gesundheitspolitik

Das Polikliniksyndikat

Linke Gesundheitsprojekte statt Gewinnorientierung

| Annika, Poliklinik Syndikat

Foto: poliklinik-syndikat.org

Das Polikliniksyndikat ist ein Zusammenschluss verschiedener Gesundheitskollektive in Deutschland, welche es sich zur Aufgabe gemacht haben linke Gesundheitspolitik nicht nur zu denken, sondern die entwickelten Ideen direkt praktisch umzusetzen. Das wirft Fragen auf: Wie kann diese andere Art der Gesundheitsversorgung in der Realität aussehen? Wie können emanzipatorische Gesundheitsgruppen organisiert sein? Und warum ist eine neue Form der Gesundheitsversorgung überhaupt notwendig? Dieser Artikel gibt einen Einblick in Ideen und Arbeit des Polikliniksyndikats, um die obenstehenden Frage zu beantworten und aufzuzeigen, dass Veränderung im Gesundheitssystem nicht nur nötig, sondern auch möglich ist.

Die aktuelle Lage im Gesundheitssystem

Neoliberale Ideen sind in den letzten Jahrzehnten über wirtschaftliche Grenzen hinweg in verschiedenste gesellschaftliche Bereiche eingedrungen. Auch im Gesundheitssystem verbreitete sich die Idee, dass Menschen Eigenverantwortung für ihre Gesundheit oder Krankheit tragen. Individuelle Entscheidungen (Wie viele Kippen rauche ich am Tag? Mache ich diese Woche Yoga?) gelten als ausschlaggebend für den Zustand unseres körperlichen Wohlbefindens.
Gesellschaftliche Lebensumstände hingegen werden derzeit weder in der Lehre angehender Mediziner*innen noch in der medizinischen Praxis als Ursachen für Krankheit in die Behandlung von Individuen mit einbezogen. Dabei ist die Erkenntnis, dass Lebensumstände Menschen krank machen, keine neue. Gesellschaftliche Bedingungen von Gesundheit, also politische und soziale Faktoren, wie Mietsteigerungen, geringes Einkommen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Rassismus oder Altersarmut, beeinflussen die Gesundheit von Menschen nachweislich stärker als die Qualität der medizinischen Versorgung allein.
Ein Beispiel: Menschen mit geringem sozioökonomischem Status haben nicht nur eine geringere Lebenserwartung, sondern schätzen ihre eigene Gesundheit auch schlechter ein als Vergleichsgruppen und fühlen sich häufiger gesundheitlich eingeschränkt in der Alltagsgestaltung.
Um den Einfluss gesellschaftlicher Lebensumstände im Gesundheitssystem mitzudenken, fordert die WHO (World Health Organization) bereits seit der Konferenz von Alma-Ata im Jahr 1978, Gesundheitsversorgung am Konzept der „Primary Health Care“ (PHC) zu orientieren. Dieses Konzept zielt auf eine Versorgung ab, die auf Prävention basiert und leicht zugänglich ist, wie auch auf die Verbesserung der konkreten Lebensumstände. Um dieses Ziel zu verwirklichen, entwickelte die WHO den Ansatz „Health in all Policies“: Jede politische Entscheidung soll in ihren Auswirkungen gesundheitsfördernd, mindestens aber nicht gesundheitsschädigend sein. So wird sowohl die bedeutende Rolle von Politikprogrammen für die Gesundheit der Bevölkerung bekräftigt, ebenso wie die Relevanz der Zusammenarbeit vieler Akteur*innen in allen Politikbereichen.
In Gegensatz zu diesem allumfassenden gesundheitsfördernden Ansatz der WHO steht die derzeitige medizinische Versorgung im Gesundheitssystem. An der werden nicht erst seit der Coronapandemie deutliche Mängel sichtbar: Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens führt zu massiven Frustration und Überarbeitung des Personals und zu Fehl-, Unterversorgung von Patient*innen, während die Gewinne der Krankenhauskonzerne steigen. So generierte beispielsweise der größte private Krankenhauskonzern in Deutschland seit den 2000er Jahren riesige Gewinne parallel zum Anstieg der Patient*innenanzahl pro Pflegekraft.

Unsere Utopie: Solidarische Stadtteilgesundheitszentren

Solidarische Gesundheitszentren sind der Versuch, unser Verständnis von Gesundheit praktisch umzusetzen. Der Grundgedanke ist klar: Wir wollen an den Lebensverhältnissen der Menschen ansetzen und soziale wie gesundheitliche Ungleichheiten bekämpfen. Gleichzeitig soll eine solidarische Alternative für das Gesundheitssystem mit dessen Missstände entwickelt werden.
Wir glauben, dass gute Gesundheitsversorgung nicht profitorientiert, sondern nur interdisziplinär, gemeinnützig und demokratisch stattfinden kann. Deshalb wollen wir Teil eines solidarischen Gesundheitssystems sein, eine neue Form der ambulanten Versorgung etablieren und mit unserer Arbeit unseren Teil zur Verminderung sozialer Ungleichheit beitragen.

Entscheidungen über die inhaltliche und organisatorische Arbeit des Syndikats treffen wir basisdemokratisch und konsensuell.

