es wird ein lächeln sein

Ein neuer Blick auf den Anarchismus in Österreich

Ein Gespräch mit dem Wirtschaftswissenschaftler Gerhard Senft

| Andreas Gautsch

Gerhard Senft - Foto: Andreas Gautsch

Andreas Gautsch: Beginnen wir mit einer grundlegenden Frage: Wer war eigentlich Pierre Ramus?

Gerhard Senft: Für die Geschichte des Anarchismus in Österreich ist Ramus von herausragender Bedeutung. Seine Prägung hatte er in den USA erhalten, wo er bereits als junger Mensch in anarchistische Kreise geraten war. Rudolf Großmann (1882–1942), wie Pierre Ramus eigentlich hieß, stammte aus einem handwerklichen Haushalt in Wien. Bereits als Jugendlicher aufmüpfig, schickte ihn seine Familie als „Besserungsmaßnahme“ zu Verwandten nach Amerika. Der Umstand, dass dort der Kapitalismus gerade in ein neues Stadium eintrat, trug nichts zu einer nachhaltigen Verbesserung der Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft bei. Abgestoßen vom Elend in den industriellen Ballungszentren, begann sich Ramus innerhalb proletarischer Organisationen zu engagieren. Um einem Verfahren nach der Niederschlagung einer Streikbewegung zu entgehen, verließ er die USA und kehrte über Umwege nach Österreich zurück. Hier fand er direkten Anschluss an ein bestehendes oppositionelles Sozialmilieu. Vor allem publizistisch aktiv, entwickelte er eine Nähe zum revolutionären Syndikalismus. Wesentlich erschien ihm auch die Ideenwelt einer libertären Pädagogik, in der Hauptsache aber trat er als Antimilitarist hervor. In der Zwischenkriegszeit war es vor allem die Kommunebewegung, die Ramus und seine Anhängerschaft begeisterte. Im Jahr 1938 gelang es ihm, sich dem Zugriff des NS-Regimes zu entziehen, einen sicheren Zielort erreichte er jedoch nicht mehr. Er verstarb während der Überfahrt an Bord jenes Schiffes, das ihn nach Mexiko bringen sollte.

Gautsch: Welche Bedeutung könnte Ramus jedoch für die heutige Zeit haben?

Senft: Ramus war weniger ein Theoretiker als ein Multiplikator anarchistischer Ansätze. Als solcher hat er auch einiges vorausgedacht, das heute etwa unter dem Begriff Commons ventiliert wird. Dabei geht es um selbstorganisierte Prozesse, um ein bedarfsgerechtes Produzieren. In diesem Zusammenhang wären auch Open-Source-Initiativen zu erwähnen. Ramus war letztendlich überzeugt, dass der Staat und der kapitalistische Markt keine Sicherheiten zu bieten imstande sind – die Kommune aber funktioniert immer, da die Menschen im direkten Kontakt aufeinander angewiesen seien und sie sich auch respektvoller begegnen. Zentral war bei Ramus der Gedanke, sich dem kapitalistisch-militaristischen Getriebe zu entziehen, indem man schlicht die Gefolgschaft verweigert. Das beginnt damit, keinen (medialen) Manipulationen auf den Leim zu gehen, das unabhängige Denken zu bewahren und mutig eine eigenständige Position zu vertreten. Besonders in Zeiten des Krieges und der Aufrüstung scheint dies angebracht. Ramus hat danach gehandelt und dabei bewusst die Ächtung durch Teile der Gesellschaft, Gefängnisaufenthalte und die Verbannung in Kauf genommen.

Gautsch: Die Palette seiner Arbeiten und Schriften ist sehr umfangreich. Sie umfasst Theaterstücke, einen Roman, theoretische Arbeiten, biographische Schriften über bekannte Anarchist:innen, historische und einführende Arbeiten zum Thema Anarchismus und unzählige Artikel und Beiträge, die er für diverse anarchistische Zeitschriften verfasst hat. Was wird in den Gesammelten Schriften alles zu finden sein und wie bereitest du das auf?

