Im Kapitalismus gestaltet sich die Umsetzung anarchistischer Praxis als schwierig. Wie können wir die Utopie einer gewaltfreien, herrschaftslosen Gesellschaft verwirklichen? Die Gesellschaft von unten mit Hilfe Direkter Gewaltfreier Aktionen umzuwälzen, das ist die Idee der Graswurzelrevolution. Wir dokumentieren Auszüge eines frei gehaltenen Anarchismus-Vortrags (1) von GWR-Redakteur Bernd Drücke. (GWR-Red.)
Der Begriff „Anarchie“ kommt aus der griechischen Antike und bedeutet „ohne Herrschaft“. Es war ursprünglich ein weitgehend neutraler Begriff, mit dem primär die Zeit zwischen den Wahlen gemeint war. Der Begriff wurde augenscheinlich neutral verwendet. Er hat dann in den mehr als zweitausend Jahren danach eine starke Wendung erfahren, oft als negativ besetzter, manchmal aber auch als durchaus positiv besetzter Begriff.
Der gewaltfreie Anarchist und Antimilitarist Gustav Landauer hat sein Verständnis von Anarchie in der anarchistischen Zeitschrift „Der Sozialist“ vom 15. Juli 1911 so auf den Punkt gebracht: „Die Anarchie ist der Ausdruck für die Befreiung des Menschen vom Staatsgötzen, vom Kirchengötzen, vom Kapitalgötzen; Sozialismus ist der Ausdruck für die wahre echte Verbindung zwischen den Menschen, die echt ist, weil sie aus dem individuellen Geist erwächst, weil sie als das ewig Gleiche und Eine im Geist des einzelnen, als lebendige Idee blüht, weil sie zwischen den Menschen als freier Bund ersteht.“
Die Begriffe „Anarchist“ und „Anarchistin“ sind längst nicht so alt wie das Wort „Anarchie“. Diese Begriffe stammen aus der französischen Revolutionszeit. In dieser Zeit war es oft so, dass Rechte Linke als Anarchisten beschimpft haben und Linke Rechte, was damit zusammenhängt, dass „Anarchie“ immer auch als Schmähbegriff verwendet wurde, als Synonym für Chaos und Terror. Diese Vorstellung ist eng mit der bis heute dominanten Vorstellung verbunden, dass wir eine Gesellschaft brauchen, die von oben nach unten strukturiert ist, also auf Herrschaft, auf Befehl und Gehorsam aufbaut. Das Gegenmodell wäre eine Gesellschaft von Gleichen unter Gleichen, die egalitär organisiert ist und nach den Prinzipien der Gegenseitigen Hilfe und Freien Assoziation funktioniert, wie es in vielen Gesellschaften nicht nur vor der neolithischen Revolution der Fall war.
Es gab schon früh anarchistische Gesellschaften, die nicht auf Herrschaft aufgebaut waren, die ein gleichberechtigtes emanzipatorisches Leben für alle versucht und die im Einklang mit der Natur gelebt haben. Davon sind wir heute leider weit entfernt. Dabei ist die Idee einer herrschaftsfreien Gesellschaft unglaublich wichtig, auch um die kommenden Krisen zu bewältigen. Wir stehen kurz vor dem Abgrund. Die Menschheit geht schnurstracks auf den Untergang zu, wenn der Kapitalismus triumphiert und die Profitmaximierung mächtiger Konzerne weiterhin wichtiger zu sein scheint als das Überleben der Arten, das Klima und eine lebenswerte Zukunft für alle. Die Auswirkungen der Klimaveränderung und des Artensterbens sind Katastrophen, die für viele im globalen Norden heutzutage vielleicht noch nicht so bedrohlich wirken, die aber jetzt schon vor allem für viele Menschen im globalen Süden verheerend sind. Wenn die industrialisierten Länder so weitermachen, wie momentan, dann ist das nicht nur eine die Umwelt und Natur zerstörende Entwicklung, sondern auch eine die Menschheit selbst bedrohende Entwicklung. Eine Lösung dieser Probleme sehe ich nicht in einem grünen Kapitalismus, sondern in der Abschaffung des kapitalistischen Systems, einer Abschaffung von Ausbeutung und Profitstreben, einer solidarischen, herrschaftslosen, gewaltfreien Gesellschaft, jenseits von Kapitalismus, Nationalismus und Staat.
Was macht Anarchisten und Anarchistinnen aus? Ich will, dass niemand über mich herrscht, aber ich will auch keinen beherrschen! Ich möchte eine Gesellschaft, die nicht auf Ausbeutung, Zwang und Kapitalismus aufgebaut ist, sondern auf gegenseitiger Hilfe, auf freier Assoziation, auf sozialem Handeln.