Solidarische Stadtteilgesundheitszentren setzen dieses Ziel durch verschiedene Arbeitsweisen um. Zum einen werden die krankmachenden gesellschaftlichen Verhältnisse in den Fokus genommen. Es werden Beziehungen im Stadtteil aufgebaut und in Form von Gemeinwesenarbeit wird im direktem Lebensumfeld von Patient*innen verhältnispräventiv, also an der Verbesserung der Lebensumstände, gearbeitet. Gleichzeitig findet medizinische Versorgung in niedrigschwellig erreichbaren Stadtteilgesundheitszentren statt, in welchen multiprofessionell zusammengearbeitet wird. Das führt dazu, dass Patient*innen je nach Bedarf psychologische, juristische, medizinische (ärztliche und Pflegeberatung) oder soziale Beratung in Anspruch nehmen können und so problemorientiert und ganzheitlich betreut werden. Das bedeutet auch, dass ärztliches und nicht-ärztliches medizinisches Personal, Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen, Hebammen, Stadtteilarbeiter*innen, Physiotherapeut*innen und viele weitere Professionen gemeinsam an einem Fall arbeiten können. In die Arbeit werden außerdem Menschen aus den Stadtteilen einbezogen, um von deren Expertise zum Stadtteil und den Lebensbedingungen lernen zu können. Gemeinsam werden partizipativ und regelmäßig unsere Methoden evaluiert und weiterentwickelt.
Die Stadtteilgesundheitszentren sind allerdings nicht nur ein Ort, an dem Menschen aus unseren Kollektiven arbeiten, sie sind ebenfalls eine Struktur, in der Nachbar*innen und Patient*innen sich zu gemeinsamen Problemlagen selbst organisieren können, um kollektive Lösungen zu finden. Selbstorganisation ist für uns ein Schritt in Richtung Transformation und Auflösen von Hierarchien.

Der Dachverband – Das Polikliniksyndikat

Um in den einzelnen Städten gute Gesundheitsarbeit im Stadtteil leisten zu können und eine konkrete Praxis zu entwickeln, ist es notwendig, dass die gegebenen finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen von außen unserer Arbeit nicht im Weg stehen. Dies ist jedoch derzeit leider in einigen Bereichen der Fall. So können beispielsweise interdisziplinäre Fallbesprechungen von Ärzt*innen nicht mit Krankenkassen abgerechnet werden und auch zur Zusammenarbeit verschiedener Professionen gibt es einschränkende Regelungen.
Da sich diese Rahmenbedingungen nicht allein auf lokaler Ebene gestalten lassen, sind die verschiedenen Gesundheitskollektive Deutschlands im Polikliniksyndikat organisiert. Derzeit sind Gruppen aus den Städten Berlin, Hamburg, Dresden, Köln, Freiburg, Jena und Leipzig aktiver Teil dieser überregionalen Struktur. Ziel des Polikliniksyndikats ist es, unsere Ideen in die Politik und zu den politischen Entscheidungsträger*innen sowie in die Öffentlichkeit zu tragen. Durch Veranstaltungen, Vorträge, Konferenzen und das Unterstützen und (Mit-)Organisieren von Demonstrationen oder Streiks wollen wir die von uns entwickelten alternativen Konzepte zum aktuellen Gesundheitssystem an gesellschaftliche und politische Akteur*innen herantragen und so politische Forderungen zur Verbesserung des Gesundheitssystems durchsetzen. Ebenfalls wollen wir auf unser Verständnis von Gesundheit und die Relevanz von Lebensumständen für die Gesundheit einzelner aufmerksam machen.
Nicht in allen genannten Städten gibt es bereits versorgende Gesundheitszentren, einige Gruppen befinden sich noch im Aufbau dieser. Eine weitere wichtige Aufgabe des Syndikats besteht deshalb darin Erfahrungs- und Wissensaustausch zwischen den einzelnen Städten zu ermöglichen. In einem zweimal jährlich stattfindenden Gesamttreffen werden Workshops zu praktischem Wissen der verschiedenen Handlungsbereiche der Stadtteilgesundheitszentren angeboten und dadurch Erfahrungen geteilt.
Die Art und Weise, wie wir miteinander arbeiten und leben, wollen wir sowohl im Alltag der Zentren verändern wie auch in unserer gemeinsamen Arbeit im Syndikat. Entscheidungen über die inhaltliche und organisatorische Arbeit des Syndikats treffen wir basisdemokratisch und konsensuell. Dafür gibt es ein regelmäßiges Syndikatsplenum, in welches jede Mitgliedsgruppe Delegierte entsendet. Weitere Arbeit des Syndikats wird in überregionalen Arbeitsgruppen geleistet, welche sich mit verschiedenen Themen wie bspw. Lobbyarbeit oder der Einbindung neuer Gruppen beschäftigen.
Entstehende Gruppen werden dadurch vom Syndikat begleitet, indem z. B. Wissen, Erfahrung und Informationen zusammengetragen und Austausch über die Arbeit ermöglicht werden.

Durch die Arbeit des Syndikats an verschiedenen, jedoch zusammenhängenden Problemen der Gesundheitsversorgung, sowie durch eine weitreichende Vernetzung und Zusammenarbeit mit anderen Gruppen und Organisationen aus emanzipatorischen und sozialen Bewegungen wollen wir das schaffen, was im Alltag oft unmöglich scheint: Gemeinsam eine bessere Welt aufbauen, in der ein gutes und gesundes Leben für alle möglich ist.

Weitere Infos:
www.poliklinik-syndikat.org

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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