Frank Jacob: Emma Goldman. Identitäten einer Anarchistin, Hentrich & Hentrich, Berlin/Leipzig 2022, 276 S., 22 Euro, ISBN: 978-3-95565-480-1
Frank Jacob, bereits Autor mehrerer Einzelveröffentlichungen über Emma Goldman, legt hiermit ein Werk vor, das die vielen Aspekte der Persönlichkeit Emmas aufgrund ihres faszinierenden, erfahrungsreichen Lebens zu einer einzigartigen Gesamtstudie zusammenfügt. Bevor ich zu ihren m. E. sehr aktuellen Facetten komme und hierbei Jacobs Buch würdige, möchte ich eingangs bemerken, dass ich den vom Autor gewählten Untertitel und seine Konzeptionalisierung „Identitäten einer Anarchistin“ für unglücklich halte.
Wieso „Identitäten“?
Die Kategorie der „Identitätspolitik“ überschwemmt derzeit jeden politischen Diskurs und die politische Gedankenwelt. Der Prototyp aller Identitätspolitik ist aber – und war immer schon – die „nationale Identität“. Nach dieser Begrifflichkeit definiert sich auch jede weitere Form der Identität. Eine Identität bestimmt ein Zugehörigkeitsgefühl oder einen solchen Anspruch, der ein Individuum einordnet und dabei fast immer und überall auch gleichzeitig nivelliert und unterordnet, und zwar unter die identitäre Gemeinschaft. Sehr schnell entwickeln sich dadurch – wie die Geschichte der nationalen Identitäten hin zur Nationalstaatsbildung zur Genüge zeigt, zuletzt im Ex-Jugoslawienkrieg der Neunzigerjahre – vor allem Abgrenzungen, Spaltungs- und Ausschlusstendenzen, später Verfolgungs- und Repressionsformen, weil zuallererst definierbare Gegensätze zu anderen Bevölkerungsgruppen, Nationen, Identitäten oder Gemeinschaften etabliert und verstärkt werden. Als kollektiver Nivellierungs- und Unterordnungsbegriff im Innern einer Gemeinschaft oder Bevölkerungsgruppe ist die „Identität“ damit schon per definitionem gegen die im Anarchismus entscheidende Kategorie der Individualität und der Einzigartigkeit jeder selbstbestimmten Persönlichkeit gerichtet. Deswegen sind auch in der Geschichte aus unterdrückten Minderheiten-Identitäten oder religiösen Minderheitenidentitäten im Befreiungsprozess (Beispiel Schiismus im Iran) oft genug Proto- und auch wirkliche Nationalstaaten geworden. Als Anarchist würde ich zum Beispiel selbst nie von meiner anarchistischen Identität sprechen, wie es Jacob im Buch für Goldman macht. Dafür gibt es leider im Anarchismus keine einheitliche und selbstverständliche Kritik des bewaffneten Kampfes als Herrschaftsmittel, weshalb ich mich im inner-anarchistischen Diskurs immer als spezifisch gewaltfreier Anarchist selbstbestimmen will. Ähnlich der Begrifflichkeit der Identität würde ich auch beim Anarchismus nie von anarchistischer Ideologie sprechen, denn nur Herrschafts- und Gewaltstrukturen benötigen eine Ideologie, um ihre Herrschaft zu bemänteln, zu rechtfertigen und zu verewigen. Der Anarchismus ist für mich die überhaupt einzig mögliche Ideologiekritik, weil spezifisch an ihm ist, dass er jede Form von Ideologie als Form der Herrschaftsrechtfertigung ablehnt. Dasselbe lässt sich auch über die Identität sagen, in dem Sinne, dass für mich der Anarchismus die überhaupt einzig denkbare Form der Identitätskritik ist.
Es spricht für den Autor Jacob, dass er am Ende des Buches im zusammenfassenden Epilog selbst den Begriff „Facetten“ gleichberechtigt neben die „Identitäten“ von Emma Goldman als sowohl Jüdin, Anarcha-Feministin, Pazifistin, Antiimperialistin, Revolutionärin, Antibolschewistin, Amerika-Kritikerin, Publizistin und Antifaschistin stellt, die sich in ihrer Persönlichkeit überlappen: „Goldman offeriert viele unterschiedliche Facetten und erlaubt es dem Betrachtenden deshalb, durch ihr Leben verschiedene Rückschlüsse auf die Zeit, in der dasselbe stattgefunden hat, zu ziehen“ (1), schreibt Jacob richtig und stellt damit seine eigene Kategorie der Identitäten zumindest örtlich selbst in Frage.