Es gibt anarchistische Erfolgsgeschichten. Sogar in Deutschland gab es große anarchistische Bewegungen, auch wenn das den meisten heute nicht bekannt ist. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es ungefähr 10.000 organisierte Lokalist:innen. Das war eine basisdemokratische, libertär-sozialistische Gewerkschaftsbewegung, die keine autoritäre Struktur haben wollte. Dadurch unterschieden sich die Lokalisten von den anderen, oft straff von oben nach unten organisierten Gewerkschaften. Die Lokalist:innen haben versucht, unter anderem durch die Propagierung des Generalstreiks und anderer direkter Aktionen, die Anarchie, die klassenlose, herrschaftsfreie Gesellschaft herbeizuführen.
Gelebte Utopien
Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurde der „Burgfrieden“ verkündet, das heißt, antimilitaristische und anarchistische Publikationen konnten nicht mehr erscheinen, nur noch als Untergrundblätter. So erschien „Der Ziegelbrenner“ von Ret Marut während des Ersten Weltkriegs als anarchistische Tarnschrift. Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und Anarchopazifisten wurden während des Ersten Weltkrieges für verrückt erklärt oder inhaftiert, weil sie sich geweigert haben, in den Krieg zu ziehen und auf Befehl andere Menschen zu erschießen. Andere wurden bewusst als „Kanonenfutter“ in die ersten Reihen geschickt. Nichtsdestotrotz haben Anarchist:innen im Ersten Weltkrieg konsequent antimilitaristische Agitation betrieben und waren eine der wenigen sozialen Kräfte, die vehement und konsequent gegen den Krieg agitiert haben. Das unterscheidet sie von den meisten anderen Gruppierungen. Das führt auch letztlich dazu, dass die Anarchosyndikalist:innen nach dem Ersten Weltkrieg für einige Jahre eine gesellschaftlich bedeutende Kraft auch in Deutschland wurden. Sie hatten große Anteile an der Novemberrevolution 1918. Es gab nach dem Ersten Weltkrieg erstmals in der Geschichte eine anarchosyndikalistische Massenbewegung auch in Deutschland, die Freie Arbeiter Union Deutschlands. Die FAUD hatte zeitweise bis zu 150.000 Mitglieder und die anarchistische Wochenzeitung „der Syndikalist“ eine Auflage von bis zu 120.000 wöchentlich, heute unvorstellbar. Es gibt heute in Deutschland überhaupt keine linke Zeitung mehr, die eine solch hohe Auflage hat.
Mit der Machtübergabe des Staates an die Nazis 1933 wurde die anarchosyndikalistische Bewegung in Deutschland zerschlagen. Der bekannte Anarchist Erich Mühsam wurde 1933, kurz nach der Machtergreifung durch die Nazis, verhaftet und 1934 auf bestialische Weise im KZ Oranienburg von NS-Schergen ermordet. So wie ihm erging es vielen. Die anarchistische Bewegung, die in den Zwanziger Jahren in Deutschland eine Blüte erlebt hat, wurde durch zwölf Jahre Nazidiktatur ausgelöscht.
Spanische Revolution
Der spanische Bürgerkrieg ist bis heute ein wichtiger Bezugspunkt für die anarchistische Bewegung weltweit. 1936 gab es in Barcelona und in vielen anderen Regionen Spaniens, vor allem in Katalonien, eine soziale Revolution. In Barcelona belagerten die Leute die Kasernen und bedrängten die Soldaten und die Polizeibeamten, sich der antifaschistischen Bewegung anzuschließen. Die CNT, die größte anarchosyndikalistische Gewerkschaft der Welt, hatte in Spanien 1936 etwa zwei Millionen Mitglieder bei einer Bevölkerungszahl von 23 Millionen, also fast jeder zehnte war zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs Mitglied der CNT. Das war eine gesellschaftliche Kraft, die mit bewirkt hat, dass sich große Teile der Bevölkerung gegen diesen faschistischen Putsch gestellt haben. Sie haben Blockaden errichtet, Barrikaden aufgebaut und sich zum Teil auch bewaffnet, obwohl die Anarchisten eigentlich den bewaffneten Kampf abgelehnt haben, aber in dem Fall ging es um die Selbstverteidigung der Republik gegen eine faschistische Diktatur. Die Motivation des bewaffneten Kampfes rührte auch daher, dass jeder Mensch, der nach Deutschland und nach Italien geschaut hat, wusste, was es bedeutet, wenn sich eine Demokratie in einen faschistischen Staat verwandelt, nämlich die totale Zerstörung sozialer Bewegungen und aller emanzipatorischen Kräfte. Tatsächlich gelang es, in großen Teilen Spaniens eine soziale Revolution umzusetzen. In den anarchistischen Gebieten wurden über dreitausend freie „Francisco-Ferrer-Schulen“ gegründet, ein beispielloses Alphabetisierungsprogramm, durch das Erwachsene und Kinder Lesen und Schreiben gelernt haben. Es gab viele emanzipatorische, anarchistische Zeitungen, Zeitschriften und Literaturblätter, eine zuvor unvorstellbare kulturelle Vielfalt.