Senft: Mit der Frage ist ein gewichtiges Problem angeklungen: Wie kann es gelingen, die unglaubliche Vielfalt des Ramusʼschen Œuvres zu bewältigen? Es bleibt wohl kein anderer Weg, als das Gesamtwerk eingehend zu sondieren, dabei zu versuchen, das vorhandene Material sinngebend zusammenzustellen, und zudem ausführlich zu kommentieren. Es reicht zweifellos nicht, etwa Texte über William Godwin, Michail Bakunin, Francisco Ferrer u.a. perlenartig aufzureihen und abzudrucken. Im ersten Band der Gesamtausgabe war es daher wichtig, eine zumindest komprimierte Geschichte des modernen Anarchismus beizufügen, um so eine historische Einordnung der behandelten Personen zu ermöglichen. Es ist ja auch nicht davon auszugehen, dass die geschlossene Leserschaft firm in der Geschichte der libertären Bewegung ist. Im zweiten Band ging es darum, Ramusʼ Position hinsichtlich einer staatlichen Rechtsordnung herauszuarbeiten. Ramus selbst hat zu dem Themenbereich sehr viel hinterlassen. In seiner Auseinandersetzung z. B. mit der Chicagoer Haymarket-Affäre 1887, mit den Hinweisen zum Prozessverlauf gegen die Mörder Gustav Landauers oder anhand des Falles Sacco und Vanzetti in den 1920er Jahren, hat er zu zeigen versucht, dass Recht absolut nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat, dass das Rechtswesen stets als Teil einer Herrschaftsordnung zu begreifen ist. Auch in diesem Band schien es unumgänglich, einleitend auf den jeweiligen geschichtlichen Kontext einzugehen.

Gautsch: Gerade eben ist der dritte Teil der Werkausgabe erschienen. Welchen Themenkreis widmet sich dieser Band?

Senft: Er enthält den Versuch, das Wirken Ramusʼ in unterschiedlichen Bereichen auszuleuchten: Dabei geht es um die Frage internationaler Zusammenschlüsse, um die Gestaltung revolutionärer Gewerkschaftsarbeit, um die Agitation auf dem Lande und um seine Beiträge zum Kulturkampf (Stichwort: Frauenrechte). Der vierte Band, der im nächsten Jahr erscheinen wird, wird Ramusʼ kritische Stellungnahmen zu den autoritären sozialistischen Strömungen beinhalten. Ich denke, dass sich mit kommentierten Materialiensammlungen dieser Art ein neuer Blick auf den modernen Anarchismus in Österreich ergeben wird. Noch immer dominieren in diesem Zusammenhang falsche Vorstellungen, z. B. Anarchismus als Terrororganisation. Dabei zeigt gerade die Geschichte der libertären Bewegung im Raum der Donaumonarchie ein anderes Bild. Die Phase der Attentate beschränkte sich wesentlich auf die 1870er Jahre, wichtiger waren zweifellos die Aktivitäten im ländlichen Bereich in Ungarn in den 1880er Jahren (Erntestreiks, Bodenbesetzungen); das Aufkommen des Anarchosyndikalismus, welcher für die gemäßigte Sozialdemokratie eine Herausforderung darstellte. Nicht vergessen sollten wir die Anarcho-Bohème in den urbanen Räumen, die in erheblichem Ausmaß aufklärerisch gewirkt hat. Die Zentren des Anarchismus in Österreich-Ungarn waren Wien, Budapest, Prag und Triest

Gautsch: Du selbst hast über viele Jahre an der Wirtschaftsuniversität in Wien gelehrt und geforscht. Wie erging es dir als Anarchist an dieser Uni, die ja eher für ihre liberal bis neoliberalen Positionen bekannt ist?