Anarchistischer Antibolschewismus als Folge der eigenen Sowjetunion-Erfahrung
Dieses einzigartige Leben der 1869 geborenen und 1940 gestorbenen Goldman war zunächst geprägt von den Schlägen des Vaters in Litauen und dann, nach dem Umzug der jüdischen Familie nach St. Petersburg, von der pogromartigen, anti-jüdischen Stimmung im zaristischen Russland. Dies führte die 20jährige Emma Goldmann zu ihrer Ausreise in die USA, wo sie 1889 in New York eintraf, mit einem Besitz „aus fünf Dollar und einer kleinen Handtasche“ (2) sowie ihrer nachgesandten Nähmaschine. Sie verdingte sich in der harten US-Textilindustrie und kam langsam in Kontakt mit dem anarchistischen Milieu, vor allem um Johann Most, der damals vehement die gewaltsame „Propaganda der Tag“ vertrat. In diesem Umfeld lernte sie ihren lebenslangen Gefährten Alexander Berkman kennen, der 1892 das Attentat auf den Kapitalisten Frick verübte. Goldman unterstützte zunächst das Attentat, entwickelte aber schnell eine Kritik an der anarchistischen Attentatspolitik und trat öffentlich Mosts Propaganda entgegen. Noch vor der Jahrhundertwende nahm sie auch feministische Inhalte in ihr Anarchismusverständnis auf und gründete 1906 die anarchistisch-feministische Zeitschrift „Mother Earth“. Als versierte Vortragsrednerin war sie bereits zur Zielscheibe der US-amerikanischen Repressionsorgane geworden, hatte ein Jahr Gefängnis verbüßt, war dabei aber zu einer äußerst bekannten Person geworden. Als solche sprach sie sich im Ersten Weltkrieg im Rahmen der „End-Conscription-League“ (Liga gegen Kriegsdienstpflicht) öffentlich gegen die Kriegsbeteiligung der USA am kontinentaleuropäischen Schlachten aus. So wurde sie erneut verhaftet und zusammen mit Berkman und vielen anderen 1919 in die neue Sowjetunion abgeschoben. Anfangs war das für Goldman nicht das Schlimmste, hatte sie als überzeugte Revolutionärin doch das damals auf Grund von Unkenntnis kursierende, euphorische Bild von der Russischen Revolution unter Lenin übernommen. Die brutalen, realen Erfahrungen vor Ort nach ihrer Einreise, bis hin zur Gründung der Tscheka (Geheimpolizei) kehrten diesen Mythos jedoch schnell in Kritik, ja Feindschaft gegen Lenin und die Bolschewiki um. Dabei unterschied sie immer zwischen den engagierten, mutigen Massen an der Basis und der herrschaftsorientierten, schnell diktatorisch werdenden Führung. Berkman saß der angeblichen Notwendigkeit, die bolschewistische Partei gegen die imperialen Interventionsmächte zu verteidigen, noch lange auf und zerstritt sich in der Frage mit Goldman. Die blutige Repression des Kronstädter Aufstands 1921 durch Lenin und Trotzki überzeugte Berkman jedoch davon, dass Goldman recht hatte. Goldman konnte noch in der Sowjetunion bei Lebensgefahr ihre Kritik nicht öffentlich äußern, deswegen ging sie 1922 ins Exil, nach Schweden, Großbritannien, schließlich nach Berlin. Mit der Hilfe Rudolf Rockers konnte sie dort ihre antibolschewistischen Schriften veröffentlichen (3). Das Kapitel über die Antibolschewistin, die sie als Schlussfolgerung ihrer ureigenen Erfahrung in der Sowjetunion wurde, ist im Buch Jacobs nicht nur das umfangreichste, sondern auch das gewinnbringendste. Goldman findet durch ihre Aufarbeitung dieser Erfahrung zur wichtigen Bedeutung der Ziel-Mittel-Relation für eine Revolution, die auch die Grundlage für eine gewaltfrei-anarchistische Bewertung jeder Revolution sein muss. Jacob führt dazu aus: „Die Bolschewiki, die Goldman als den ‚Jesuitenorden der Marx’schen Kirche‘“ bezeichnet, haben „alles, wofür die russischen Massen gelitten hätten, ‚durch ihr jesuitisches Motto, dass das Ende die Mittel rechtfertige, diskreditiert und besudelt.