den Wänden und reißen sie aus den Schulbüchern. Sie richten sich gegen die Diktatur und die ideologischen Lehrinhalte.
Das Lied „Baraye Azadi“ (dt. „Für die Freiheit“) des iranischen Sängers Scherwin Hadschipur wird zu einer Hymne der jungen Bewegung, zu einem Manifest. Darin werden die künstlerischen Freiheiten, die Umweltprobleme, Tierschutz, die Armut und Straßenkinder, die Misswirtschaft, die psychischen Probleme, Transsexualität, der religiöse Fundamentalismus und die politischen Gefangenen angesprochen. Die Iraner*innen spielen den Song auf den Straßen und nachts aus den Fenstern ihrer Hochhausappartments.

Vollständiger Wandel statt bloßer Reformen

Die Rede von Hamed Esmailion spricht von „unseren Träumen“, angelehnt an Martin Luther King: „In our dreams the wind of freedom goes through womenʼs hair“ (dt. „In unseren Träumen streicht der Wind der Freiheit durch Frauenhaar“). Auch ihm geht es um die Aufhebung der Gewalt und Korruption. Er fügt einen wichtigen Satz hinzu, der ihm von Iraner*innen in Europa mitgegeben wurde. „No one is asking you to interfere or wage war. No one is asking you to sanction the people of Iran. What we are asking is: Impose targeted sanctions on the leaders and operators“ (dt. „Keine*r fordert euch auf, euch einzumischen oder einen Krieg anzuzetteln. Keine*r fordert euch auf, die iranische Bevölkerung zu sanktionieren. Unsere Forderung ist: gezielte Sanktionen gegen die Anführer und ausführenden Organe“). Auch Hamed Esmailion sieht sich nur als Mittler.
Die Loslösung von Forderungen an das Regime, nach Reformen oder der Durchsetzung von Kompromissen und Anführern hat der Bewegung eine Weite und Perspektiven gegeben. Selbstverständlich gehört dazu auch, sich radikal gegen die Manifestationen des Regimes zu wenden und gegen die Staatsgewalt oft mit bloßer Hand zur Wehr zu setzen. Plakate und Wachhäuschen brennen. Graffiti überall. Wir sehen Bilder von Gefangenenbefreiungen und Sicherheitskräfte, die sich vor Angriffen zurückziehen müssen. Selbst wo geschossen wird, stehen Menschen am Straßenrand und rufen „Bischaraf“ (dt. „Ehrlos“). 39 Sicherheitskräfte starben bereits durch die Hand der wütenden Massen. Grundsätzlich will die Bewegung aber friedlich bleiben; zu den Waffen greifen sie nicht.

In Stadt und Land, in allen Provinzen

Sie setzen auf Solidarität untereinander. Was mit Mahsa Amini begann, bedeutet: Niemand bleibt allein. Ihr Ruf: „Habt keine Angst, wir stehen alle zusammen“. Belutsch*innen im Osten des Landes rufen „Für Kurdistan“ und Kurd*innen im Westen „Die Ehre der Belutschen ist auch unsere Ehre.“ Die sunnitische Bevölkerung in Zahedan protestiert in Massen nach dem Freitagsgebet.

Das Lied „Baraye Azadi“ (dt. „Für die Freiheit“) des iranischen Sängers Scherwin Hadschipur wird zu einer Hymne der jungen Bewegung, zu einem Manifest. Die Iraner*innen spielen den Song auf den Straßen und nachts aus den Fenstern ihrer Hochhausappartments.

Inzwischen gehen alle Bevölkerungsgruppen in allen Landesteilen auf die Straße. In Dörfern wie Biawaran mit 300 Einwohner*innen in der Provinz Zentraliran und kleinen Gemeinden am Kaspischen Meer wie Kiaschahr demonstrieren sie ebenso wie die „Jugend der Viertel“ in der Hauptstadt, die zu dezentralen Aktionen in den Wohnvierteln aufruft.
Da sind die Arbeiter*innenviertel im Süden Teherans, die Streiks der Einzelhändler*innen, der Busfahrer*innen und verschiedener Produktionsbetriebe wie Traktorsaz. Als der große Bazar in Teheran schließt, sorgt das für eine Massendemo im Zentrum. Da sind die Mittelschichten im Norden Teherans in Saad Abad und an der Vali-Asr-Straße. Am 40. Tag kommt es an mindestens 30 Plätzen in Teheran gleichzeitig zu Kundgebungen. Im kurdischen Sanandadsch sind es Zehntausende Demonstrant*innen. Auf der Straße rufen die Menschen: „Dies ist kein Protest. Dies ist eine Revolution.“