In Teilen Spaniens war „Der kurze Sommer der Anarchie“, wie ihn Enzensberger (1972) in seinem besten Buch beschrieben hat, Realität. Es glückte, große Teile der Gesellschaft von unten her umzuwälzen. Die Hotels Barcelonas, wo vor der Revolution nur Reiche verkehren konnten, wurden in Volksküchen verwandelt, in denen die Bevölkerung gemeinsam essen konnte. Viele Kirchen wurden zu Krankenhäusern. Die Straßenbahnen wurden vergesellschaftet und mit schwarz-roten Symbolen der anarchosyndikalistischen CNT und der anarchistischen FAI versehen. Großgrundbesitzer und Chefs wurden vertrieben, Landwirtschaft und Betriebe kollektiviert. Trotz Bürgerkriegsbedingungen in weiten Teilen Spaniens wurde versucht, die Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft soweit wie möglich in die Tat umzusetzen.
Der Bürgerkrieg dauerte drei Jahre, die Spanische Revolution war aber im Grunde nur ein kurzer Sommer der Anarchie. Nach dem Sommer 1936 fand eine Militarisierung statt und im Bürgerkrieg gewannen die stalinistischen Kräfte immer mehr die Oberhand, was damit zusammenhing, dass keiner die anarchosyndikalistischen Kräfte und auch nicht die demokratische Regierung unterstützen wollte, auch Frankreich nicht. Letztlich war Stalin der, der Waffen lieferte, die er sich im Tausch gegen den Goldschatz der spanischen Republik abtrotzen ließ. Die Sowjetunion und Mexiko waren die beiden einzigen Länder, die die spanische Republik unterstützten. Stalin förderte die ihm nahestehende Kommunistische Partei Spaniens, die vor dem Bürgerkrieg noch bedeutungslos war. Währenddessen wurden die Franco-Faschisten massiv von Nazideutschland und dem faschistischen Italien unterstützt. Nach drei Jahren Bürgerkrieg war die spanische Republik Geschichte. Die Franco-Diktatur hielt sich bis zum Tod des Diktators 1975 beziehungsweise bis zur Abhaltung freier Wahlen 1977.
Anarchismus ist nicht nur Geschichte, sondern es ist eine soziale Bewegung, die heute immer noch existiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Anarchismus in Deutschland allerdings zunächst bedeutungslos. Es gab wenig erfolgreiche Versuche, wieder an die anarchistische Massenbewegung der Zwanziger Jahre sowie an die anarchistische Jugendbewegung anzuknüpfen. Durch zwölf Jahre Nazidiktatur waren das Wissen und die Zusammenhänge zerstört und die Bewegung weitgehend ausradiert.
Neoanarchismus
In der DDR gab es erst ab Ende der Siebziger Jahre wieder eine neue, kleine anarchistische Bewegung. In der Bundesrepublik entwickelte sich das tatsächlich ab 1965. Vorher gab es eine anarchistische Kleinstbewegung. Im Rahmen der Ostermarschbewegung gründeten sich die ersten Graswurzelzeitungen und -gruppen, aber erst ab siebenundsechzig, achtundsechzig, gibt es den Neoanarchismus, in dem wir uns heute noch befinden. Der Neoanarchismus war anders als der Anarchosyndikalismus der 1920er Jahre kein Teil einer proletarischen Bewegung, sondern er entstand, stark beeinflusst durch die aus den USA kommende Hippie-Bewegung, bei den Studierenden aus dem Bürgertum und seinen intellektuellen Szenen.
