„Stell dir vor, es ist Krieg, und keine*r geht hin“

Desertion ist bis heute in Verruf

| Gerald Grüneklee

Deserteur*innen wurden und werden stets geschmäht – schließlich unterläuft ihr Handeln sowohl nationalistische Kriegsinteressen als auch die Bilder militärischen Held*innentums und soldatischer Männlichkeit. Gerald Grüneklee spannt einen Bogen von der fehlenden Würdigung der Wehrmachtsdeserteure bis hin zur aktuellen Verweigerung von Asyl für russische und ukrainische Menschen, die sich der staatlichen Verpflichtung zum Morden in der Ukraine entziehen. (GWR-Red.)

Weder der deutschen Panzerpartei (Bündnis 90/Die Grünen, jetzt: Die Olivgrünen) noch einer anderen deutschen Partei fällt es angesichts des Krieges in der Ukraine ein, eine Alternative zur mörderischen Spirale der Kriegsgewalt und zu immer weiteren Waffenlieferungen zu formulieren. Dabei wäre es ganz einfach: Soziale Verteidigung ist ein nicht-aggressives Verteidigungskonzept, das in der bundesdeutschen Friedensbewegung der 1980er-Jahre durchaus einige Aufmerksamkeit erfuhr. Zur sozialen Verteidigung gehört auch das Durchbrechen der militärischen Gewalt, indem zu Desertion aufgerufen wird und Deser-
teur*innen unterstützt werden. „Stell dir vor, es ist Krieg, und keine*r geht hin“ – dieses Bonmot aus Hoch-Zeiten der Friedensbewegung hat insofern seine Berechtigung (wobei man dazu im Kriegsfall das Land hätte verlassen müssen, da Kriegsdienstverweigerer in der BRD über das Konzept der Gesamtverteidigung in die Kriegsmaschine eingeplant waren).

„Wehrkraftzersetzer“ und „Verräter“

Warum also wird das staatlich in Auftrag gegebene Morden akzeptiert, warum werden irrsinnige Summen für Rüstung ausgegeben, statt einfach „Stopp!“ zu rufen?
Ein Blick in die Geschichte gibt Aufschluss: Deserteure wurden als „Wehrkraftzersetzer“ eingestuft und galten noch bis weit in die 1990er-Jahre schlicht als „Verräter“. Erst 2008 wurden beispielsweise die im Ersten Weltkrieg wegen Gehorsamsverweigerung zum Tode verurteilten und exekutierten französischen Soldaten vom damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy rehabilitiert – exakt, als es keinen einzigen Überlebenden mehr gab, an dem man womöglich Wiedergutmachung hätte leisten müssen.
Es war ein jahrzehntelanger Kampf um Anerkennung, den Wehrmachtsdeserteure wie Ludwig Baumann in der BRD und anderen Ländern führen mussten. In Bremen etwa bezeichnete 1986 der CDU-Fraktionsvorsitzende Bernd Neumann die Aufstellung eines Deserteursdenkmals schlicht als „skandalös“. Deserteure wurden als „asozial“ gebrandmarkt, weil sie sich der militärischen „Kameradschaft“ entzogen. Besonders perfide ist das Etikett der „Feigheit“, mit dem Deserteure bedacht wurden – immerhin wurden in Europa während des Ersten und des Zweiten Weltkrieges viele Zehntausend Deserteure umgebracht. 30.000 Todesurteile sprach alleine der NS-Staat aus; davon wurden rund 20.000 vollstreckt.
Zwar wurden seit den 1990er-Jahren vermehrt Deserteursdenkmäler in Deutschland aufgestellt, was inzwischen zumeist keine größeren Proteste mehr hervorruft. Der deutsche Staat hat jedoch nach wie vor seine Probleme mit Desertion, selbst dort, wo man es aus politischen Motiven doch anders vermuten würde. So bemühen sich Soldaten, die in der DDR wegen Desertion aus der Nationalen Volksarmee (NVA) verurteilt wurden, seit dem Anschluss der DDR um eine Rehabilitation, die immerhin seit 2002 für Wehrmachtsdeserteure und seit 2009 für „Kriegsverräter“ (eine spitzfindige juristische Unterscheidung) in Deutschland gilt.
Auch in Österreich wurden Wehrmachtsdeserteure erst 2009 rehabilitiert. Die Debatte um Denkmäler verlief lange ähnlich erhitzt wie in Deutschland (1).