„Turbanwerfen“ und Tanz gegen die Mullahs

Die Iraner*innen unterstützen sich gegenseitig, und sie haben dazugelernt. In jedem Video nennen sie Ort und Datum, um Irritationen und Fakenews vorzubeugen. „Die iranische Gesellschaft ist gewachsen, bewusster geworden, … wendet neue Taktiken an“, umschreibt der Popmusiker Dariusch im Interview die neue Qualität der Bewegung.
Eine dieser Taktiken ist das „Werfen der Turbane“. Die Jugend hat ihre Challenge gefunden. Keine „Ice Buckets“. Es geht um mehr als einen Streich, auch Prank genannt, doch die Bilder von Jugendlichen, die den Mullahs die Turbane vom Kopf schlagen, machen deutlich: Hier treffen Welten aufeinander. Bei Twitter findet sich bereits die „Turban Throwing Federation“, welche den Volkssport in die Olympischen Disziplinen erheben möchte.
Die Kulturrevolution der Mullahs ist endgültig gescheitert. Die Mädchen an den Schulen tanzen, singen und schicken die Redner des Regimes fort. Eine Lehrerin bläut ihnen ein: „Tod Amerika!“, und sie wiederholen kichernd: „Tod der Diktatur!“ Dem Regime fällt nichts ein, außer über Wochen hinweg brutalste Gewalt auszuüben. Eine Schülerin in Ardebil wird vor den Augen ihrer Mitschülerinnen ermordet. Mindestens 50 Minderjährige sind bereits Opfer der Gewalt.

Universitäten als Brennpunkte des Protests

Die Studierenden beginnen eine Kampagne mit einer sehr einfachen und konkreten Forderung: Die Aufhebung der Geschlechtertrennung in den Mensen. Zunächst verschaffen sie sich gemeinsamen Zugang. Es kommt zu Diskussionen, zum Beispiel an der Medizinuniversität Tabris am 9. Oktober. Die Verantwortlichen verweigern die Essenausgabe und schüchtern die Studierenden ein. Diese beharren auf ihren Bürger*innenrechten und erlangen gemeinsamen Zutritt. Die Kampagne nimmt an Fahrt auf, von Isfahan bis Maschhad, von Rascht bis Teheran. Als die Mensa der Amirkabir-Universität in der Hauptstadt am 24. Oktober abgeriegelt wird, stürmen Studierende das Gebäude. Im ganzen Land reißen sie die Trennwände in den Mensen ein.
Am 2. Oktober greifen erstmals Basidschi-Milizen, die Freiwilligeneinheiten der Revolutionsgarde, die Studierenden an der Scharif-Universität in Teheran an. Sie schießen mit Farbpatronen zum Markieren und mit Schrotmunition. Viele Studierende werden verhaftet und in das Evin-Gefängnis verbracht. Die Solidarität ist groß. Tausende Teheraner*innen machen sich auf den Weg, blockieren die Straßen, demonstrieren rund um die Uni.
Am 15. Oktober kommen die Verbrecher*innen des Regimes in Block 7 des Gefängnisses in Teheran. Dort kündigen sie an: „Heute töten wir eure Kinder.“ Dann gehen sie in Block 8. Die jungen Männer werden systematisch gefoltert, bei Gegenwehr erschossen. Gegen Abend zünden die Sondereinheiten das Dach des Gebäudes an, wie Videoaufnahmen belegen, um ihre Taten zu verwischen und einen Aufstand zu simulieren.
Ende Oktober dann organisiert das Regime gewalttätige Gegendemonstrationen von Basidschi-Studierenden an den Unis. Erst greifen diese die friedlichen Studierendenproteste an. Dann beginnen auch Sicherheitskräfte im Land auf die Studierenden zu schießen.
800 Hochschullehrer*innen unterzeichnen eine Petition und setzen sich für die Freilassung von Studierenden und gegen Exmatrikulationen ein. Im Iran lebende Schauspieler*innen und Sportler*innen zeigen öffentlich ihre Unterstützung für die Proteste. Am 8. November bei einer Veranstaltung der Scharif-Universität singen die Studierenden wieder gemeinsam, und zwar die persische Version von „El Pueblo Unido“, dem Revolutionssong aus Chile. In der bildhaften persischen Sprache heißt es, die Ideen sind von der Strömung erfasst. Es gibt kein Zurück.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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