Arbeitsniederlegung, technische Kriegsbekämpfung und Pazifistische Volksverteidigung

Gernot Jochheims Standardwerk zu Antimilitarismus und Gewaltfreiheit

| Renate Brucker

Gernot Jochheim: Antimilitarismus und Gewaltfreiheit. Die niederländische Diskussion in der internationalen anarchistischen und sozialistischen Bewegung 1890-1940, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2021, 356 Seiten, 26,80 Euro, ISBN 978-3-939045-44-1

Der Verlag Graswurzelrevolution hat mehr als 40 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen eine populärwissenschaftliche Neuauflage der Dissertation Gernot Jochheims vorgelegt, die unter dem Titel „Antimilitaristische Aktionstheorie, Soziale Revolution und Soziale Verteidigung“ bei Haag und Herchen 1977 veröffentlicht worden war und längst vergriffen ist. Zurecht bezeichnet der Herausgeber der Neuauflage, Wolfram Beyer, diese Arbeit als „Standardwerk der Theorie-Geschichte der Gewaltfreiheit und des Antimilitarismus“.
Die ursprüngliche wie die Neuausgabe legen den Schwerpunkt auf die historische Darstellung der Diskussionen in den Niederlanden. Sie wird aber in einen weiteren Zusammenhang gestellt und bezieht die Argumente deutscher Sozialdemokrat*innen, russischer Revolutionär*innen, englischer und amerikanischer Theoretiker*innen, spanischer Anarchist*innen, aber auch Mahatma Gandhis und internationaler Organisationen wie der War Resisters´ International oder des Internationalen Versöhnungsbundes mit ein. Es verdient besondere Anerkennung, dass der Verfasser sich die Mühe gemacht hat, die Vielzahl der niederländischen Quellen zu sichten und sich in die zum Teil recht komplizierten personellen und organisatorischen Zusammenhänge einzuarbeiten.
Als Mitglied des Versöhnungsbundes, Buchautor und Lehrer hat Jochheim Geschichte und Theorie gewaltfreier Konfliktaustragung erforscht. Besonders hervorzuheben wären seine Arbeiten zum erfolgreichen gewaltlosen Widerstand von Frauen gegen die Deportation jüdischer Angehöriger in der Berliner Rosenstraße 1943.

Die Tradition des sozialistischen Klassenkampfs mit nicht-gewaltsamen Mitteln

Neben Ferdinand Domela Nieuwenhuis werden in Jochheims Buch als prägend für die Gewaltfreiheitsdiskussionen auch Henriette Roland Holst, Bart de Ligt und Clara Wichmann behandelt. Die beiden hier genannten Frauen haben 1921 eine bedeutende Diskussion über Probleme der Gewalt geführt. (1) Anzuerkennen ist, dass auch auf weniger bekannte Akteur*innen gerade aus den Dreißiger- und Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts, die z. T. Verfolgung erlitten oder von der deutschen Besatzungsmacht hingerichtet wurden, aufmerksam gemacht wird.
Marx hatte die Gewalt als Geburtshelferin einer neuen Gesellschaft bezeichnet, womit sie in der sozialistischen Bewegung als Mittel des Klassenkampfes als legitimiert galt. Jochheim dagegen stellt heraus, dass historisch gewaltfreie Formen der Auseinandersetzung viel zahlreicher waren. Die Entwicklung von Konzepten gewaltfreier gesellschaftlicher Konfliktaustragung hat vorrangig im Rahmen der sozialistischen und insbesondere der anarchistischen Bewegung stattgefunden. Hier wurde die bedeutendere Aufgabe im Aufbau einer neuen Gesellschaft und nicht in der Zerstörung der alten gesehen. Wenn auch – vor allem in den Niederlanden – eine Jahrhunderte zurückreichende Tradition religiös motivierter Ablehnung des Krieges und des Wehrdienstes bestanden hatte und protestantische Pastoren einen vergleichsweise höheren Anteil in der Friedens- und antimilitaristischen Bewegung ausmachten, als dies etwa in Deutschland der Fall war, so weist Jochheim doch darauf hin, dass die Entwicklung einer Theorie der Gewaltfreiheit voraussetzt, „dass man die gesellschaftliche Realität auch als einen sozialen Konflikt begriff“, wie dies in sozialistischen und anarchistischen Zusammenhängen gegeben war.