Deserteure in der DDR: zwischen Ehrung und Repression

Zumindest mit Wehrmachtsdeserteuren tat sich der „antifaschistische“ DDR-Staat leichter: Von den rund 30 Deserteursdenkmälern, die es derzeit auf deutschem Boden gibt, stand die Hälfte schon zu DDR-Zeiten; das erste wurde bereits 1945 in Löbau errichtet. Auch Straßen waren in der DDR nach Deserteuren wie dem 1944 von der Wehrmacht hingerichteten Fritz Schmenkel benannt – diese Namensgebungen überlebten allerdings zumeist nicht die reaktionäre Umbenennungswelle seit Beginn der 1990er-Jahre. Die Fritz-Schmenkel-Straße in Berlin-Lichtenberg heißt nun „Rheinsteinstraße“, jene in Chemnitz „Zeisigwaldstraße“.
Desertion findet statt, solange es Armeen gibt, und sie ist, siehe oben, gar nicht so selten. Immerhin 180 Soldaten der Ende 1955 gegründeten Bundeswehr desertierten bis 1960 in die damals in antikommunistischer Diktion oft noch als „SBZ“ bezeichnete DDR (2). Auch über 200 Angehörige der NATO-Armeen flüchteten bis 1961 in die DDR, von denen allerdings rund die Hälfte Jahre später wieder in den „Westen“ zurückkehrte – denn wer einmal „Verrat“ begeht, dem glaubt man nicht: Man machte es diesen Deserteuren in der DDR nicht leicht, standen sie doch schnell unter Spionageverdacht und wurden häufig nicht mit offenen Armen empfangen, sondern kritisch beäugt.
Rund 400 bis 500 in der DDR stationierte Sowjetsoldaten wiederum flüchteten jährlich aus der Roten Armee, da die Behandlung dieser Soldaten schon damals äußerst schikanös war. Allerdings zeigen diese Fluchtversuche auch das Ausmaß der Verzweiflung, war es doch so gut wie unmöglich, zurück in die Sowjetunion oder in andere „Bruderstaaten“ zu kommen.

Massenphänomen Desertion im Ukrainekrieg

Obige Zahlen wirken allerdings noch bescheiden gegen das massenhafte Phänomen der Desertion, wie es im Ukrainekrieg zu erleben ist. Die Zahlen zeigen, wie viel Unlust vorhanden ist, sich für einen Staat verheizen zu lassen – und vielleicht ist genau dies ja in trostlosen Zeiten ein kleiner Hoffnungsschimmer.
Seit die Ukraine das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ausgesetzt und die Grenze für Männer zwischen 18 und 60 Jahren geschlossen hat, sind nach Schätzungen von Connection e. V. über 140.000 Männer vor der Kriegsbeteiligung ins Ausland geflohen. Es ist also keinesfalls so, dass die Menschen in der Ukraine alle bereit sind, ihr Leben für ihre „Heimat“ herzugeben, für die „ruhmreiche“ (Wolodymir Selenskyj) Ukraine, wie es die Propaganda in den NATO-Staaten den Menschen weismachen will. Umgekehrt haben sich bisher rund 150.000 russische Wehrpflichtige und Deserteur*innen dem Krieg verweigert. (3) Weder in Russland noch in der Ukraine gibt es derzeit die Todesstrafe für Desertion, mehrjährige Haftstrafen blühen jedoch.
Russische Deserteur*innen bekommen allerdings in etlichen Ländern derzeit kein Asyl, so in Polen und den baltischen Staaten, da Kriegsdienstverweigerung dafür kein „hinreichender Grund“ sei. Auch in Deutschland ist die Aufnahme russischer De-serteur*innen umstritten; ukrainische Deserteur*innen bekommen ebenfalls kein Asyl, zumindest aber erst einmal schneller ein Aufenthaltsrecht.
„Russen mit demokratischer Gesinnung hätten das Land meist schon längst verlassen“, meinte der „Deutschlandfunk“ am 23. September 2022 (4). Man will also jene dem russischen Staat ausliefern, die angeblich zu lange „apathisch“ (ebd.) und zögerlich gewesen seien: Schließlich sollten diese in Russland gegen den Krieg kämpfen statt „feige“ zu flüchten. Deutsche dürfen solche Ratschläge geben – sie haben schließlich viel Erfahrung in massenhaftem Protest gegen kriegführende Despoten im eigenen Land, könnte man dazu zynisch bemerken.
Es sind Staaten, die Menschen gegeneinander aufhetzen und in den Krieg – vielfach in den sicheren Tod – schicken. Eine Ungeheuerlichkeit, vor deren Hintergrund das immer noch enorme Staatsvertrauen in den Bevölkerungen wirklich verstörend ist. Der Staat muss raus aus den Köpfen, doch das scheint ein langer Weg – seit 2020 zudem im Eiltempo rückwärts verlaufend –, der den Einberufenen derzeit wenig nützt. Daher braucht es auch eine akute, konkrete Perspektive. „Stell dir vor, es ist Krieg, und keine*r geht hin“ – damit dies kein Wunschtraum bleibt und die Spirale der Gewalt endlich durchbrochen wird, sind der Aufruf zur Desertion und die Unterstützung von Deserteur*innen ein Gebot der Stunde für alle antimilitaristisch gesinnten Menschen.

Der Autor ist Mitverfasser des Buches „Nie wieder Krieg ohne uns – Deutschland und die Ukraine“, das 2022 in der Edition Critic erschien (ISBN 978-3-946193-38-8).