Neoliberale Investorenprojekte

Freiheit und Selbstorganisation – aber nur für Reiche

| Elisabeth Voß

Andreas Kemper: Privatstädte. Labore für einen neuen Manchester-kapitalismus, Unrast, Münster 2022, 184 Seiten, 14 Euro, ISBN 978-3-89771-175-4

Mit seinem Buch „Privatstädte“ gibt Andreas Kemper erschreckende Einblicke in marktradikale Utopien und deren Realisierungsansätze. Privatstädte sind keine Gated Communities oder Sonderwirtschaftszonen, sondern neoliberale Investorenprojekte, die sich von dem Land, in dem sie aufgebaut werden, vertraglich die nahezu uneingeschränkte Macht über ein Gebiet zusichern lassen wollen, um dort das Zusammenleben nach eigenen, rein marktwirtschaftlichen Regeln zu organisieren. Dies in möglichst vollständiger ökonomischer, politischer und juristischer Unabhängigkeit – frei und selbstorganisiert für diejenigen, die es sich leisten können, in ihnen zu leben, oder die zumindest eine virtuelle Einwohner*innenschaft erwerben, um in der Privatstadt unternehmerisch tätig zu sein.
Das Selbstverständnis ihrer Protagonist*innen als „libertär“ und „anarcho-kapitalistisch“ versteht Andreas Kemper als „Diskurspiraterie“ (mit Verweis auf Kellershohn, Dietzsch, Wamper 2010): „Es liegt eine Aneignung herrschaftskritischer Begrifflichkeiten und damit auch herrschaftskritisch-rebellischen Auftretens vor, die für Verwirrung sorgt“ (S. 8). Er zieht den Begriff „proprietaristisch“ vor, also einer Ideologie folgend, „die das Recht von Eigentümer*innen, ihre Produktionsmittel zu besitzen und möglichst uneingeschränkt zu nutzen, als wichtiger erachtet als alle anderen Gesetze“ (S. 141f).

Reaktionäre proprietaristische Netzwerke

Der Autor gibt einen Überblick über Geschichte, Ideologie und Protagonist*innen des Neoliberalismus. Beispielhaft seien genannt: Der Gründer der Mont Pelerin Society Friedrich August Hayek und die Chikagoer Schule von Milton Friedman. Kemper zeichnet die Spur von deren Unterstützung der faschistischen Pinochet-Diktatur in Chile über Margret Thatchers und Ronald Reagans entsolidarisierende Wirtschaftspolitik in Großbritannien bzw. in den USA bis zu den Privatstädten nach. Diese werden seit etwa 2008 offensiv vermarktet, beispielsweise als „Sonderentwicklungszonen“ (RED) mit „Charter Cities“ oder „Zonen für Arbeit und wirtschaftliche Entwicklung“ (ZEDE) mit „Free Private Cities“ (Privatstädte).
Privatstadt-Lobbyist in Deutschland ist vor allem Titus Gebel, der sich ebenfalls für Atomenergie einsetzt. Herausragende Rollen spielen die Ludwig van Mises Institute in verschiedenen Ländern und die vom 2021 verstorbenen August von Finck aufgebaute Degussa Goldhandel GmbH in München mit deren CEO Markus Krall, sowie die Free Private Cities Foundation in Zürich. Inspirieren lässt sich das Privatstadt-Netzwerk auch von Romanen der laut Kemper proprietaristischen Autorin Ayn Rand.

Labore zur Erprobung neuer räuberischer Praktiken des Kapitalismus

Mit dem Militärputsch in Honduras 2009 wurde das Land für Privatstädte interessant, wobei es „Bezüge zur deutschen Rechten gibt“ (S. 48), zur Friedrich-Naumann-Stiftung der FDP und zur AfD. Vorzeige-Privatstadt sollte Próspera auf der Insel Roatán werden, geplant von Zaha Hadid Architects aus London. Auch die TU München war zeitweilig involviert. Anfang 2022 wurde Xiomara Castro Präsidentin von Honduras. Die Abschaffung des Privatstadtgesetzes war eins ihrer Wahlkampf-Themen und wurde mittlerweile vom Parlament vollzogen. Jedoch bauen die Betreiber weiter, klagen vor einem privaten Schiedsgericht und fordern milliardenschweren Schadensersatz.
Das Buch endet mit dem Aufruf, sich „die Garifuna zum Vorbild“ (S. 118) zu nehmen – das sind die Indigenen, die mit ihren Protesten gegen Próspera auf diesen privatistischen Raubzug aufmerksam machten, wofür sich Andreas Kemper ausdrücklich bei ihnen bedankt. Er weist darauf hin, dass „privare“ aus dem Lateinischen kommt und „rauben“ bedeutet: „Die Privatstadtprojekte können getrost als Labore zur Erprobung neuer räuberischer Praktiken des Kapitalismus betrachtet werden.“ (S. 116).

Mitunter verwirrend – aber vor allem anregend

Die Fülle an Namen von Personen, Organisationen und Zusammenkünften kann verwirren – was nicht dem Autor angelastet werden sollte, denn er hat akribisch zusammengetragen, wie verwirrend diese proprietaristische Realität ist. Hilfreich sind die Zeittafeln, um die detailreiche Faktensammlung einordnen zu können. Das Buch stellt einen wertvollen Fundus dar, der zur weiteren Recherche über eine weltweit vernetzte Parallelgesellschaft anregt. Zur Orientierung ist ein umfangreiches Glossar angefügt, das zusammen mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis ein Drittel des Buches ausmacht.
Auch wenn vielleicht noch keine Privatstadt fertiggestellt ist, arbeitet das proprietaristische Netzwerk daran, seine Vorstellungen weltweit in die Tat umzusetzen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit von kritischer Wachsamkeit und Widerstand gegen die Aushöhlung demokratischer Grundrechte. Darüber hinaus kann die Auseinandersetzung mit den hier dargelegten „anarcho-kapitalistischen“ Vorstellungen von Freiheit und Selbstorganisation sowie mit der ausgeprägten Feindlichkeit gegenüber Staat und bürgerlicher Demokratie hilfreich sein, um eigene Vorstellungen kritisch zu hinterfragen und in Abgrenzung dazu zu schärfen.