Gegen den sozialdemokratischen Militarismus des „Volksheers“

Viele Sozialist*innen, vor allem in Deutschland, kritisierten den Militarismus nur im Zusammenhang der kapitalistischen Gesellschaft und des bürgerlichen Staates, sie wollten die Institution des Militärs nicht abschaffen, sondern reformieren bzw. demokratisieren („Volksheer“). Die Auseinandersetzungen hierüber, etwa zwischen dem niederländischen Anarchisten Ferdinand Domela Nieuwenhuis und dem deutschen Sozialisten Karl Liebknecht, nehmen in Publikationen und Kongressen seit der Jahrhundertwende bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs breiten Raum ein. Regelmäßig werden bei internationalen Kongressen Anträge abgelehnt, die einen drohenden Krieg durch Arbeitsniederlegung (dieser Gedanke stammt bereits aus dem Jahre 1868) bis hin zum Generalstreik und durch die vor allem von christlichen Anarchist*innen propagierte Kriegsdienstverweigerung zu verhindern suchen. Etwas plakativ könnte die Forderung der Sozialdemokratie als „Statt die Waffen nieder – die Waffen hierher, zu uns!“ formuliert werden.
Gewaltlosigkeit wurde vielfach als Passivität, Wehrlosigkeit oder gar Schwäche und Unmännlichkeit verstanden. Gerade in den Niederlanden wurde aber die Bedeutung einer „neuen“ oder „geistigen“ Wehrhaftigkeit gesehen.
Jochheim betont dabei, dass die Entwicklung der Waffentechnik zu einer wachsenden Überlegenheit des Militärs führte, während die zunehmende ökonomische und soziale Verflechtung der Gesellschaft Ansatzpunkte für zivile Formen des Widerstands bot, besonders in Form der Nichtzusammenarbeit bei der Produktion von Waffen und kriegswichtigen Gütern, im Transportwesen und bei der Entwicklung von chemischen Kampfstoffen.

Auseinandersetzung mit Tolstois Ethik des Gewaltverzichts

Bart de Ligt, der als Pastor 1917 aus der Kirche ausgetreten war, um sich ganz seinen antimilitaristischen Aktivitäten zu widmen, systematisierte diese Ansätze in seinem „Kampfplan gegen Krieg und Kriegsvorbereitung“ („Plan de Ligt“), der neben der industriellen Dienstverweigerung auch die sog. technische Kriegsbekämpfung (statt des Begriffs Sabotage) sowie die „moralische Dienstverweigerung“ umfasst.
Ausführlich werden Henriette Roland Holsts Auseinandersetzung mit Tolstois Gewaltverzichtsethik (2) und ihr eigener Gewaltvorbehalt sowie ihr Spannungsverhältnis zu ihrer eigenen Partei, der niederländischen Sozialdemokratie (SDAP), bis zu ihrem Austritt 1912 dargestellt. Sie hat ihre Positionen in unterschiedlichen historischen Situationen immer wieder überprüft, angepasst und angesichts der historischen Herausforderungen, etwa nach der Niederschlagung des Wiener Arbeiteraufstands 1934, neu entwickelt.
Die Diskussionen und Aktivitäten der verschiedenen Gruppen und Richtungen werden in vielfältige historische Bezüge eingeordnet – sei es der antikoloniale Kampf, der Ruhrkampf, die Arbeiteraufstände der Dreißigerjahre in Wien und Amsterdam, sei es der Kampf um die Unabhängigkeit Indiens und die Lehren Gandhis, die spanische Revolution und schließlich die Pazifistische Volksverteidigung und die Versuche ihrer praktischen Umsetzung in den besetzten Niederlanden.
Die Mittel dieser „Pazifistischen Volksverteidigung“ waren die Verweigerung der Mitarbeit, die eigene dynamische Weiterarbeit und die Konfrontation der Invasoren, hierbei etwa die Unbrauchbarmachung des technischen Verwaltungsapparats, die Ver- oder Behinderung von Munitionstransporten und der Waffenproduktion, die Verweigerung von Abgaben u. a.
Beeindruckend sind die Darstellung der Widerstandsgruppe „De Vonk“ („Der Funke“ nach dem Namen ihrer Zeitschrift) und ihrer kreativen Aktionen gegen die Judenverfolgung. Die Gruppe verteilte u. a. Papiersterne mit der Aufschrift „Juden und Nichtjuden – vereint im Kampf“. Im Gegensatz zu den größeren niederländischen Widerstandsgruppen kam für sie Gewalt nur in Notwehrsituationen infrage, sie hielten auch bis zum Ende der deutschen Besatzung an ihren Prinzipien fest. Umso erstaunlicher ist es, dass die in den Siebzigerjahren neu aufgenommenen Überlegungen zu gewaltfreien Widerstandsformen sich nicht an diesen bedeutenden historischen Vorgänger*innen orientiert haben. Jochheim hat sich diesem Vergessen widersetzt.

(1) Vgl. Clara Wichmann, Der Weg der Befreiung, Verlag Weber, Zucht & Co., Kassel 1989, erhältlich über die Webseite des Verlags Graswurzelrevolution.
(2) Vgl. Dennis de Lange, Die Revolution bist du. Der Tolstojanismus als soziale Bewegung in den Niederlanden, Verlag Graswurzelrevolution, 2016