Senft: Die Wirtschaftsuniversität hatte, als ich zu Beginn der 1980er Jahre Ökonomie zu studieren begonnen habe, keine einheitliche Ausrichtung. Dominierend waren liberalkonservative Kräfte, es gab noch einzelne Vertreter der alten Othmar Spann-Schule (Stichwort: Ständestaat), spürbar war aber auch bereits das Erstarken einer sozialdemokratisch-keynesianischen Richtung. Mein Glück war, dass sich der kulturelle Umbruch der 1960er/70er Jahre in Österreich bis in meine Studienzeit hinein erstreckte, und so grundsätzlich eine Bereitschaft vorhanden war, „exotische“ Ideenwelten zuzulassen. Außerdem war ein „wildes Denken“ in Studierendenkreisen damals sehr verbreitet. Ich habe mich mit meinen Ansätzen also nie besonders als Außenseiter empfunden, habe eher versucht, in Lehrveranstaltungen mit provokanten Wortmeldungen hervorzutreten, und habe daher nach Studienabschluss rasch eine erste Assistentenstelle erhalten. – Übriges in einer Abteilung des Volkswirtschaftsinstituts, die der marxistischen Seite zugerechnet wurde. Danach gelang es mir, mich zu habilitieren und mich dadurch langfristig zu setteln.

Gautsch: Welche aktuellen ökonomischen Ansätze oder Diskussionen findest du gerade interessant? Welche haben für dich das Potential, den gegenwärtigen multiplen Krisen, zumindest inhaltlich etwas entgegenzusetzen?

Senft: Auch wenn der Anarchismus für seine Theorieoffenheit im Bereich der Ökonomie bekannt ist, in seiner programmatischen Ausrichtung ist er klar: Zentral ist der antimonopolistische Gedanke, es geht also um die Eliminierung von Machtpositionen in der Wirtschaft. Wenn z. B. hinsichtlich eines unvermehrbaren Faktors wie Grund und Boden (verhältnismäßig) Wenige verfügungsberechtigt sind, wie dies in einer Privateigentumsordnung der Fall ist, leidet die Gesellschaft unter steigenden Bodenrenten und -preisen und damit unter explodierenden Mieten. Hier könnte also eine Kommunalisierung Abhilfe schaffen. Ähnliches gilt auch für andere Bereiche, etwa den Sektor der Produktionsmittel, wo eine verstärkte Arbeiter:innenkontrolle ganz andere Beschäftigungsverhältnisse herzustellen imstande wäre. Die Herrschaft des rentierenden Kapitals hat ja gerade hier grauenhafte Entwicklungen hervorgebracht. Im Wesentlichen geht es also darum, dass sich die Menschen wieder mehr Spielräume für ihr eigenes Leben verschaffen können. Das funktioniert am besten im lokalen Rahmen. Dezentralisierung, direkte Demokratie und föderativer Aufbau erscheinen damit unverzichtbar. Der libertäre Kommunalismus einer Janet Biehl und eines Murray Bookchin bietet in dem Zusammenhang wertvolle Ansätze. Wir müssen uns letztlich damit abfinden: der Markt und der Staat sind Versager. Man denke nur an die Finanzmarktkrise 2008 und ihre Folgewirkungen oder an die unerträgliche Kriegstreiberei der Staatsführungen heute, die auch die Hauptursache der Teuerungswelle ist.

Gautsch: Du bist in der Pierre-Ramus-Gesellschaft aktiv. Gibt es neben dem großen Publikationsprojekt weitere Pläne?

Senft: Nun, wir haben in der Vergangenheit zehn gut besuchte Symposien organisiert und eine Reihe weiterer Vorhaben verwirklicht. Im Zuge ihrer Aktivitäten sind der Ramus-Gesellschaft mehrere Nachlässe zugewachsen. Z. B. haben wir einiges über den Freiwirtschaftler Franz Newerkla (1896–1973) gesammelt, oder auch die Tagebuchaufzeichnungen des Pazifisten Otto Friedländer (1889–1963). Aus letzteren könnte sich ein interessantes Publikationsprojekt ergeben, weil darin etwa die Pogromnacht in Wien vom 9./10. November 1938 aus der Sicht eines Verfolgten geschildert wird. Bei Monte Verità möchten wir heuer noch die „Enteignung“ von Peter Kropotkin in einer Neuübersetzung herausbringen. Außerdem wäre es reizvoll, Rudolf Rockers Buch „Pioneers of American Freedom“ endlich in einer kommentierten deutschen Fassung zu veröffentlichen. Dies jedoch bedarf sicher noch einer längeren Planungsphase.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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