Seit 1972 gibt es die Zeitschrift Graswurzelrevolution (GWR). Damit besteht ein Versuch, diese anarchistische Idee schon ein Stück weit zu leben und auch publizistisch die Ideen des Gewaltfreien Anarchismus zu verbreiten. Die GWR selbst hat sich seit 1972 weiterentwickelt, auch in Abgrenzung zu linken Bewegungen und Zeitschriften, die der RAF mehr oder weniger nahe standen. Die „agit 883“, eine bekannte neoanarchistisch-linksradikale Zeitschrift veröffentlichte alles Mögliche, unter anderem auch RAF-Papiere oder Texte von anderen autoritären marxistischen Gruppen. Die RAF wurde in der BILD und anderen Massenmedien immer als anarchistisch bezeichnet. Das war sie nicht. Aus Sicht der RAF-Mitglieder war der Anarchismus „eine kleinbürgerliche, pseudorevolutionäre Bewegung“. Die Mitglieder der RAF waren „Leninisten mit Knarre“. Aber das Zerrbild, dass Anarchie Chaos sei und Anarchisten Terroristen, wurde durch den Terror der RAF indirekt befeuert. Die RAF selbst distanzierte sich immer von dieser Zuschreibung. Sie wären keine kleinbürgerlichen Anarchisten, sondern Leninisten.
Dieses Bild der „bösen Anar-chist:innen“ spukt aber immer noch in den meisten Köpfen der Bevölkerung und der Medienmacher*innen, bis hin zur TAZ, die auch schon auf der Titelseite Hitler als den größten Anarchisten bezeichnet hat. Solche Absurditäten sind ein Spucken auf Erich Mühsams Grab und auf die Gräber von anderen durch Nazis ermordete Anarchist:innen. Hitler hasste Erich Mühsam persönlich und bekämpfte die Anarchist:innen brutal. Es ist ein Skandal, den Diktator und Massenmörder als Anarchisten zu bezeichnen. Das zeigt deutlich, wie infam dieser Begriff bis heute verwendet wird, bis in weite Teile der Linken.
Es gab schon früh anarchistische Gesellschaften, die nicht auf Herrschaft aufgebaut waren, die ein gleichberechtigtes emanzipatorisches Leben für alle versucht und die im Einklang mit der Natur gelebt haben. Davon sind wir heute leider weit entfernt.
Für den Anarchismus heute gibt es ein schönes Beispiel: die FAU. Die Freie Arbeiter*innen Union versucht an die großen Erfolge der FAUD der Zwanziger Jahre anzuknüpfen. Es ist eine kleine Gewerkschaft. Viel mehr als 2.000 Mitglieder hat die FAU heute wahrscheinlich noch nicht. An die bis zu 150.000 Mitglieder der Vorgängerin, die die FAUD nach dem Ersten Weltkrieg hatte, kommt die FAU noch nicht heran.
Die Graswurzelrevolution ist als „Monatszeitschrift für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft“ auch Teil der sozialen Bewegungen. In der Übernahme anarchistischer Prinzipien durch die sozialen Bewegungen, denke ich, können wir als Anarchist:innen heute die größten Erfolge verbuchen, weil viele gewaltfreie und anarchistische Ideen, die in dieser Bewegung entstanden sind, tatsächlich in den sozialen Bewegungen heute zum Teil umgesetzt sind. Heute ist es selbstverständlich, dass man versucht, sich in den sozialen Bewegungen basisdemokratisch zu organisieren. Gewaltfreie Widerstandsmethoden, wie sie die GWR propagiert, waren zum Beispiel in den Protesten gegen die Castortransporte sehr effektiv und sind heute in der Klimagerechtigkeitsbewegung eine Selbstverständlichkeit.
Wichtig ist es, in den sozialen Bewegungen alt werden zu können und dabei so viel wie möglich von der Utopie schon zu Lebzeiten umzusetzen. Diese Idee hat unter anderem Horst Stowasser (1985) mit dem Projekt A versucht, in die Tat umzusetzen. Die Idee, die dahintersteckte, war, dass man als Anarchist:in nicht nur als Nischenbewegung in den sozialen Bewegungen, kleinen Projekten etwas machen, sondern auch Strukturen schaffen sollte, in denen man alt werden kann und in denen Anarchist*innen anarchistische Strukturen aufbauen können, auch innerhalb des kapitalistischen Systems. Das wäre wiederum zunächst nur eine Nische, weil ein Ziel ist, den Kapitalismus mit einem herrschaftsfreien Wirtschaftssystem zu ersetzen, einem, das menschenfreundlicher wäre und das nicht auf Ausbeutung und Konkurrenz basiert, sondern auf gegenseitiger Hilfe und sozialem Zusammenleben. Die Idee, die hinter dem Projekt A steckte, war, dass man versucht, eine Kleinstadt oder ein Dorf anarchistisch zu „unterwandern“, indem man verschiedene Doppelprojekte aufbaut: zum Beispiel eine Kneipe und einen Buchladen oder ein Taxiunternehmen und ein Café, eine Bäckerei usw. Im Grunde sollten alle sozialen Bereiche durch verschiedene Doppelprojekte abgedeckt werden. Der Gedanke dahinter war, dass Leute in den verschiedenen Projekten tätig wären, und zwischen den verschiedenen Bereichen wechseln können, einmal im Buchladen tätig sind oder in der Kneipe oder in der Bäckerei. Dazu würde regelmäßig Geld in einen gemeinsamen Topf geworfen werden. Damit könnten neue Projekte vorfinanziert werden und letztlich würde im Dorf eine Struktur ohne Chef entstehen und das ganze Dorf durch anarchistische Betriebe übernommen werden. Diese Idee finde ich nach wie vor gut. Es ist wichtig als Anarchist:in in solchen Strukturen leben zu können. Trotzdem hatte Adorno Recht, als er sagte: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, aber wir wollen trotzdem so gut und herrschaftsfrei wie möglich leben, und wir wollen alle versuchen, soviel von den eigenen Utopien schon jetzt in die Realität umzusetzen.
