Spanischer Anarchismus und anarchistische Geographie

Anarchistische Publikationen im Unrast Verlag

| Maurice Schuhmann

Marina Ginestà: Andere werden folgen…. Ein Roman, Unrast Verlag, Münster 2022, 144 Seiten, 14 Euro, ISBN 978-3-89771-652-0

David Graeber: Einen Westen hat es nie gegeben & Fragmente einer anarchistischen Anthropologie, Unrast Verlag, Münster 2022, 204 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-89771-193-8

Das Bild der damals 17jährigen Milizionärin Maria Ginestà (1919-2014), die eine sowjetische Delegation in Spanien als Dolmetscherin begleitete, ist eine ikonographische Aufnahme aus der Zeit des Bürgerkrieges und der Sozialen Revolution in Spanien. Gut 40 Jahre nachdem dieses Foto entstand, d.h. zur Zeit des Todes von General Franco und dem Beginn der Transition in Spanien, veröffentlichte die im Exil lebende Anarchistin Ginestà den Roman, der u.a. mit dem anarchistischen Salvador-Segui-Preis ausgezeichnet wurde und jetzt erstmalig in deutscher Sprache vorliegt. Die Geschichte, die sie erzählt, ist die zweier Familien in Barcelona der 1920er Jahre, einer durch Streiks, Aufstände und gewaltsame Unterdrückung revolutionärer Strömungen geprägten Zeit. Stilistisch ist der Roman leider etwas schwach, aber als Zeitdokument um so interessanter. Hier schreibt eine Frau, die Ahnung davon hat und die Zeit fast selbst noch erlebt hat. Als Vorwort gibt es eine Einleitung von Bernard Maris, einem bereits verstorbenen Redakteur von Charlie Hebdo, der den Roman zeitgeschichtlich einordnet. Abschließend gibt es noch eine historische Einordnung durch den Sohn der Autorin, Manuel Periánas-Ginestà. Eine Chronologie des spanischen Anarchismus und ein Personenverzeichnis runden den Band ab.

Der zweite Band ist von David Graeber. Das Vorwort hierfür verfasste die Autorin und Associate Professor for Human Rights an der LSE London Ayca Cubukcu, einer Hochschule, an der Graeber selber lehrte. Sie kontextualisiert die zwei abgedruckten Texte von ihm und schließt ihre Einordnung des Anarchisten mit den programmatischen Worten: „Wir sollten ihn daher nicht durch Vergötterung oder Kanonisierung versteinern, sondern stattdessen seine Beiträge zu Anthropologie und Anarchismus gleichermaßen als Einladungen zum Denken sehen.“ (S. 16). Dieser Ansatz entspricht dem fragmentarischen Charakter der beiden Texte.
Die beiden Beiträge des US-amerikanischen Kulturanthropologen und politischen Aktivisten David Graeber (1961-2020) – „Einen Westen hat es nie gegeben“ (2007) und „Fragmente einer anarchistischen Anthropologie“ (2004) – wurden bereits beim Peter Hammer Verlag veröffentlicht. Für diese vorliegende Publikation wurden die Übersetzungen beider Beiträge noch einmal überarbeitet und aktualisiert. Der fragmentarisch wirkende Text über anarchistische Anthropologie ist einer der einflussreichsten Texte Graebers in der zeitgenössischen Rezeption, weist aber immer noch eine hohe Aktualität auf. Eingangs merkt er an: „Was folgt, ist eine Reihe von Gedanken und Skizzen zu möglichen Theorien und Kleinmanifesten.“ (S. 17). Dabei thematisiert er u.a. auch die Gründe, warum es kaum eine Auseinandersetzung mit Anarchismus im universitären Raum gibt. Gleichzeitig zeigt er am Beispiel der Kulturanthropologie auf, dass es Überscheidungen und Ähnlichkeiten zwischen klassischen kulturanthropologischen Ansätzen und anarchistischer Theorie gibt – z. B. am Beispiel Marcel Mauss, was eine Auseinandersetzung mit dem Themenfeld fruchtbar machen würde. Dabei schwingt bei ihm sympathischer Weise auch stets eine klare Abgrenzung des Anarchismus gegenüber dem Marxismus mit. Weitere Themen sind: Gegenmacht, Konzept der Revolution, Anti-Utopismus, Globalisierung, Kampf gegen Arbeit usw.. Es handelt sich um eine Art Steinbruch von Ideen für einen aktuellen Anarchismus. Graeber beendet jene Fragmente mit der Aussage: „Ich bin der Ansicht, die Anthropolg_innen sollten mit Ihnen [den Anarchist_innen] gemeinsame Sache machen. Wir wissen um Mittel und Möglichkeiten, die von enormer Bedeutung für die menschliche Freiheit sind. Fangen wir damit an, einige Verantwortung dafür zu übernehmen.“ (S. 123).
Der zweite Beitrag von Graeber mit dem Untertitel „Die Demokratie erwächst aus den Zwischenräumen“ entstand laut eigener Angaben aus Graebers „Erfahrungen mit der alternativen Globalisierungsbewegung“ (S. 125). In diesem Beitrag diskutiert er das Konzept der Demokratie – unter der Perspektive, dieses Konzept als rein westlich zu hinterfragen. Er zeigt sich dabei als reflektierter und kompetenter politischer Theoretiker.
Alles in allem zwei empfehlenswerte Titel aus dem Hause Unrast!

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