“ (4) Und diese erfahrungsgesättigte Einsicht ist noch heute aktuell, wenn die peinliche, wagenknechtsche Linke in der BRD noch immer verzweifelt versucht, mit der Verteidigung Putins einem längst vergangenen, und immer schon falschen Mythos der bolschewistischen Revolution und ihrer Nachfolgediktatoren nachzurennen und die autoritären Verhältnisse von Putins Diktatur anders zu bewerten als den zweifellos vorhandenen US-amerikanischen, britischen oder deutschen Imperialismus, der sich über die NATO ausdrückt. So haben auch Goldmans Analysen der 1920er- und 1930-er Jahren nach wie vor inhaltlichen Bestand, aber ihre Rezeption wurde auf die anarchistische Bewegung zurückgeworfen, da die US- und auch Teile der europäischen Linken ihren Antibolschewismus als kleinbürgerlichen Verrat diffamierten.
Nach zwei weiteren Kapiteln über Goldman als Kritikerin der USA und über ihre Arbeit als Publizistin, die ihren Lebensunterhalt sicherte, schließt Jacob seine Analyse der Facetten Goldmans ab mit einem überaus interessanten Kapitel zur Antifaschistin Goldman. Diese ähnele nämlich überraschender Weise stark der Totalitarismusanalyse von Hannah Arendt. Die bürgerliche, kapitalistische Demokratie deformierte und transformierte sich nämlich in prokapitalistische oder probolschewistische Diktaturen nach dem Muster Mussolini oder Lenin/Stalin und diese geschichtliche Erfahrung dient noch heute als Blaupause für jede versuchte (und teils auch verwirklichte) autoritäre Transformation der Demokratie à la Erdogan, Orbán, Trump, Bolsonaro, aber auch Chavez-Maduro/Venezuela oder Ortega/Nicaragua usw. Ein Kampf für die Rückkehr zur Demokratie ist nach Goldman deshalb sinnlos, weil die Demokratie sozusagen „diktaturoffen“ ist; der Kampf auch des Antifaschismus muss für eine basisdemokratische, wirklich föderalistische und rätedemokratische Alternative zur Demokratie geführt werden. Wichtig ist der anarchistische Kampf gegen jede Herrschaft, wichtiger sogar noch als der Kampf um soziale Gleichheit, so Goldman. Deswegen sei der Kampf um Freiheit und Gleichheit unteilbar und anarchistisch ist er nur, wenn er immer frei geführt wird. Jacob führt dazu mit Zitaten Goldmans aus einem Londoner Vortrag von 1926 aus: Beide, Bolschewismus und Faschismus, hätten „sich in Form ‚populärer Bewegungen‘ manifestiert und, ‚obwohl ‚fundamental unterschiedlich im sozialen Ursprung (…), glauben beide, dass Gewalt Wunder bewirken kann, dass sie soziales Leid in ein soziales Paradies verwandeln kann.‘“ (5)
(1): Frank Jacob: Emma Goldman. Identitäten einer Anarchistin, Hentrich & Hentrich, Berlin/Leipzig 2022, S. 258.
(2): Emma Goldman, zit. nach Jacob, ebenda, S. 27.
(3): Die bekannteste dieser kritischen Schriften zur bolschewistischen Revolution ist sicherlich: „Die Ursachen des Niedergangs der russischen Revolution“ (Berlin 1922), auf die noch viele solche Abrechnungen, auch in Zeitschriften, im Laufe der 1920er-Jahre folgen sollten.
(4): Emma Goldman, zit. nach Frank Jacob, ebenda, S. 164f.
(5): Emma Goldman: „Dictatorship, Bolshevist and Fascist”, Vortrag in London, 14. April 1926, Manuskript S. 1, zit. nach Jacob, ebenda, S. 247.