Gerade in der Antiatombewegung sind freiheitliche Versuche umgesetzt worden, zum Beispiel das „Hüttendorf 2001“ in Gorleben, wo auf dem Bauplatzgelände 1980 ein Hüttendorf mit über dreitausend Leuten aufgebaut, wo mit Solarenergie experimentiert wurde und Anarchist:innen sich stark beteiligten. In diesen Bewegungen entstand eine große Kraft, die letztlich dazu führte, dass der niedersächsische CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht, Vater der heutigen EU-Chefin Ursula von der Leyen, das größte Projekt der Atom-Mafia in Niedersachsen aufgeben musste. Albrecht sagte zum Ende der geplanten Plutoniumfabrik WAA in Gorleben sinngemäß: „Wir können die Wiederaufarbeitungsanlage in Gorleben nicht gegen den Willen der Bevölkerung durchsetzen“.
Ich hoffe, dass es uns gelingt, auch durch anarchistische Strukturen, die Gesellschaft von unten zu transformieren hin zu einer menschenfreundlicheren, egalitären, herrschaftsfreieren Gesellschaft. „Herrschaftsfreiheit“ ist ein Ziel, das im Kapitalismus nicht möglich ist. Der Kapitalismus muss letztlich überwunden werden. Kapitalismus ist ein System, das die Menschheit in den Untergang treibt. Der Klimawandel und das Artensterben sind nicht nur von Menschen gemacht, sondern eine Folge des Kapitalismus. Dem können wir nur versuchen, mit unseren eigenen Utopien, mit konkreten Handlungen und Theorien entgegenzutreten.
Es gibt weltweit eine reiche Widerstandsgeschichte, von der Pariser Commune, über die Salzmärsche in Indien, Rosa Parks, den Kämpfen gegen Rassismus, Krieg und Sexismus bis hin zur erfolgreichen weltweiten Bewegung gegen das Apartheidregime in Südafrika. Das sind Geschichten, an die wir denken sollten, wenn der Frust uns zu überwältigen droht.
Schließen möchte ich mit einem weiteren Zitat von Gustav Landauer, aus der von ihm herausgegebenen libertär-sozialistischen Zeitschrift „Der Sozialist“ von 1897:
„Es kommt keine Freiheit, wenn man sich nicht die Freiheit und die eigene Facon selber herausnimmt, es kommt nur die Anarchie der Zukunft, wenn die Menschen der Gegenwart Anarchisten sind, nicht nur Anhänger des Anarchismus. Das ist ein großer Unterschied, ob ich Anhänger des Anarchismus oder ob ich ein Anarchist bin. Der Anhänger eines Lehrgebäudes kann im übrigen ein Philister und Spießbürger sein; eine Wesenswandlung ist notwendig oder wenigstens eine Umkrempelung des ganzen Menschen, so daß endlich die innere Überzeugung etwas Gelebtes wird, das in Erscheinung tritt.“
(1) Der obige Text ist ein Auszug aus einem Referat, mit dem Bernd Drücke den Workshop „ja! Anarchismus. Gelebte Utopie, Theorie und Praxis im 21. Jahrhundert“ auf der Tagung „Krise des Nationalstaats – anarchistische Antworten“ an der Pädagogischen Hochschule Freiburg im März 2021 eingeleitet hat. Der vollständige Text erscheint voraussichtlich zur Frankfurter Buchmesse im Oktober 2023 in einem Tagungsband im Unrast Verlag. Ein YouTube-Mitschnitt des Vortrags findet sich unter: https://www.youtube.com/watch?v=_OyJjtUurtU
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.